Wer das Programm eines Filmfestivals zusammenstellt, muss bereit sein zum Wagnis. Im Normalfall liegen die Werke noch nicht fertig vor. Entscheidungen fallen auf der Grundlage von Rohfassungen; zumeist spielen auch die Namen der Beteiligten eine Rolle, deren Ruhm oder die Erinnerung an Pleiten.
Wenn dann im Vorfeld des Festivals Pressevorführungen laufen, sieht man zuweilen nicht die Endversionen. Es wird dann angesagt, dass noch an der Farbgebung oder der Klangmischung gearbeitet werden muss. Das kann sogar noch für die Fassung gelten, die das Publikum während des Filmfests sieht und die noch bearbeitet wird, bevor der Film in die Kinos kommt. Ganz ungewöhnlich ist es aber, wenn ausgewählte Werke zurückgezogen werden, weil die Postproduktion nicht fertig sei.
Dies geschah bei der diesjährigen Berlinale (7. bis 17. Februar) mit gleich zwei Filmen aus der Volksrepublik China. Wenige Tage vor Beginn des Festivals wurde »Shao nian de ni« (»Better Days«) abgesagt; man hätte die Geschichte einer Schülerin sehen können, die sich auf die lebensentscheidende Uniaufnahmeprüfung vorbereitet, mit Mobbing konfrontiert ist und in weitere Schwierigkeiten gerät, als ein Kleinkrimineller sie beschützt. Weil der Film für die Jugendsektion »Generation« vorgesehen war, wurde dieser Ausfall noch wenig beachtet. Um so größer war die Aufmerksamkeit, als vier Tage vor der Premiere Zhang Yimous »Yi miao zhong« (»One Second«) wegfiel. Hier ging es um einen weltbekannten Regisseur und einen Beitrag zum Wettbewerb um die Hauptpreise. Zudem war der politische Bezug offensichtlicher: Dieser Film spielt während der Kulturrevolution.
Nur ein Kind
Natürlich wurde sofort vermutet, es handele sich um Zensur; natürlich lässt sich das so wenig beweisen wie widerlegen. Käme es jemals zu einem Indizienprozess, so könnte man auf den zweiten chinesischen Wettbewerbsbeitrag verweisen, auf »Di jiu tian chang« (»So Long, My Son«) von Wang Xiaoshuai. Gäbe es einen Zensor, der diesen Film ins Ausland ließ, so müsste der sehr weitherzig oder sehr dumm sein.
Im Zentrum steht ein Elternpaar Yaojun und Liyun, gespielt von Wang Jingchun und Yong Mei, die zu Recht Auszeichnungen als bester Darsteller und beste Darstellerin erhielten. Diese beiden kommen mit ihrem Adoptivsohn nicht zurecht. Bald begreift man, dass es kein Wunder ist, wenn dieser Junge sich ihnen entzieht: Bis hin zum aufgezwungenen Namen muss er den Ersatz spielen für den biologischen Sohn der Eltern, der bei einem Badeunfall ertrunken ist.
Nur sehr allmählich, in immer neuen Rückblenden, wird die gesellschaftliche Dimension des Familienkonflikts deutlich. Als Arbeiterin war Liyun mit einem zweiten Kind schwanger. Ihre Freundin Haiyan, die für die Durchsetzung der Ein-Kind-Politik verantwortlich war, zwang sie zur Abtreibung. Die Bilanz des Betriebs blieb rein, es gab kein einziges zweites Kind – und in einer demütigenden Prozedur werden Yaojun und Liyun als familienpolitisch verantwortungsbewusst ausgezeichnet.
Die Kritik trifft also nicht die Fehler der Kulturrevolution, von denen sich die chinesische KP längst distanziert hat. Die Rückblenden spielen, politisch brisanter, in den 1980er Jahren, der Zeit des bis heute anerkannten Deng Xiaoping, und die Ein-Kind-Politik galt bis 2015. Als Nebenaspekt zeigt Wang einen engstirnigen Kampf gegen westliche Unterhaltungsmusik, nach der zu ausgelassen zu tanzen ins Gefängnis führen konnte. Bald greifen auch marktwirtschaftliche Reformen, und nach ein paar hohlen Phrasen liest der Fabrikdirektor die Namen derjenigen vor, die entlassen werden und damit die Betriebsgemeinschaft verlieren, die Zwang und Heimat zugleich bedeutet.
Man könnte den Konflikt allgemein fassen: Der berechtigte Wunsch nach Familie einerseits, die Notwendigkeit andererseits, das Bevölkerungswachstum zu beschränken. Schließlich kann auch die übermäßige Beanspruchung natürlicher Ressourcen zu Not führen – die Ein-Kind-Politik wurde nicht aus Willkür und Freude am diktatorischen Zwang beschlossen, sondern aus vernünftigen Gründen. Nur lässt sich der berechtigte Wunsch nach Kindern heute kaum als filmische Handlung in einen Gegensatz zum berechtigten Gedanken an die Folgen von morgen bringen. Wang macht also etwas, was einfach ist und verkürzt: Der Badeunfall, bei dem der Sohn von Yaojun und Liyun ertrinkt, ist ausgerechnet vom Sohn Haiyans verschuldet. Nun haben die Eltern statt zwei Kindern kein einziges mehr; und Wang zeigt beklemmend die Situationen von Schuldbewusstsein, mühsam bewahrter Haltung und unausgesprochener Nicht-Vergebung, die daraus folgen.
Yaojun und Liyun fliehen in die Provinz, scheitern mit ihrem Adoptivsohn und kehren erst Jahrzehnte später in die Metropole zurück. Die Familie von Haiyan hat den Aufstieg geschafft. Die Stadt ist jetzt modern und für die früheren Arbeiter unkenntlich geworden. Bei einer Autofahrt winkt Yaojun einer Mao-Statue zu, die ihn wenigstens an die Vergangenheit erinnert; das Denkmal steht vor einer Einkaufspassage mit dem Namen »Victory Mall«. Ob nun Mao gesiegt hat oder der Kapitalismus – immerhin bedeutet das etwas Vertrautes, die Erinnerung an Konflikte der Vergangenheit, die das Leben des Elternpaars geprägt haben.
Warum fahren sie überhaupt in die Großstadt? Die todkranke Haiyan, die auf Verzeihung hofft, hat sie gerufen. Für sie ist es zu spät, sie nimmt sterbend die ehemaligen Freunde kaum mehr wahr. Doch ihr Sohn, dem als Arzt der soziale Aufstieg gelungen ist, setzt sich der Vergangenheit aus und gesteht, in welchem Maße er als Kind am Ertrinken seines Freundes beteiligt war.
Haiyan, die Jahrzehnte geschwiegen hat, stirbt ungetröstet – ihr Sohn, der sich zur Offenheit entschließt, versöhnt sich mit Yaojun und Liyun. Das ist eine politische Aussage: Es ist notwendig, über das Vergangene zu sprechen. Gegenwärtige ökonomische Erfolge machen die Erinnerung an frühere politische Härten nicht überflüssig.
Damit verbunden ist eine ästhetische Stärke. Auch deutsche Romane oder Filme versuchen oft, politische Geschichte über Familiengeschichte zu fassen. Doch häufig sind dabei die einzelnen politischen Positionen mechanisch von einzelnen Figuren besetzt, die dann das Gemeinte zu demonstrieren haben. Bei Wang Xiaoshuai hingegen ist der Inhalt ganz über die Geschehnisse vermittelt. Dieses Geschehen wird nun nicht chronologisch nacherzählt; vielmehr sind die Zeitebenen vielfach verschachtelt, und zumindest nichtchinesische Zuschauer haben zunächst Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Doch die Anstrengung lohnt. Wang macht die zeitliche Tiefendimension des Geschehens erlebbar, was auch die außerordentliche Dauer des Films von etwa drei Stunden rechtfertigt.
Der Film zeigt eine Gesellschaft voller Gegensätze, doch sind diese Gegensätze nicht antagonistisch. Die Menschen erleben unendlich viel Bitteres, von Tragik aber kann keine Rede sein. Statt entgegengesetzter Prinzipien, die zum Zusammenstoß führen, sieht man Leid und Trost. Vorbild ist das Melodram, das nicht durch eine äußere Handlung, sondern durch eine Dynamik der Gefühle zusammengehalten wird. Das heißt auch, dass das Melodram nur Konflikte innerhalb eines Bestehenden durchführen kann, das Bestehende aber grundsätzlich akzeptiert ist.
Melodram
Unter den anderen chinesischen Filmen auf der Berlinale passt am ehesten »A Dog Barking at the Moon« von Xiang Zi in diesen Rahmen. Auch hier wird eine Vorgeschichte allmählich geklärt, nämlich die der unglücklichen Ehe von Huang Tao und Li Jiumei. Und auch hier geht es um verpasste Chancen und um daraus folgendes Leid, das sich über Jahrzehnte hinweg auswirkt. Huang Tao hat bei der Heirat nicht verraten, dass er homosexuell ist, und wendet sich später zur Verzweiflung seiner Frau Männern zu.
In der Gesellschaftsschicht, die Xiang Zi zeigt, ist Geld kein Problem, und so kann man sich ausführlich der Bitternis und den daraus folgenden Gehässigkeiten widmen. Daraus entstehen hochemotionale Szenen, und dennoch ist die Gefühlsstrategie eine andere als in »So Long, My Son«. Hier nun ist das Melodram wirksam durch lustige Einschübe ausbalanciert. Dazu trägt zunächst die Tochter Huang Xiaoyu bei, die von einem Studienaufenthalt in den USA zurückkehrt und anfangs durch Vernunft versucht, die Lage zu klären; und unfreiwillig ihr US-Ehemann, der Chinesisch kaum und die Konflikte gar nicht versteht.
Die Lage eskaliert, als Li Jiumei in die Fänge einer buddhistischen Sekte gerät, die – entsprechende Spenden vorausgesetzt – den schwulen Ehemann zu »heilen« verspricht. Die Tochter meldet die Sekte bei der Polizei als verbrecherischen »Kult« und erntet familiären Tadel: nicht etwa als angebliche Denunziantin, sondern weil nun Racheakte der Sekte zu befürchten seien. Die Staatsmacht erscheint nicht als Gefahr, sondern als Rettung vor einer pseudoreligiösen Bedrohung, deren perfide Doppelstrategie aus Heilsversprechen und Geldeintreiberei die Regisseurin eindrücklich gestaltet.
Das führt zu neuen Konflikten, fast zum Zerwürfnis zwischen der Tochter und der Mutter, die immer mehr als starrsinnig und hasserfüllt erscheint. Wie sehr der Glaube die Hoffnung der Hoffnungslosen ist, zeigt sich am Ende noch eindrücklicher als zunächst vermutet. Die »Krankheit« ihres Mannes, die Li Jiumei zu heilen hofft, ist die eigene. Auch sie hat, wie sie zuletzt der Tochter gesteht, geheiratet, um der (wohl erwiderten) Zuneigung zu ihrer besten Freundin eine Grenze zu setzen.
Auch in diesem Film geht es um frühere Repression, hier der männlichen wie weiblichen Homosexualität, und wie dies den Betroffenen das Leben verdirbt; wobei die Frau, die die heterosexuelle Norm verinnerlicht hat, im Mittelpunkt steht und der glücklichere Vater kaum vorkommt. Der Trick ist, die Tochter als Katalysator des Geschehens einzusetzen – die Tochter, die ihr Leben doch der sozial erzwungenen Heirat verdankt. Das garantiert eine emotional wirksame Zuspitzung und führt zu einer befreienden Katharsis. Und es gibt Hoffnung für die Zukunft: Der US-Amerikaner, so wenig er begreift, ist doch ein liebevoller Ehemann, und die Tochter von Jiumeis Freundin tritt klug, selbstbewusst und ohne Rücksicht auf die dummen unter den Konventionen auf.
Landschaften und Städte
Neben Menschen sind es Orte, die im Zentrum von Filmen stehen. Das gilt etwa für den Wettbewerbsbeitrag »Öndög«, der zwar in der Mongolei produziert wurde, doch unter der Regie von Wang Quan’an, einem der wichtigsten chinesischen Filmemacher. Hier ist es die Steppe, die die Bilder prägt – und zwar eine ungeheuer steppenartige Steppe, die sich mit kargem Grasbewuchs völlig platt ausbreitet. In den meisten Szenen stehen die wenigen Protagonisten in der Öde wie auf einer Bühne. Es geschieht wenig: Ein junger Polizist wird dazu abgestellt, mitten im Nichts eine Leiche zu bewachen; eine Hirtin kümmert sich in der kalten Nacht, die er draußen verbringen muss, in jeder Hinsicht um sein leibliches Wohl. Dazwischen ein paar Fahrten oder Ritte, ein geschlachtetes Schaf und die Geburt eines Kalbs, ein Minimum an Dialogen, aber dennoch kein Pathos des Ursprünglichen. Das Ungeschick des Jungen, der Pragmatismus seiner Wohltäterin und die Handlungen einer überschaubaren Zahl von Nebenfiguren werden mit einer heiteren Lakonik gezeigt. Der sehr menschenfreundliche Film hätte durchaus eine Auszeichnung verdient.
Anders als die herbstliche mongolische Steppe ist die sommerliche Großstadt Hangzhou feucht-heiß. Zhu Xin lässt in seinem Regiedebüt »Man you« (»Vanishing Days«) die 14jährige Senlin einige Ferientage lang die Stadt und die umliegende Landschaft durchstreifen. Eindrucksvoll ist hier, wie spürbar Hitze und Auflösung werden. Dem entspricht, dass kaum ein linearer Verlauf erkennbar ist. Ein paar wiederkehrende Leitmotive, Familienerinnerungen, bestimmte Plätze und Rückgriffe auf allmählich vertraute Kameraeinstellungen bilden eine Art Muster. Auch in diesem Film sind, wie in »So Long, My Son« und »A Dog Barking at the Moon«, in der Elterngeneration zwei Paare miteinander verknüpft, und manchmal zweifelt man, wessen Tochter Senlin ist. Doch geht es hier kaum um soziale Realitäten, sondern eher um Wachträume, die zuweilen schön und öfter beängstigend sind. Die Gefahr ist indessen, dass Zhu es sich zu leicht macht, weil er alles mit allem verknüpfen kann, und das Ergebnis willkürlich wirkt.
Sehr viel knapper ist eine andere Stadtbesichtigung, nämlich »Chun nuan hua kai« (»From Tomorrow on, I Will«), eine Gemeinschaftsarbeit von Wu Linfeng und dem in Belgrad geborenen Ivan Markovic. Der Nachtwächter Li ist für ein großes, neuerrichtetes Geschäftsgebäude verantwortlich. Man sieht ihn bei der Arbeit und wie er tagsüber die Stadt durchstreift. Bei allem, was er tut, wirkt er ein wenig fremd – auch gegenüber den Mitbewohnern in seiner armseligen Unterkunft, deren Abriss bevorsteht. Soziale Probleme, materielle Unterschiede sind unübersehbar, doch bilden sie eher Hintergrund als Hauptthema des Werks. Vielmehr geht es um eine inszenierte Alltagsbeobachtung. Zu diesem Zweck ist Li die ideale Zentralfigur: Als Nachtwächter ein wenig außerhalb der Gesellschaft, als Einzelgänger ohne viel Einfluss auf die Geschehnisse um ihn herum, als leistungsbereiter Arbeiter ohne größere Konflikte.
Das Thema Stadtumbau ist Ansatzpunkt in »The Shadow Play« von Lou Ye. Schauplatz ist die südchinesische Küstenstadt Guangzhou (es gibt Metropolen, von denen man hierzulande wenig weiß). Gleich die zweite Szene zeigt Jugendliche in einem älteren Stadtteil. Ein Alarmruf kommt an, und sofort halten sie Knüppel in der Hand und ziehen, bald durch andere Bewohner verstärkt, zum Rand ihres Viertels. Dort ist schon das Abbruchkommando aufgefahren, in Voraussicht des Kommenden durch einen Schlägertrupp verstärkt, der denn auch zu tun bekommt. Minuten später mischen sich auch Kampfkommandos der Polizei ins Getümmel. Noch am selben Abend wird der Leiter der Baufirma ermordet.
Der Unterschied zu den bisher vorgestellten Filmen ist klar. Lou Ye setzt auf zügige Ereignisfolgen und zugespitzte Konfrontationen. Eine oft wild bewegte Handkamera und ein schwindelerregend rascher Schnitt unterstützen den Eindruck, dass ungeheuer viel passiert. Wer seine Augen dem aussetzen mag, sieht einen solide gebauten Thriller, der genreübliches Personal beschäftigt (skrupelloser Geschäftsmann, undurchschaubare Tochter sowie ein Ermittler, der bald selber in Schwierigkeiten gerät …) und durch geschickt verschachtelte Zeitebenen einer einfachen Story immer neue Wendungen gibt. Freilich gerät der soziale Konflikt bald in Vergessenheit, und es stellt sich heraus, dass private Verstrickungen zu dem Mord (der nicht der einzige bleibt) geführt haben. Der Film, der am deutlichsten politisch einsetzt, stellt sich zuletzt als einer der unpolitischsten chinesischen Festivalbeiträge heraus.
Aufstrebende Jugend
Wer das Programm eines Filmfestivals zusammenstellt, sollte sich auf Kritik gefasst machen. Über die Auswahl der Wettbewerbsfilme auf der Berlinale zu schimpfen, gehört fast schon zum guten Ton, und auch über die Sektion Panorama waren diesmal nur wenige freundliche Worte zu hören. Zu Recht gelobt wurde hingegen die Sektion Generation, die Kinder- und Jugendfilme versammelt. Hier sind zwei chinesische Beiträge zu erwähnen.
Von besonderem Interesse ist dabei »Di yi ci de li bie« (»Ein erster Abschied«) von Wang Lina. Eine einfache Geschichte, einfach und ruhig erzählt: Der kleine Isa muss akzeptieren, dass der Vater die pflegebedürftige Mutter in ein Heim gibt, weil zu Hause niemand auf sie aufpassen kann; und er muss Abschied nehmen von seiner besten Freundin, Kalbinur, die in die Stadt auf eine bessere Schule geschickt wird. Man sieht eine überschaubare Welt, die noch weitgehend durch verwandtschaftliche Beziehungen und kleinbäuerliche Arbeit geprägt ist, in die jedoch die Moderne mit Fürsorgeeinrichtungen und der Notwendigkeit von Bildung eingreift.
Ort der Handlung ist ein Dorf im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang, und abgesehen von einigen Lehrern sind die handelnden Personen Uiguren. Der Film ist also zweisprachig: Im Dorfalltag wird Uigurisch gesprochen, an der Schule teils Uigurisch, teils Mandarin. Viele der Eltern verstehen kaum Chinesisch; dabei ist unbestritten, dass das Erlernen von Sprache und Schriftzeichen für die Chancen der nächsten Generation zentral ist. Dies ist der Grund, weshalb Kalbinur auf eine Schule wechselt, in der einsprachig auf Chinesisch unterrichtet wird.
Wer hier eine Unterdrückung der Uiguren zu erkennen meint, sollte sich fragen, welche Rolle Englisch an deutschen Schulen und Universitäten spielt. Die Kenntnis einer überregionalen Verkehrssprache (zumal wie in der Volksrepublik der Hauptsprache des eigenen Staats) ist heute unverzichtbar. Wang Lina zeigt eine Welt im Wandel, deren Bewohner den Wandel akzeptieren. Das ist im Einzelfall, etwa für Isa, schmerzlich, aber gleichzeitig eine persönlichkeitsbildende Erfahrung.
In einer gänzlich anderen Welt lebt Peipei, die Hauptfigur von Bai Xues »Guo chun tian« (»The Crossing«): nämlich in täglichem Wechsel zwischen den benachbarten Großstädten Hongkong und Shenzhen. Die erste Szene führt in ihre Schule, in die sie mit ihrer besten Freundin zu spät kommt. Der Unterricht wird erlitten, bis endlich die Pause kommt und damit das große Geschäft: Die beiden haben Handys über die Zollgrenze zwischen beiden Städten geschmuggelt und verkaufen sie nun an ihre begeisterten Mitschülerinnen. So wollen sie eine Reise zu zweit ins winterliche Japan finanzieren und endlich einmal Kälte erleben.
Zumal Peipei erweist sich als so strebsam, wie Kalbinur es auf ihrer Chinesisch-Schule hoffentlich wird. Jedoch auf anderem Gebiet: Ziemlich rasch erweitert sie, statt für Prüfungen zu lernen, den Umfang ihrer Handelstätigkeit. Bald hat sie Kontakt zur organisierten Unterwelt und wird als Kurierin eingesetzt. Voraussetzung ist ihr Charakter: In einer frühen Schlüsselszene feiert sie auf einer Yacht mit reichen Freunden eine Party und wird aufgefordert, ins Meer zu springen – was sie sogleich tut, obwohl sie nicht schwimmen kann. Nur knapp wird sie gerettet.
So wagt sie mehr und mehr und entfremdet sich von ihrer Freundin (weil sie mit deren Freund Hao zu eng beim Schmuggel zusammenarbeitet). An die Japan-Reise ist nicht mehr zu denken, das Geldhecken wird zum Selbstzweck. Doch geht es nicht um Kritik an einer nachwachsenden Handelskapitalistin. Peipei bleibt, bei allen Fehlern, eine Sympathieträgerin, die sich durch belebte Städte und öde Transitzonen kämpft.
Schließlich wagt sie zuviel und will auf eigene Faust zusammen mit Hoa am Schmuggelring vorbei eine größere Ladung Handys über die Grenze bringen. Das schlägt fehl, und nur das Eingreifen der Polizei rettet sie vor den Folgen. Über dieses etwas pädagogische Ende hat sich die Regisseurin in einem Interview selbst unzufrieden geäußert – aber was wäre möglich gewesen? Peipei davonkommen zu lassen und die Jugend zur Identifikation mit einer künftigen Unterweltgröße einzuladen? Oder das Gegenteil zu zeigen, dass die Anstrengung zur Strafe führt, und die Heldin als Wasserleiche mit durchschnittener Kehle in den Pazifik hinaustreiben zu lassen?
Wo bleibt der Sozialismus?
Die Frage, was mit der jugendlichen Geschäftsfrau geschehen soll, die sich nur leider hinsichtlich der Machtverhältnisse verkalkuliert hat, ist viel interessanter als die, was ein Zensor getan oder gelassen haben mag. Bedeutende Kunst ist schließlich auch unter der Zensur entstanden und hat, mehr oder weniger schnell, Verbreitung gefunden. Hier jedenfalls wird die Perspektive einer mutigen Unternehmerin eingenommen, die man nicht eingeknastet sehen mag. Sie kassiert ihren Profit durch Risikobereitschaft, entsprechend hoch ist die Gewinnspanne. So entspricht ihr Tun marktwirtschaftlicher Moral. Nur leider ist ihr Geschäftsmodell illegal.
Das Ende ist milde. Sie wird kaum bestraft, und in den Abspann einmontiert ist eine Szene, die sie mit ihrer Freundin wiedervereint zeigt. Wäre es dagegen eine Lösung gewesen, sie erfolgreich, aber vereinsamt zu zeigen? Doch sind erfolgreiche Leute selten einsam. Realismus und Moral gehen hier offensichtlich kaum zusammen. Der filmisch nicht gelöste Konflikt entspricht einer Politik, die Kapitalisten nutzt, um den Sozialismus aufzubauen; wobei die Frage: »Wer wen?« nicht abschließend beantwortet ist.
In einer wichtigen Hinsicht nimmt Peipei eine Sonderrolle ein. Bis auf den Nachtwächter Li und das Personal von »Öndög« sind alle anderen wichtigen Figuren durch eine Position innerhalb der Familie bestimmt. Die Familien können durch frühere Konflikte destruktiv wirken (»So Long, My Son«, »A Dog Barking at the Moon«), durch Unbildung oder Krankheit beeinträchtigt sein (»Ein erster Abschied«), zum Schauplatz mafioser Kämpfe werden (»The Shadow Play«) oder in unklare Verhältnisse zerfließen (»Vanishing Days«). Aber gerade durch eine solche Negation bleibt die Familie Bezugspunkt: Wenn man klagt, dass etwas nicht richtig sei, heißt das ja, dass es Bedeutung hat. Dies verwundert nicht: Zeiten raschen Wandels erschweren die Orientierung, und da bieten Religion (die nur in »A Dog Barking at the Moon« vorkommt, und dort negativ) sowie der überschaubare Nahbereich Familie scheinbar Lösungen an.
Peipei hat auch das nicht mehr. Ihr Vater ist Hafenarbeiter auf der einen Seite des Landes, ihre Mutter – angedeutet – Sexarbeiterin auf der anderen Seite. Wenn sie überhaupt einen Orientierungspunkt hat, so wäre es die Freundschaft.
Anders formuliert: Was fehlt? In keinem der Filme gibt es eine organisierte politische Perspektive. Parteiarbeit wird nur in »So Long, My Son« zum Thema; und dort negativ und außerdem gut dreißig Jahre zurückliegend. Filmästhetisch ist der Berlinale-Auftritt der Volksrepublik China durchaus ermutigend, mit einer Vielzahl individueller Gestaltungsweisen. Politisch hingegen fällt auf, dass jede Auseinandersetzung mit einem möglichen Weg zum Sozialismus fehlt.