Sonntag, 17. Juni 2018

Eine halbe Million für »Faust« (Heinz Kersten)


»›Faust‹! Komm nach Hause!« Gleiche Aufforderungen, auf Klebezetteln an Laternenpfählen an Schauspieler gerichtet, säumten den Weg ins Festspielhaus des Berliner Theatertreffens. Vergebens. Frank Castorfs siebenstündiges Spektakel, mehr Drama des europäischen Bürgertums als Goethe, eröffnete das 55. Theatertreffen auf Verfügung des Regisseurs und langjährigen Volksbühnenintendanten nicht wie die Premiere am 3. März 1017 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, sondern im Festspielhaus in der Schaperstraße, wo die Installation eine halbe Million Euro kostete.

Was irgendwie zur Situation in der nicht erst seit der Affäre um den inzwischen entlassenen Castorf-Nachfolger Chris Dercon streitlustigen Theaterstadt Berlin passte, wo sich gleich nach dem Theatertreffen Ex-BE-Chef Claus Peymann und dessen Nachfolger Oliver Reese um Geld in die Haare kriegten – von der Tabula-rasa-Personalpolitik des neuen Intendanten ganz zu schweigen. Auch wenn sich die Gesellschaft mehr für Fußball und königliche Hochzeiten interessiert, noch ein kryptisches Zitat aus Fabian Hinrichs‘ Laudatio auf den Gewinner des Alfred-Kerr-Darstellerpreises Benny Claessens:
»Es liegt auf der Hand, der Inconnu, der Weißlachs aus der Arktis, dieses in seinem Da-Sein bedrohte Tier ist das fischige spiegelbildliche Gegenüber des deutschen Schauspielers im 21. Jahrhundert … Gäbe es so etwas wie den Europäischen Gerichtshof für Theaterrechte, könnten nahezu alle Inszenierungen des diesjährigen Theatertreffens als Beweismittel für die Wahrhaftigkeit der Zeugenaussage Egon Friedells dienen, Theater und Militär, dem Anschein nach höchstens durch eine Konträrfaszination miteinander verbunden, sind in Wahrheit Verwandte, Brüder im Geiste geworden. Der deutsche Schauspieler könnte berichten: so kam ich unter die Theaterregisseure. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.«

Schnelle Reaktionen auf Aktualitäten ist man von Elfriede Jelinek gewohnt. Im jüngsten Opus der Nobelpreisträgerin, »Am Königsweg«. Da durfte man auf Donald Trump nicht warten, dessen Name kein einziges Mal fällt. Von Ödipus und der Pest in Theben bis Heidegger, Finanzkrise und Fremdenhass bleibt die beabsichtigte Sichtbarmachung von Gewaltzusammenhängen in Falk Richters Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zwischen Burleske und Poesie auf der Strecke. Jelinek: »Meine Ironie ist eine wütende, verzweifelte, weil ich ja bei all der Anstrengung des Darstellens weiß, dass es vergeblich ist.«

Immerhin: Mehr Gegenwart gab es kaum. Dafür im 55. Theatertreffenjahrgang zum siebenten Male »Woyzeck«. Auch Bühnenbilder machen Mode. Bewegten sich in einer früheren »Räuber«-Inszenierung die Darsteller auf einem Laufband, so war für die Baseler Räuber-Interpretation von Ulrich Rasche ein riesiges schwarzes Rad montiert worden, auf dem die alle schwarz gekleideten Schauspieler sich manchmal fast akrobatische bewegen müssen.

»Die Odyssee« verwandelte Antú Romero Nunes im Hamburger Thalia-Theater in eine ausgedehnte Slapstick-Nummer für zwei Solisten: Söhne des Odysseus, die um ihren Vater an dessen Sarg trauern, aber auch seine Geschichten rekapitulieren und mal ABBA hören. Für die Zuschauer eine Zumutung: Die Protagonisten sprechen den ganzen Abend nur seltsames Kauderwelsch aus Phantasieschwedisch.

Eine Verfremdung verpasste Christopher Rüping an den Münchner Kammerspielen auch Brechts dort am 29. September 1922 als sein erstes Stück uraufgeführten »Trommeln in der Nacht«. »Glotzt nicht so romantisch!« hing wie damals als Spruchband vom Rang und hätte manchmal auch als ganzes Theatertreffen-Motto gepasst.

Zu den Eigenheiten dieses Jahrgangs gehörte, dass von den »zehn bemerkenswertesten Inszenierungen« der Juryauswahl ein Drittel nach Romanvorlagen entstanden. Ein Mangel an Originalen? Ovationen gab es nach der letzten Aufführung dieses Theatertreffens für Joachim Meyerhoffs fulminanten Alleingang zwischen Selbstreflexionen und Happening als manisch-depressiver Patient nach Thomas Melles autobiografischem Roman »Die Welt im Rücken« (Regie: Jan Hesse am Wiener Burgtheater). Doch noch ein Gegenwartsstück als Spiegel der Gesellschaft?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen