Sonntag, 8. März 2015

„Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen“ – Stephan Hebel

Duell in Samthandschuhen Buchtipp von Harry Popow Wenn dein Wecker nicht richtig tickt, dann kaufe einen neuen. Wenn aber die Oberen in der Politik dich übers Ohr hauen und du nichts merkst, dann schlafe ruhig weiter. Einem Wecker gleicht das Buch von Stephan Hebel mit dem Titel „Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen“. Stephan Hebel ist seit Jahrzehnten Leitartikler und Kommentator. Er schreibt für die Frankfurter Rundschau sowie für Deutschlandradio, den Freitag, Publik Forum und weitere Medien. Er ist langjähriger FR-Leitartikler und Autor. Er diskutiert regelmäßig im Presseclub der ARD und ist ständiges Mitglied in der Jury für das Unwort des Jahres.[1] Stephan_HebelFR.jpg Quelle: FR Er geht gleich ins Volle, wenn er angesichts der vielen Risse im Fundament der Gesellschaft, wie ungerechte Verteilung des Volksvermögens, Erosion der Sozialsysteme und Ignoranz der Macht gegenüber dem Volk, Merkels Worte, uns gehe es ja gut, man könne so weitermachen, unter scharfen Beschuss nimmt. (S. 7) Damit verdecke man jene Zustände, die den Stillstand in der Politik deutlich markieren. So nicht nur, wie eben angedeutet, das veraltete Sozialsystem, die ärmere Schichten ausschließende Privatisierung, die übermäßig aufgeblähten Exporte, Fehlentscheidungen beim Klimaschutz und bei der Energiewende, die inkonsequente Einwanderungspolitik sowie nicht zuletzt die „einfallslose“ Außenpolitik – bis hin zum militärischen Aufrüsten. (S. 15-18) Stephan Hebel konstatiert, dass wir die Augen verschließen „vor der Tatsache, dass die Welt uns verändern wird, wenn wir die Welt nicht verändern“. Und er benennt als Ursache diejenigen, „die keinen Wandel wollen, weil sie vom jetzigen Zustand der Welt profitieren“. Die Übermacht des „Weiter so“ präge das Denken und das Lebensgefühl der Gesellschaft. Und dort, wo sich tatsächliche Veränderungen ergaben, so bei der Kinderbetreuung, beim Mindestlohn u.a, da ende Reformpolitik dort, „wo sie nur mit dem Geld der Privilegierten zu bezahlen wäre“: Keine Steuererhöhungen für die Reichen, keine ausreichenden Investitionen in Bildung, Verkehr oder Pflege u.v.a.m (S.16) Man frage sich, so der Autor, warum es nicht zum massenhaften Widerstand aus der Gesellschaft komme (statt sinkender Wahlbeteiligung, kaum einflussreiche Protestbewegungen), wenn es mit punktuellen Veränderungen gelinge, die Tatsache zu verschleiern, dass Unternehmen, Vermögende und Spitzenverdiener vor jeder zusätzlichen Belastung etwa durch Steuern bewahrt werden? Er verweist auf die oft unrühmliche Rolle der Medien, ohne sie insgesamt pauschal zu verurteilen. Deren politisch propagierte Geringschätzung des Sozialen, der Vorrang von Konkurrenz und Selbstbehauptung am Markt haben die geneigten Leser zur Abkehr von der Vorstellung „erzogen“, dass es sinnvoll sein könnte, sich um mehr zu kümmern, als die eigenen Angelegenheiten“. Selbst ökonomisch und sozial Ausgegrenzte seien offensichtlich „nicht motiviert, an den Verhältnissen etwas Grundlegendes zu ändern“. (S. 25) So kommt es, dass wir „die Zerstörung solidarischer Vorsorgesysteme wie Renten- und Krankenversicherung widerstandslos hinnehmen.“… Das sei der Selbsterhaltung angepasstes Verhalten. Dem sich zu entziehen hieße, „die Rationalität der Anpassung zu durchschauen“. (S. 26/ 27) Dies aber wollen und können, wie der Autor nachweist, weder die SPD mit ihren nicht eingehaltenen Wahlversprechen zur Sozialpolitik, noch die Grünen, die sich von einer sozial-ökologischen Reformpartei verabschiedet haben, noch die Linke, die es könnte, aber konkretere Alternativen anbieten müsste. Erst recht nicht ein Joachim Gauk noch die Bundeskanzlerin, die Reformen nur so weit begrüßt, „wie sie mit den Interessen der Unternehmen noch vereinbar sind“. (S.128) Es gelte, so Stephan Hebel, „den Kapitalismus in seiner heutigen Form zu überwinden“. (S. 20) Er meint, deshalb müsse man nicht sofort das Kanzleramt blockieren, aber es tun auch kleine Schritte, sozusagen ein Spektrum des Widerstandes. Dazu zähle er nicht nur das Beispiel der Erhaltung des Tempelhofer Flughafens, sondern auch die Wiederbelebung von Dorfläden, den Kampf gegen die Privatisierung des Wassers, Wahlentscheidungen, Bürgerbegehren sowie öffentliche Projekte und Volksentscheide und die Proteste gegen TiSA und TTIP. Dabei warnt Stephan Hebel auf Seite 187 vor der Gefahr, „von bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen einverleibt zu werden“. Fazit ziehend schreibt er auf Seite 211: „Wenn sich die Initiativen aus der Gesellschaft vermehren und immer besser miteinander verbinden“, … besteht Hoffnung, den Tiefschlaf in Deutschland zu beenden. Das in einem guten Sprachstil geschriebene Buch gibt reichlich Stoff zum weiteren Nachdenken. So vor allem hinsichtlich der Machbarkeit eines Umbruchs der alles beeinflussenden Macht des großen Kapitals und der Banken. Mit Vernunft und gutem Willen ist da nichts zu deichseln. Auch hat der Autor in diesem Buch nicht ausdrücklich vor den weiteren Gefahren der Schläfrigkeit gewarnt, wie vor neuer militärischer Aufrüstung, vor dem weiteren Vorrücken der NATO gen Osten. Wer glaubt, mit mehr Wachheit z.B. die forcierten Aggressionsbestrebungen der USA gen Russland und China bremsen zu können, dürfte nur in einem weiteren Tiefschlaf seine innere Ruhe finden. Das Duell zwischen OBEN und UNTEN mit einem „Sich-Gegenseitig-Nicht-Wehtun“ geht ohnehin weiter – zur weiteren Täuschung und Verulkung der Völker. Tief schlafen bis es zu spät ist? Die Samthandschuhe sollte man für später aufheben. (PK) Stephan Hebel: „Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen“, Taschenbuch: 240 Seiten, Verlag: Westend (15. September 2014), ISBN-10: 3864890675, ISBN-13: 978-3864890673, Preis: 16,99 Euro Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com Online-Flyer Nr. 500 vom 04.03.2015 [1] Das allerdings ist nicht unbedingt eine Empfehlung (Red. K-online)

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