Freitag, 26. August 2016

Wie sich die Situation in der Ukraine im Leben einer Familie widerspiegelt

Aber wie groß war mein Erstaunen, als aus dem Fahrzeug nicht Soldaten, sondern etwa zehn gekrümmte Personen mit verbundenen Händen herausgeführt und in die Grube gestoßen wurden, wo einst unsere Soldaten Champignons sammelten! Wir sahen nur noch die Wachleute mit ihren Maschinenpistolen. Plötzlich kam hinter einen Vorsprung des Wächterhäuschens eine Planierraupe angefahren. Zweimal schob sie Erdhaufen vor sich her und – begrub die gefesselten Menschen unter der Erde!


rote_armee1Der abtrünnige Part

 

In letzter Zeit habe ich oft vom Krieg geträumt: Man sprengt etwas in die Luft, geht zum Angriff über, erobert bekannte und fremde Anhöhen und Wege, überwindet Hindernisse. Und wenn man dann aufwacht, freut man sich wie ein Kind, daß alles nur ein Traum war und unwirklich ist. Doch  später sieht man dann im Fernsehen – Donezk, Lugansk, Mariupol und die brennende Ukraine, dort wo man die letzten 17 Jahre bei der Armee gedient hat. Und dann ist es so, als ob man wieder in diesen schrecklichen Traum eintaucht.
MEINE ERINNERUNGEN
Mein Vater war Politoffizier bei der Infanterie und er erzählte uns oft vom Krieg. Auch von jenen Tagen, als es schwer war, und doch hat niemand die Hoffnung auf den Sieg verloren. Offenbar haben mich diese Erzählungen dazu angeregt, eine militärische Ausbildungseinrichtung zu besuchen. Dort waren wir umgeben von bedeutenden Menschen. Der erste Kommandeur des Truppenteils, wo ich mit dem Offiziersdienst begann, war ein Aufklärer (und übrigens ein Schriftsteller), der Held der Sowjetunion Wladimir Karpow. Während des Studiums lernte ich auch das legendäre Flieger-As Pokryschkin[1] kennen. Und was für ein hinreißender Erzähler und wie bescheiden im Leben war mein Berufskollege – der Held der Sowjetunion Michail Lukaschin, der in einem der Kämpfe persönlich vier deutsche Panzer vernichtet hatte! Uns, den jungen Leutnants, halfen die altgedienten Frontkämpfer sehr bei unserem Dienst.
Doch man darf auch die Schattenseiten des militärischen Dienstes nicht vergessen. Zum Beispiel, die Teilnahme an der Entlassung des ersten Sekretärs Lwower Bezirkskomitees der KPdSU (eines gewissen Dobrika), der Ende der siebziger Jahre den Ausgang der Studenten der Universität zum Ernteeinsatz in SS-Uniform zugelassen hat (braune Hemden mit Schulterriemen). Ich mußte persönlich mit einem der Schneider sprechen, die für die Studenten die Naziuniformen herstellten: „Nähen Sie schon lange solche Uniformen?“ und er antwortete: „Ich habe nicht aufgehört. Schon seit 1941 nähe ich.“ 
Das ist es, warum für mich die Zerstörung der Ukraine bei weitem nicht erst heute angefangen hat. Vielleicht lohnt es sich auch nicht, an die alte Zeit zu erinnern, aber was heißt „alte Zeit“, wenn heute vor unseren Augen ein nazistisches Kiew entstanden ist, für das damals so viele russische, ukrainische und tatarische junge Leute ihr Leben geopfert haben (man kann sie gar nicht alle  aufzählen). Wir haben gedacht, daß die Völkerfreundschaft ewig halten wird. Und was kriecht da heute alles in der „unabhängigen“ Ukraine hervor?
Ich habe viele Jahre in der Sowjetischen Armee gedient, war mit ihren Erfolgen und Mißerfolgen fest verbunden, sah Schlechtes und Gutes, aber niemals habe ich meinen Eid geändert. In ebendieser Armee diente zeitweise auch mein Sohn. Doch heute hat Oleg, der in Kirowograd geblieben ist, andere Interessen: Er versucht, sich der neuen ukrainischen „Elite“ anzuschließen, Bargeld und Profit verkleistern seine Augen. Der abtrünnige Part unserer Familie, der in die Nazifalle geriet. Die Entfernung von Kirowograd bis nach Rostow, wo ich jetzt lebe, ist nicht groß, doch wie fern sind wir uns heute geworden…
DAS TARAS-BULBA-SYNDROM
Alles mögliche gab es schon bei uns, aber daß Brüder zu unserer Zeit auf verschiedenen Seiten der Barrikade standen?! Daß der eigene Sohn aus Kirowograd in Rostow anruft und mich  „Wattejacke“[2] nennt, – das hätte ich mir nicht im fernsten Traum gedacht!
Und dann ist noch zwischen mir und dem Sohn eine schwarze Katze hindurchgelaufen, als er mit Begeisterung bemerkte, daß sich der russische Liberale Wladimir Ryshkow[3] nicht ein einziges mal eine Gardeschleife angeheftet hatte. Und daß er (Ryshkow) ein Beispiel für die jungen Ukrainer und auch für die Russen sei. Mein Sohn hat sich auch nicht geschämt, das Ordensband des Urgroßvaters zu beschimpfen, an dem zwei Georgskreuze hingen, die er im Ersten Weltkrieg bekam. Er murmelte etwas über die „Koloradokäfer“[4]
Ich bereue das – und bin selbst schuld: ich habe es versäumt und ihn nicht aufgeklärt. Und mich nach dem Dienst nicht damit beschäftigt. Ich habe mich überlisten lassen, und aus Oleg ist kein aufrechter Mensch geworden. Vielleicht zeigt sich, daß ich es noch erleben muß, daß der Sohn, der Vorsitzender eine Anwaltskanzlei ist (die das unehrliche Geld der Stinkreichen wäscht), dir erklärt, daß unser gemeinsamer russischer Familienname ihn in seiner Karriere stört! Daß man ihn deswegen nicht zum Staatsanwalt der Stadt ernennen konnte. Daß sein Vater nicht da und dort gearbeitet haben dürfte. Und heute gäbe es doch in der „unabhängigen“ Ukraine andere Orientierungen und andere Werte.
Beim letzten Treffen konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und im Zorn platzte ich heraus: „Meinetwegen werden sie dich nicht an die Wand stellen. Obwohl du es für dein kriminelles Tun vollkommen verdient hättest. Dafür, daß du aktiv an der Verblödung der Jugend der Stadt teilnimmst. Dafür, daß du ruhig zugesehen hast, als sie das Kalinin-Denkmal abgerissen haben, das beim Kino stand, wo den ganzen Tag Filme gezeigt wurden, und wo deine Mutter und ich dich nicht „losreißen“ konnten… Haben dich diese Filme wirklich nicht gegen den Westen aufgebracht? Hat sich wirklich in deiner Seele nichts gerührt, als die Politiker eurer Stadt (zusammen mit dir) das Denkmal[5] beim Betrieb „Tscherwona Sirka“[6] (Roter Stern) zerstörten, wo du zu den Oktoberkindern aufgenommen wurdest… Hast du weder in der Schule, noch an der Universität etwas gelernt. In deinem Leben gibt es keinen geraden Weg. Du hast auch keinen Vater mehr. Leider kann man gewissenlose und ehrlose Menschen nicht korrigieren.“
Ich fürchte, von meinen letzten Tiraden hätte ein Stück Papier in Flammen aufgehen können. Und jetzt verstehe ich auch Taras Bulba[7], der seinem Sohn Andrej den Verrat nicht verzieh und ihn, der ihn mit Schande brandmarkte, erschoß.
BESSER NICHT STEHENBLEIBEN…
Ich habe dem Sohn nicht erzählt, daß ich insgeheim ohne sein Wissen in der Ukraine war. Was ich dort alles gesehen und durchgemacht habe, würde man seinem ärgsten Feind nicht wünschen. Von Charkow nach Kirowograd habe ich ganze zwei Tage gebraucht. Im Auto, mit dem Fuhrwerk, auf Traktoren, auf Karren, mit denen Silofutter gefahren wurde. Von einem Kontrollpunkt zum anderen. Einmal waren meine Reisegefährten irgendwelche Geologen (sie gaben mich sogar als erfahrenen Kartografen aus). Mit einem Wort, meine Freunde und ehemaligen Berufskollegen (genauer gesagt, deren Söhne) übergaben mich von einem Punkt zum anderen wie einen Staffelstab.
Unterwegs sah ich viele Soldaten – sowohl erfahrene, als auch jüngere. Ich hatte mich entschieden, mich nicht an Gesprächen zu beteiligen. Wenn ich etwas gefragt wurde, habe ich versucht, mich „in der ukrainischen Gaunersprache“[8] zu verständigen, wurde für einen Taubstummen gehalten. Sie winkten mir mit der Hand: der arme Schlucker, was ist denn dem widerfahren. Den Polizisten gingen wir aus dem Weg. Ich bin durchaus nicht ängstlich, aber wenn uns hinterher geschossen wurde, brach mir der Schweiß aus, und (warum soll ich das verschweigen) das Herz klopfte wie nach nach einem Hundertmeterlauf. Einmal hat man uns bei einem Blockposten zur Überprüfung festgehalten. Die Wachposten schleppten uns zu ihrer Hütte, doch wir sind durch das Gestrüpp ausgerissen. Aus irgendeinem Grund haben sie uns nicht zurückgeholt. Einmal sind wir in einen Güterzug gestiegen. Als wir uns an Bord der leeren Plattform ausstreckten, habe ich den Reisegefährten zugeflüstert: wenn wir nicht bis zur Station fahren, ich kann nicht abspringen, habe mir den Fuß verstaucht. Aber alles ist gutgegangen, ich habe Glück gehabt…
Und so werde ich mit dem Auto zur Ortschaft Bobrinez gebracht, von wo aus es bis nach Kirowograd noch 40 km sind. Hier bat ich die Jungs, mich zum Schießplatz zu bringen, den ich einst mitgebaut hatte, als ich stellvertretender Kommandant der Sondereinheiten war. Es war schon Abend geworden. Die Freunde drückten mir das Fernglas in die Hand und machten mich auf einen herankommendes Gefangenentransportfahrzeug aufmerksam. Ich dachte: jetzt werden wir sehen, wie die Soldaten beginnen, auf die beweglichen Zielscheiben zu schießen, und nach der Lage der Treffer kann man feststellen, wer zu weit rechts oder links ist. Wer gut schießt, und wer nicht. Die professionelle Leidenschaft eines alten Soldaten kann man nicht einfach ablegen. Aber wie groß war mein Erstaunen, als aus dem Fahrzeug nicht Soldaten, sondern etwa zehn gekrümmte Personen mit verbundenen Händen herausgeführt und in die Grube gestoßen wurden, wo einst unsere Soldaten Champignons sammelten! Wir sahen nur noch die Wachleute mit ihren Maschinenpistolen. Plötzlich kam hinter einen Vorsprung des Wächterhäuschens eine Planierraupe angefahren. Zweimal schob sie Erdhaufen vor sich her und – begrub die gefesselten Menschen unter der Erde!
Es war ein Gefühl wie im Kino. Ich fragte noch den neben mir Sitzenden: „Was ist mit den Menschen, die in den Graben gefallen sind?“ Und ruhig wurde mir geantwortet: „Sie haben sie begraben. Das ist schon nicht mehr der Ihnen bekannte Übungsplatz. Das ist ein ‘Wirtschaftsgelände’ der Regionalverwaltung für Innere Angelegenheiten. Sie machen dort, was sie wollen.“
Es wäre besser, wir bleiben nicht hier…
In Kirowograd haben wir dann beim Gebäude der ehemalig Gebietsverwaltung haltgemacht. Ich wollte das Kirow-Denkmal[9] sehen. Davor wurden einst die jungen Soldaten unserer Brigade vereidigt. Die ganze Stadt liebte dieses feierliche Ritual! Doch jetzt war nichts mehr davon zu sehen. Das Denkmal für Sergej Mironowitsch wurde abgerissen, und auf den Sockel haben sie die Losung geschmiert: „Russen raus aus der Ukraine!“ Daneben befand sich einst ein Buchladen für Kinderbücher. Davon sind nur verbrannte Bretter übrig, Müll und herausgerissene Regale.
Das ist alles. Schnell nach Hause, nach Rußland! In der Tasche habe ich zwei Pässe. Der eine wurde 1982 ausgestellt, als ich aus der Armee entlassen wurde, dort ist auf der ersten Seite eine Eintragung in ukrainischer Sprache. In Snamenka, wo wir von einer Patrouille angehalten wurden, hatten wir verstanden: den zweiten Paß mit der Rostower Anmeldung darf man keinesfalls vorzeigen. Aus Versehen werden sie auf das Auto eine Granate werfen – Fremde werden hier nicht geduldet, Ausländer sind gefürchtet und verhaßt. Die ausgebrannten Überreste der Autos, die den neuen „Herren über Leben und Tod“ nicht gefielen, konnte man überall sehen.
Das letzte Stück des Weges sind wir auf einer Lok mitgefahren (die offenbar nach Nowotscherkassk zur Reparatur fuhr). Vor der russischen Grenze stiegen wir aus und gingen zu Fuß weiter. Meine frühere sportliche Kondition kam mir im Alter zugute. Sieben Kilometer bis zu „unserer“ Elektritschka (Regionalbahn) sind wir gerannt, wie einst in der Ausbildung – beim Härtetest. Wie ich war ich froh über die Kleingärtner, als ich mich in den Zug setzte! Endlich Russen!
…Vor kurzem bin ich 80 Jahre alt geworden. Der Sohn hat all seinen „Mut“ zusammengenommen, und beschlossen, mir zum Geburtstag zu gratulieren. Ich bin nicht ans Telefon gegangen (meine Frau sprach mit ihm) – der Hörer war für mich in diesem Moment wie eine Giftschlange.
Dann bin ich auf den Balkon hinausgegangen – ich konnte nicht atmen, kriegte keine Luft mehr, wollte niemanden mehr sehen… Warum hält der Sohn mich für einen Okkupanten? Es ist schlimm. Und wie denkt meine Frau darüber, die Mutter Olegs? Sie ist, wie auch die Frau von Taras Bulba, oft hat sie nachts am Bett bei dem schlafenden Kind gesessen und ihm mit dem Kamm die wirren Locken aus dem Gesicht gestrichen. Sie konnte nicht ahnen, welche verwirrten, furchtbaren und verräterischen Gedanken in diesem Kopf reifen. Sie kann nicht verstehen: Warum hat ihr Junge nur solche Scheuklappen vor den Augen? Bleibt nur zu hoffen, daß sich die Leidenschaften legen und einmal hellere Tage kommen werden…
Als ich zu meinem Geburtstag auf dem Balkon stand, schien es mir, als ob ich aus den finsteren Gedanken nicht herauskomme. Doch dann riefen mich die Gäste, und meine Frau bat uns alle an den Tisch… Die Enkelin telefonierte, gratulierte mir und sagte: der Großvater (das bin ich!) ist für sie doch der Beste. Und ich dachte: Wenn uns die Enkel nicht vergessen – dann werden wir leben!
Wladimir PUNIN, Oberstleutnant i.R., Rostow am Don.



[1]   Alexander Iwanowitsch Prokryschkin (1913-1985), berühmter sowj. Jagdflieger während des Großen Vaterländischen Krieges; erster dreifacher Held der Sowjetunion, stammte aus einer einfachen Arbeiterfamilie.
 
[2]   „Wattejacke“ – ein Schimpfwort, mit dem die ukrainischen Nazis die Russen bezeichnen.
 
[3]   Wladimir Ryshkow – liberaler russischer Politiker. Man rechnet ihn zur „5.Kolonne“ in Rußland. Aus seiner Begeisterung für Pinochet macht er keinen Hehl.
 
[4]   „Koloradokäfer“ (Kartoffelkäfer), eine zynische Bezeichnung der heutigen ukrainischen Nazis für die Träger der symbolischen Gardeschleife in Erinnerung an die heldenhaften Gardesoldaten während des Großen Vaterländischen Krieges, die als Schädlinge betrachtet werden, die man vernichten muß.
 [5]   Denkmal für die Helden der Roten Armee, die Kirowograd im Januar 1944 von den Faschisten befreit haben.
 
[6]   «Червона Зірка» (ukr. Roter Stern) – ein Betrieb für Landmaschinenbau in Kirowograd.
 
[7]   Taras Bulba – Titelheld einer Errzählung des russischen Schriftstellers Nikolai Gogol. In einem Kampf der Kosaken gegen die Polen erschießt der Vater den zum Verräter gewordenen Sohn.
 
[8]   «ботать по украинской фене» — ukrainische Gaunersprache, kommt aus dem Neuhebräischen und Jiddischen und wird von der Polizei nicht verstanden.
 
[9]   Sergej Mironowitsch Kirow (1886-1934), russ.Revolutionär und im Volk beliebter 1. Sekretär des Leningrader Gebietskomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion; 1934 von weißgardistischen Banditen ermordet.

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