Mittwoch, 31. August 2016

Ein Kulturschock: Siebzig Jahre NRW

Im Mai 1952 rief der Pfarrer Herbert Mochalski zu einer „Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung und Generalvertrag“ am 11. Mai 1952 in Essen auf. Innenminister Arnold aber verbot die Veranstaltung mit der fadenscheinigen Begründung, man habe wegen verschiedener Veranstaltung nicht genug Polizei.


 

Von Günter Ackermann

nrwIch kam mit 13 Jahren das erste Mal nach NRW, ins schwarze Kleve. Vorher ging ich in der DDR in die Schule, wollte aber zu meiner Pflegemutter, meiner Tante und die wohnte inzwischen in Kleve. Man sagt, der Niederrhein ist so schwarz, dass sie im Kohlenkeller noch Schatten werfen.
Meine Tante  besaß dort ein Reihenhaus, das sie und ihr Mann, der war Gewerkschaftssekretär im ADGB, 1928 kauften. 1933 musste sie und ihr Mann Kleve verlassen. Ihe Mann war ein Linker und wurde von den Nazis verfolgt. Ihr Mann war in zwischen verstorben, im Jahr 1951 zog sie wieder nach Kleve.
In ihrem Haus wohnten inzwischen Fremde. Das heißt, so fremd waren die auch wieder nicht. Der Bewohner – von Amts wegen da reingesetzt – war 1933 der örtliche Führer der Nazipartei, der wohnte nun im Haus eines Antifaschisten.
Mich wundert das heute nicht mehr, aber damals war ich empört. Solches und andere Sachen waren kein Einzelfall. In NRW, am schwarzen Niederrhein, in der damaligen Kreisstadt Geldern, lehrte an einer katholischen Volksschule ein gewisser Wolfgang Otto. Der machte sein 2. Staatsexamen als er Lehrer an einer SS-Schule im KZ Buchenwald und  war an Naziverbrechen beteiligt. An der Genickschussanlage tötete er sowjetische Kriegsgefangene. Er wurde nach dem Krieg zwar als Kriegsverbrecher verurteilt, wurde aber hier in NRW – trotz, dass seine Vorstrafen als SS-Mörder bekannt  waren, an einer katholischen Volksschule – zunächst in der Kleinstadt Goch und dann in Geldern, als Lehrer eingestellt und wurde Landesbeamter in NRW.
Otto war einer der Mörder von Ernst Thälmann, Rosa Thälmann, die Witwe Ernst Thälmanns, versuchte vergeblich Otto belangen zu lassen. Später wurde er aus dem Schuldienst zwar entlassen, bekam aber eine Rente von DM 1700,00, damals eine üppige Summe. Ein Facharbeiter verdiente an die DM 500,00 pro Monat.
Ich kam also hierher und ging auf die Luther-Schule zu Kleve, eine sog. Volksschule. Damals wurden die Schulkinder streng nach Konfession getrennt, die Luther-Schule war eine evangelische Volksschule. Gingen Kinder beider Konfessionen in ein Schulgebäude, wurde auf dem Schulhof ein dicker Strich gemacht: hier katholisch, da evangelisch und andere.
Ich fand das, gelinde gesagt, befremdlich. In der DDR spielte Konfession in der Schule keine Rolle. Welchen Grund mag das haben, fragte ich mich. Aber es war so.
Die Unterrichtsinhalte waren noch befremdlicher. In der DDR wurde beim Schulunterricht streng auf wissenschaftliche Inhalte geachtet, Religionsunterricht der Schulen gab es überhaupt nicht, das war Sache der Kirchen. Und hier? Wir hatten in der 7. Klasse 6 Stunden pro Woche Religion, aufgeteilt  in Religion und biblische Geschichte, Zwei Stunden „Naturlehre“, das war eine Mischung aus Physik, Chemine und Biologie und dann Deutsch, Erdkunde, Rechnen (nicht Mathematik) und etwas Geschichte. Schulbücher gab es auch nicht. Wir mussten uns ein sog. Sanella-Album besorgen. Das war ein Buch in das Bildchen reingeklebt wurden. Die Bildchen bekam man beim Kauf der Margarine Sanella. siehe auch
In der DDR gab es die Naturwissenschaften als Einzelfächer mit besonders ausg ebildeten Lehrern. Schulbücher für jedes Fach ebenfalls.
Es kam jedoch noch schlimmer. Ich musste zum Katechumenenunterricht, also Vorkonfirmantenunterricht. Der wurde vom Gemeindepfarrer gemacht. Wir saßen, nach dem Alphabet des Familiennamens sortiert, vorn die Jungs, hinten die Mädchen. Der Pfarrer war ein ehemaliger Missionar in Papua-Neuguinea und Militärgeistlicher in der Wehrmacht. Der kam in den Raum, schrie: „Alles auf, ein Lied“ und wir mussten ein Kirchenlied grölen. Ich grölte nicht mit, was mir eine Rüge des frommen Herrn einbrachte und nur der Umstand, dass ich aus der „Ostzone“ kam, bewahrte mich vor Bestrafung. Wir sollten z.B. die 10 Gebote auswendig lernen und zwar mit Luthers Zusätze: „Was ist das?“
Ich lernte es nicht. Man „bestrafte“ mich, indem ich inmitten der Mädchen sitzen musste. Das war aber hinten und die  sagten mir vor. Also hatte ich scheinbar gelernt – meinte der Herr Pastor und ich durfte wieder vorn sitzen, natürlich wusste ich jetzt wieder nichts. Das Spiel wiederholte sich und schließlich hatte ich die Faxen dicke und ging nicht mehr hin. Der Herr Pastor beauftragte einen Schüler mich zu befragen. Ich sagte dem: „Der blöde Pfaffe kann mich am Arsche lecken.“ Natürlich dachte ich nicht daran, dass der mich verpfeift. Aber das tat er. Ich wurde in der Schule zum Schulleiter bestellt. Meine Tante bekam einen blauen Brief.
Ach ja, Schule: Damals war in NRW in der Schule die Prügelstrafe erlaubt. Sie wurde aber an der Lutherschule nur vom Musiklehrer angewandt. Der nannte das „Fünf Minuten Tänzchen“. Eines Tages war auch ich dran. Der Lehrer war ins Presbyterium, also den Gemeindevorstand, gewählt worden und war darüber mächtig stolz. Das verkündete er uns. Was ein Presbyterium ist, war mir vollkommen unbekannt. Ich hatte von zu Hause aus keinem Bezug zur Kirche und bei uns gab es diese Bezeichnung auch nicht. Der Lehrer fragte: „Was bin ich geworden?“ Ich  sollte antworten und stotterte. Ein Schüler neben mir sagte mir vor. Entweder ich hatte es falsch verstanden oder der sagte falsch vor. Ich antwortete: „Pissbretter.“
Also nach vorn und fünf Minuten Tänzchen. Es überstieg meine Vorstellungskraft, dass ein Lehrer Schüler mit den Rohrstock traktiert. In der DDR wäre das eine Sache für den Staatsanwalt gewesen. Ich ging zwar ach vorn, bebte aber voll Wut und schrie den Pauker an: „Wenn du mich schlägst, trete ich dich in die Eier, dass dir Hören und Sehen vergeht.“
Er  schlug mich nicht, ich hätte meine Drohung auch wahr gemacht. Der Fairness halber muss aber betont werden, dass nur der eine Lehrer noch prügelte, aber die Prügelstrafe war erlaubt.
Später habe ich eine Dissertation über den damals Verantwortlichen für die Volksschule beim Kultusministerium gelesen. Die Ziele der Volksschule waren, den Kindern aus dem normalen Volk die Grundlagen des Rechnens und Schreibens beizubringen, sie aber vor allem im christlichen Sinne zu erziehen.
Als meine Schulzeit zu Ende war – nach der 8. Klasse – ging ich zunächst in die Lehre. Ich hatte eine Lehrstelle bei der Bundespost im Fernmeldewesen. Das interessierte mich sehr und als Lehrling war ich auch nicht schlecht, konnte mich aber nicht an bestimmte Gepflogenheiten gewöhnen. Alle Ausbilder waren Beamte und die hatten einen Titel. Die Lehrsausbilder waren Obertelegrafensekretäre, der Chef der Lehrwerkstatt Obertelegrafeninspektor. Und sie wollten alle mit Titel angesprochen werden – genau das machte ich nicht. Nach drei Monaten feuerten sie mich.
In NRW war damals Karl Arnold von der CDU Ministerpräsident und gleichzeitig Innenminister. Im Mai 1952 rief der Pfarrer Herbert Mochalski zu einer „Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung und Generalvertrag“ am 11. Mai 1952 in Essen auf. Innenminister Arnold aber verbot die Veranstaltung mit der fadenscheinigen Begründung, man habe wegen verschiedener Veranstaltung nicht genug Polizei.
Es kamen aber trotzdem zehntausende Demonstranten nach Essen zum Platz vor der Grugahalle. Ein Kommissar Knobloch erteilte Schießbefehl also ballerte die Polizei auf die Demonstranten. Der junge Arbeiter Philipp Müller wurde mit einem Herzschuss tödlich verletzt. Die Polizei redete sich raus mit der Begründung, es sei aus der Menge auf die Polizei geschossen worden. Natürlich stimmte das nicht. Spätere Strafprozesse gegen Demonstranten kamen zu dem Ergebnis. Gegen die Polizei richtete sich kein Strafverfahren. Der Mord an Philipp Müller blieb ungesühnt – bis heute.
In der 70er Jahren gab es ein weiteres Opfer der Polizei. In Duisburg fand vor dem Arbeitsgericht ein Kündigungsschutzprozesse des KPD/ML-Mitglieds Hanfried Brenner statt. Dabei kam es zu Protesten, was die Polizei mit brutalen Maßnahmen beantwortete. Einer der KPD/ML-Mitglieder, Günter Routier, wurde brutal gegen eine Treppe mit dem Kopf geschlagen. Routier war Bluter und das rief er auch aus. Das beeindruckte die Polizei nicht. Wenige Tage später war Routier tot. Wurde damals, 1952, NRW von der CDU regiert, so war es bei Routier die SPD.
NRW war ein Nachfolgeland Preußens, das bei der  Konferenz von Potsdam aufgelöst würde. Preußen stand als Symbol des deutschen Militarismus, der Europa im 20. Jahrhundert zweimal in einen mörderischen Krieg geschickt hatte. Die preußische Provinz Westfalen und Teile der Rheinprovinz, ergänzt durch das kleine lippesche Land, bilden NRW.
Im Rheinland sind die Menschen – was ihre Traditionen betrifft – eher unpreußisch, die preußischen Gepflogenheiten sind ihnen fremd,  das Rheinland ist aber auch intolerant katholisch .
Das Ruhrgebiet ist da etwas Besonderes. Die Menschen hier stammen aus den verschiedensten Gegenden Europas, vor allem aber aus Polen. Sie sind Arbeiter im der Stahlindustrie und Bergarbeiter. Religion spielt bei ihnen eine untergeordnete Rolle. Der Kaiser misstraute den Ruhrkumpels so sehr, dass es dort keine Kasernen gab, es konnte ja sein, dass die Arbeiter sich mit den Soldaten verbrüdern, es gab auch keine Universitäten. Die wurden alle ab den 60er Jahren gegründet.
Als in den 70er Jahren das Profilwalzwerk der Mannesmann-Hütte streikte und einige evangelische Pfarrer eine Solidaritätsaktion starteten, überlegten die Streikenden, wie sie sich bedanken können. Man einigte sich: „Wir machen denen mal am Sonntag die Kirche voll, da freut er sich.“
70 Jahre NRW – soll das ein Grund zum feiern sein?
G.A.

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