Karl Marx, London und die Internationale Arbeiterassoziation
Von Mary Davis
Marx: »Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit
welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen
Epochen.«(MEW, Band 23, Seite 194) – Textilfabrik in Huaibei, VR China,
2006
Foto: China Daily/REUTERS
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Mary Davis ist
Professorin für Arbeitsgeschichte an der London Metropolitan University
und leitet dort das Zentrum für Gewerkschaftsstudien
Karl Marx
lebte von 1849 bis zu seinem Tod in London. Die britische Hauptstadt
(und in geringerem Maß Brüssel) war der Zufluchtsort für Radikale, die
sich der Repression nach den europäischen Revolutionen von 1830 und 1848
entzogen. London wurde das Zentrum revolutionärer Aktivität von
Emigranten. Britannien selbst hatte keine Aufstände erlebt, die jenen in
Europa zu dieser Zeit ähnelten. Das bedeutet allerdings nicht, dass es
keine Massenkämpfe gegeben hätte. Zwischen Mitte der 1830er Jahre und
Mitte der 1850er erlebte die erste industrialisierte Nation der Welt
ihre bedeutendste Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert – den Chartismus.
Er war eine Massenbewegung, die alle Teile der Arbeiterklasse, die von
der Industrialisierung betroffen waren, umfasste. 1842 brachte er die
weltweit erste politische Arbeiterpartei hervor – die »National Charter
Association«. Um 1848 erhielt der Chartismus unter der Führung von
Ernest Jones (1819–1869, in Deutschland geborener und aufgewachsener
englischer Schriftsteller und Anwalt, Mitglied des Bundes der
Kommunisten, jW) und Julian Harney (1817–1897, Journalist und
Politiker, Mitglied des Bundes der Kommunisten, zog sich 1852 aus der
Politik zurück, jW) eine sozialistische Ausrichtung. Harney war seit 1843 Redakteur der weitverbreiteten Zeitung der Chartisten, Northern Star.
Friedrich Engels (1820–1895), der 1842 nach Manchester entsandt worden
war, um die Baumwollfabrik seines Vaters zu leiten, war Autor des Northern Star
und stand mit der Führung der Chartisten in Kontakt. 1845 rief Harney
die »Society of Fraternal Democrats« (Gesellschaft Brüderlicher
Demokraten) ins Leben. Das war eine internationale Organisation, die
sich aus dem linken Flügel der Chartisten und politischen Emigranten
zusammensetzte. Ihr Motto war: »Alle Menschen sind Brüder«. Unter
Historikern wird diskutiert, ob diese Vereinigung ein Vorläufer der
Ersten Internationale war, die 19 Jahre später gebildet wurde. Wichtige Quelle
Auf dieses politische Milieu traf Marx, als er 1845 nach seinem Aufenthalt bei Engels in Manchester London besuchte. In Manchester hatte Marx mit eigenen Augen den unbeschreiblichen Horror des Fabriksystems gesehen, den Engels in seinem Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (Leipzig 1845) geschildert hatte. In London traf sich Marx mit den Führern der Chartisten und nahm beim nächsten Aufenthalt zwei Jahre später an einem Treffen der Fraternal Democrats teil. Am Tag danach war er als Gast zum zweiten Kongress der »Communist League« (Kommunistische Liga), dem »Bund der Kommunisten«, eingeladen. Die am 1. Juni 1847 aus dem »Bund der Gerechten« hervorgegangene »League« forderte Marx auf, ihr Manifest zu schreiben. Er verfasste es gemeinsam mit Engels und es erschien 1848 auf deutsch als »Manifest der kommunistischen Partei«. 1850 wurde es von Helen MacFarlane (1818–1860, schottische Journalistin und Hegel-Übersetzerin, jW), einer sozialistischen Chartistin, ins Englische übersetzt und in Harneys neuer Zeitschrift Red Republican (Roter Republikaner) veröffentlicht. Das alles liefert den Nachweis, dass die Verbindungen von Marx zum linken Chartismus und zu Emigrantenorganisationen bereits vor seinem ständigen Aufenthalt in London eine wichtige Quelle für sein theoretisches Werk und seine politische Tätigkeit waren.Im Verlauf der 1850er Jahre wurde Marx allerdings bewusst, dass sich die Verhältnisse, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutionäre Aktivität stimuliert hatten, nun änderten. Der Kapitalismus war in eine stabilere Phase eingetreten. Das traf in besonderem Maß auf Britannien zu, das machtvollste kapitalistische Land. Um die Jahrhundertmitte machte die unberechenbare Aufschwung-Abschwung-Ökonomie, die für die frühe Periode der englischen Industrialisierung charakteristisch war, einer relativen Stabilität Platz. Britannien war nun »die Werkstatt der Welt«. Seine Fertigproduktion, die auf der Grundlage seiner wichtigsten Wirtschaftszweige – Kohle, Baumwolle und Maschinenbau – entstanden war, beherrschte die Weltmärkte. Das hatte Einfluss auf die britischen Arbeiter: Ein Teil von ihnen erlangte Privilegien – Zeitgenossen und später Lenin – bezeichneten sie als »Arbeiteraristokratie«. Eine deutliche materielle Basis für eine klare Spaltung der Arbeiterklasse wurde so geschaffen. Beispielhaft zeigte sich das in der Bildung von »Gewerkschaften neuen Musters«. Im Vergleich zur vorangegangenen Periode handelte es sich um eine moderatere Form des allein von Männern bestimmten Gewerkschaftertums. Der Slogan der Ingenieursvereinigung (ASE), »Verteidigung, nicht Widerstand« charakterisierte die ideologische Orientierung. Überraschend allerdings ist, dass es genau diese Gewerkschaften waren, die den Anstoß zur Gründung der Ersten Internationale gaben.
Einheit von Theorie und Praxis
Nach der Niederlage der revolutionären Erhebung von 1848 und dem Niedergang des Chartismus und des Bundes der Kommunisten kam Marx zu der Auffassung, dass ein Massenaufstand unwahrscheinlich wurde. Er nutzte die Pause, um sich auf Schreiben und Forschen zu konzentrieren. Aus seiner Sicht musste jede neue Form einer internationalen Organisation fest in der Arbeiterklasse verankert sein. Daher tat er die reformistischen britischen Gewerkschaften nicht ab und fühlte sich besonders durch ihre internationalistische Haltung ermutigt. Die zeigte sich in der Unterstützung für die italienische Einheitsbewegung, den Risorgimento, der Parteinahme im amerikanischen Bürgerkrieg und im polnischen Aufstand von 1863. Dieser veranlasste George Odger (1813–1877, englischer Gewerkschaftsführer und Politiker, jW), den Sekretär des Londoner Gewerkschaftsrats, die Bildung einer Vereinigung vorzuschlagen, die Frieden und internationale Zusammenarbeit unter den Arbeitern aller Länder fördern sollte. Das führte auf einer Veranstaltung im September 1864 in der Londoner St. Martin’s Hall, an der etwa 2.000 Menschen teilnahmen, zur Bildung der »Internationalen Arbeiterassoziation« (IAA). Es war das Gründungstreffen der Organisation, der I. Internationale. Sitz der Zentrale wurde London. Marx war auf diesem Meeting anwesend, sprach aber nicht. Sein Ansehen war aber so groß, dass er gebeten wurde, die Inauguraladresse der IAA zu schreiben. Sie wurde auf deren erstem Kongress in Genf 1866 angenommen. Der Text zeigt, dass Marx akzeptierte: Die IAA konnte, aufgrund ihrer unterschiedlichen politischen Zusammensetzung, keine sozialistische Organisation sein. In einem Brief an Friedrich Bolte (Zigarrenmacher, in Deutschland geborener Gewerkschaftsführer in den USA, jW) vom November 1871 beschrieb Marx sie so: »Die Internationale wurde gestiftet, um die wirkliche Organisation der Arbeiterklasse für den Kampf an die Stelle der sozialistischen oder halb sozialistischen Sekten zu setzen.« (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 33, Seite 328)Bis 1870 waren die englischen Gewerkschaften jedoch bei weitem die zahlenmäßig beherrschende Kraft in der IAA. Das war eine Stärke, aber potentiell eine ideologische Schwäche. Das zeigte sich auf einer Sitzung des Generalrats im April 1865. Eines der einflussreichen Mitglieder des Gremiums, John Weston, Zimmermann und Anhänger des Sozialismus von Robert Owen (1771–1858, britischer Unternehmer und Frühsozialist, Begründer des Genossenschaftswesens, jW), schlug vor, der Generalrat solle die folgenden Fragen diskutieren: »Können die sozialen und materiellen Perspektiven der Arbeiterklasse generell durch Lohnerhöhungen verbessert werden? Haben die Bemühungen der Gewerkschaften, Lohnsteigerungen zu sichern, eine schädliche Wirkung auf andere Industriebranchen?«.
Marx antwortete. Er kritisierte in einem Vortrag auf zwei Sitzungen des Generalrats vernichtend die bürgerliche Ökonomie »Bürger« Westons. Der Text wurde allerdings erst nach seinem Tod von seiner Tochter Eleanor (1855–1898, deutsch-englische Sozialistin, ab 1884 nannte sie sich Eleanor Marx Aveling, jW) entdeckt und erst 1898 veröffentlicht. Der Titel lautet »Lohn, Preis und Profit«. Marx arbeitet darin die Grundidee des »Kapital«, insbesondere die Mehrwerttheorie und dessen Beziehung zu den Arbeiterlöhnen heraus.
Nach dem Zusammenbruch der IAA erkannte Marx, dass sich der Schwerpunkt der Arbeiterbewegung nach Deutschland verlagerte. London und die Bibliothek des British Museum blieben seine Basis. Die britische Hauptstadt als internationales Zentrum, der Fortschritt des Industriekapitalismus in England und dessen Fabrikproletariat blieben Grundlage seiner politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Inspiration. Das Leben von Marx ist eine einzige Demonstration für ein Engagement in Praxis und Theorie und zeigt darüber hinaus die Einheit von beiden. Eine seltene Errungenschaft.
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