Montag, 30. Juni 2014
HINTERGRÜNDE DES 17. JUNI 1953
Im Anhang: Rede von Max Reiman auf der 15. ZK-Tagung der SED, 24.-26. Juli 1953, mit Kurt Gossweilers Vorwort vom August 2003
Von Kurt Gossweiler
Quelle: Kurt Gossweiler – Politisches Archiv
Der 17. Juni 1953 hat schon Generationen von Historikern und Publizisten zu Untersuchungen (und manchen sogar zu einem Roman) angeregt, und wird das 1993 – zum 40. Jahrestag – in besonderem Maße tun. Im Rahmen dieses Aufsatzes beschränke ich mich auf einige Aspekte der Hintergründe dieses einschneidenden Ereignisses, vor allem auf die Folgen sowjetischer Einwirkungen auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung in der DDR.
Mich beschäftigt dabei die Frage, welchen Platz der 17. Juni ’53 nicht nur in der Geschichte der DDR, sondern in der Geschichte des Staat gewordenen Sozialismus in Europa spielt. Lange Zeit konnten wir den 17. Juni als einen zwar schmerzlichen, aber doch nicht über zu bewertenden Betriebsunfall auf einer trotz gelegentlicher Rückschläge dennoch zum Ziel führenden Erfolgsbahn betrachten. Jetzt, nachdem wir nicht nur den Anfang, sondern auch das abstürzende Ende dieser Bahn der ersten Welle der sozialistischen Revolution in Europa kennen, drängt sich die Frage auf, ob bei diesem „Betriebsunfall” nicht schon Elemente und Faktoren im Spiele waren, die, wenn sie im Spiele blieben, über immer bedrohlichere weitere „Betriebsunfälle” schließlich zum totalen „Aus” führen mussten.
Dass dies in der Tat so war, darüber herrscht ziemliche Einmütigkeit. Ganz und gar kontrovers (das wird ganz sicher durch das Echo auf /47/ diesen Artikel bestätigt werden) sind aber die Antworten auf die Frage, welche Elemente und Faktoren dies wohl gewesen seien.
Nach der sog. „Wende” – die möglicherweise zwar nicht nach dem Willen der Hauptakteure der Bürgerbewegung, wohl aber ihrem sozialökonomischen Inhalt nach eine Konterrevolution war – konnte man in Artikeln von Ex-DDR-Historikern lesen, der 17. Juni 1953 sei durch die II. Parteikonferenz der SED vom Juli 1952 „vorprogrammiert” gewesen. (2)
Deshalb scheint es mir nötig, die Bedeutung des Beschlusses der II. Parteikonferenz, zum Aufbau des Sozialismus überzugehen, für die Entwicklung zum 17. Juni hin als erstes in Augenschein zu nehmen.
I. Die II. Parteikonferenz der SED vom Juli 1952 und der 17. Juni 1953
In der Nach-Wende-Diskussion über den 17. Juni wurde nicht nur die These vorgebracht, er sei durch den Beschluss, zum Aufbau der Grundlagen des Sozialismus überzugehen, vorprogrammiert worden; hartnäckig wurde vielmehr auch eine zweite These verfochten, derzufolge dieser Beschluss von der DDR- und SED-Führung im Alleingang, aus eigener Initiative und unter Nichtbeachtung einer „Order aus Moskau”, gefasst worden sei. (3)
Beide Thesen zusammengenommen führen zu dem Schluss, dass die alleinige Urheberschaft und Verantwortung für den 17. Juni bei der DDR/SED-Führung liegt.
Ein solches „Geschichtsbild” wäre aber ein groteskes Zerrbild der Wirklichkeit. Beide Thesen halten keiner Überprüfung an den geschichtlichen Tatsachen stand.
Die These Wilfriede Ottos über die angebliche „einsame Entscheidung” der SED-Führung wurde an anderer Stelle schon gründlich /48/ widerlegt. (4) Spätestens seit der großen Diskussion über das Buch Eugen Vargas „Veränderungen in der kapitalistischen Wirtschaft im Gefolge des zweiten Weltkrieges” (5) herrschte in den Führungen der Kommunistischen Parteien Ost-Europas Einmütigkeit darüber, dass die Volksdemokratie ein neuer Weg des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus sei. Es herrschte ferner zwischen der Führung der KPdSU und der SED volle Einmütigkeit darüber, dass die DDR den Übergang zum Sozialismus nicht im Gleichschritt mit den volksdemokratischen Ländern – dort wurde er 1947/48 vollzogen – mitmachen könne, um der Lösung der vordringlichen Aufgabe, der Herstellung der Einheit Deutschlands, keine Hindernisse in den Weg zu legen. Zugleich aber herrschte auch darüber Einmütigkeit, dass für den Fall, dass die Spaltung durch die Westmächte und ihre westdeutschen Schützlinge vollzogen und vertieft würde, die antifaschistisch-demokratische Ordnung in der DDR nicht auf ewige Zeiten künstlich konserviert werden konnte, da es von ihr aus nur entweder ein Zurück zum Kapitalismus oder ein Vorwärts zum Sozialismus geben konnte. Die innere Gesetzmäßigkeit, die hier waltete, hat der Vertreter der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Edward Kardelj, auf der Gründungskonferenz des Informationsbüros der Kommunistischen und Arbeiterparteien im September 1947 mit folgenden Worten beschrieben: „Es lässt sich nicht lange eine Lage halten, bei der die Arbeiterklasse im Bunde mit den übrigen werktätigen Massen die Macht in der Hand hat, während sich die entscheidenden Wirtschaftsquellen in der Hand der Bourgeoisie befinden. Es ist daher klar, dass sich eine Regierung, die den Bund des werktätigen Volkes unter Führung der Arbeiterklasse repräsentiert, nicht auf die Beseitigung der verschiedenen Überreste … der kapitalistischen Monopole beschränken konnte und entschiedenen Kurs auf die Liquidierung des Kapitalismus in Jugoslawien überhaupt, d.h., Kurs auf den Aufbau des Sozialismus nehmen musste.” (6)
Es gab also völlige Übereinstimmung zwischen Moskau und der SED-Führung darüber, dass die Alternative lautete: Entweder in absehbarer Zeit Herstellung eines einheitlichen, demokratischen, neutralen Deutschland – oder auch in der SBZ/DDR irgendwann die Notwendigkeit, zum Aufbau des Sozialismus überzugehen. Und für diesen zweiten Fall mussten vorausschauend die günstigsten Bedingungen geschaffen werden. Dem diente u.a. auch der Versuch der Sowjetunion, die Westmächte, nachdem die Rechtsgrundlage für ihre Anwesenheit in Berlin durch die Sprengung des Alliierten Kontrollrates im März 1948 entfallen war, aus Westberlin herauszudrängen. Die sog. „Blockade” Westberlins muss keineswegs nur als Machtkampf zwischen Sowjetunion und den Westmächten betrachtet werden: die Beseitigung des gefährlichen Störzentrums im Herzen der DDR lag vor allem im DDR-Interesse, wie die weitere Entwicklung nachdrücklich bezeugte.
Es war also von den Umständen erzwungen, dass die Sowjetunion eine Deutschlandpolitik betrieb, die beiden Möglichkeiten Raum bot und keiner unüberwindliche Hindernisse in den Weg legte. (Dies als „zweigleisige Politik” und „Pokerspiel Stalins mit der DDR” (7) ins moralische Zwielicht zu stellen, zeugt m. E. keineswegs von einem tiefen Verständnis für die damalige Situation.)
Die bekannte und viel umstrittene Stalin-Note vom 10. März 1952 an die drei Westmächte mit ihrem Angebot der Schaffung eines einheitlichen, demokratischen und neutralen, von Besatzungstruppen freien Deutschland entsprach genau dieser Notwendigkeit. Einerseits stellte sie die denkbar stärkste Hilfeleistung von außen dar für alle politischen Kräfte in Deutschland, deren Ziel die Überwindung der Spaltung des Landes war. Zum anderen aber zwang sie alle inneren und äußeren Gegner der Einheit Deutschlands, Farbe zu bekennen und vor dem deutschen Volk und der Geschichte die Verantwortung für die Aufrechterhaltung und Vertiefung der Spaltung Deutschlands zu übernehmen.
Mit ihrer Ablehnung des sowjetischen Vorschlages und mit dem Abschluss des Deutschland-Vertrages (26. Mai 1952) und des Vertrages zur Bildung der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft” (EVG) unter Einbeziehung der Bundesrepublik in ihr westliches Militärbündnis (27. Mai 1952) haben die Westmächte keinen Zweifel daran gelassen, wer die Chance zur Überwindung der Spaltung ausschlug und sie statt dessen schon fast bis zur Unheilbarkeit vertiefte. Sie haben damit aber auch – gezwungen durch die Sowjet-Note – vor der Geschichte klargestellt, dass der zwei Monate später gefasste Beschluss der DDR-Führung, zum Aufbau des Sozialismus überzugehen, nicht Ursache, sondern unvermeidliche Folge der durch die Westmächte und ihre westdeutschen Partner vorsätzlich herbeigeführten Vertiefung der Spaltung Deutschlands war.
Unvermeidlich deshalb, weil inzwischen die politischen, vor allem aber die ökonomischen Bedingungen in der DDR danach verlangten, der Entfaltung der Produktivkräfte in der Industrie, vor allem aber in der Landwirtschaft weiteren Rahmen zu geben. Das konnte in der Landwirtschaft nur dadurch geschehen, dass man entweder den Mittelbauern die Möglichkeit eröffnete, Großbauern zu werden, oder aber sich in Genossenschaften zusammenzuschließen und auf diese Weise moderne landwirtschaftliche Großbetriebe zu schaffen. Mit anderen Worten: in der Entwicklung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung der DDR war der Punkt erreicht, da die Entscheidung darüber fallen musste, ob man zulassen wollte, in die kapitalistische Ordnung zurückzufallen oder ob man voranschreiten wollte zur Gestaltung sozialistischer Produktionsverhältnisse. Ein längeres Hintanhalten dieser Entscheidung musste unvermeidlich zu Stagnation und zu krisenhaften Erschütterungen führen.
Natürlich kann und wird hier eingewendet werden: Aber der Entschluss zum Aufbau des Sozialismus hat diese krisenhafte Erschütterung doch nicht verhindert, vielleicht sogar eher herbeigeführt.
So sehr eine solche Deutung dem „Zuge der Zeit” entspricht, so wenig entspricht sie der historischen Wahrheit.
Der Zündstoff, der sich ab der zweiten Hälfte des Jahres 1952 in der DDR ansammelte und am 17. Juni 1953 zur Explosion gebracht wurde, war ganz unterschiedlicher Herkunft. Ein Teil – aber bei weitem nicht der ausschlaggebende – war das Produkt des verschärften Widerstandes der antisozialistischen Kräfte, die damals – nur sieben Jahre nach dem Ende der faschistischen Herrschaft – in der DDR natürlich noch zahlenmäßig verhältnismäßig stark und zum Teil auch noch organisiert waren, gegen den Kurs auf Sozialismus. Die allergrößten Schwierigkeiten ergaben sich jedoch aus der Verschärfung des Kalten Krieges durch die Westmächte, die offen den Übergang zu einer Politik des Sturzes der sozialistischen Regime proklamierten, und in Korea schon zum heißen Krieg übergegangen waren.
Am 27. August 1952 sprach John Foster Dulles, damals außenpolitischer Berater des Präsidentschaftskandidaten Eisenhower, in einer Rede in Buffalo offen aus, die Sender der „Stimme Amerikas” würden beginnen, die Bevölkerung „hinter dem Eisernen Vorhang” zum Widerstand aufzurufen 8; wenige Tage später, am 3. September 1952, kündigte der Präsident der USA, Truman, in einer Rede an, die bisherige Politik des „Containments”, der Verhinderung der weiteren Ausbreitung des Sozialismus, werde durch die Politik der „Befreiung” der sozialistischen Länder abgelöst. 9 Es blieb nicht bei Worten. Die noch in verschiedenen Positionen, sogar in der Regierung der DDR sitzenden Vertrauensleute bundesdeutscher Parteien des Großkapitals, wie etwa der LDPD-Minister für Handel und Versorgung, Dr. Hamann, oder der Außenminister der DDR, Georg Dertinger (CDU), taten – jeder auf seinem Gebiet – soviel als möglich, um Sand ins Getriebe der DDR-Wirtschaft und -Politik zu streuen. (10)
Emsige feindliche Aktivitäten entfaltete auch das berüchtigte Ostbüro der SPD. Über seine Rolle berichtete das Blatt der SPD, der „Neue Vorwärts”, am 23. September 1952 vielsagend:
„Eine besondere Rolle im Widerstandskampf gegen das kommunistische Regime ist dem Ostbüro zugefallen. … Erst wenn das kommunistische Regime der Sowjetzone … durch andere politisch wirksam gewordene Faktoren gestürzt werden kann, erst dann wird sich das Ausmaß und der Sinn der illegalen Widerstandsarbeit der Sozialdemokratischen Partei in der Sowjetzone erweisen und bestätigen. Auf diesen Tag wird systematisch hingearbeitet.” (11)
Da zu jener Zeit in den kommunistischen Parteien Illusionen über einen „friedfertigen” Imperialismus, der sich auf eine friedliche Koexistenz mit dem Sozialismus einlassen würde, noch die rare Ausnahme, die Regel jedoch ein marxistisches Verständnis der Unvermeidlichkeit des scharfen Klassenkampfes zwischen den beiden antagonistischen Systemen war, wurde bereits im ersten Fünfjahrplan (1951-1955) festgelegt, die durch die Spaltung Deutschlands entstandenen Disproportionen im Wirtschaftsgefüge so rasch als möglich auszugleichen durch die vorrangige Entwicklung jener Industriezweige, die in der Hauptsache in Westdeutschland zu Hause, in der DDR jedoch unterentwickelt oder gar nicht vorhanden, für die Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit jedoch unverzichtbar waren.
Der Beginn der Aufrüstung der Bundesrepublik, ihre Einbeziehung in das westliche Bündnissystem, die Ankündigungen, nunmehr von der Containment- zur „Befreiungs”-Politik überzugehen, erforderten in den sozialistischen Ländern und in der DDR entsprechende Gegenmaßnahmen. Für die DDR bedeutete das die Notwendigkeit einer Planverän- /53/ derung durch die zusätzliche Aufgabe, eigene Verteidigungskräfte in viel stärkerem Maße als vorgesehen aufzubauen. Da für diese Aufgabe kein zusätzliches Material noch zusätzliche Arbeitskräfte und Finanzmittel zur Verfügung standen, bedeutete dies, an allen anderen Posten des Wirtschaftsplanes Kürzungen vornehmen zu müssen. In welche Schwierigkeiten die DDR-Wirtschaft dadurch geriet, geht sehr eindringlich aus dem Entwurf eines Schreibens des ZK der SED an die Regierung der UdSSR vom Januar 1953 hervor. (12)
Im Abschnitt III dieses Schreibens: „Die Ergebnisse und Erfahrungen der ersten 2 Jahre des Fünfjahresplanes und der Plan 1953”, werden die Schwierigkeiten und Probleme der Planerfüllung in fünf Punkten zusammengefasst. Punkt 1 behandelt die aus der Spaltung herrührenden Disproportionen, Punkt 2 die dringende Rekonstruktion und Modernisierung des Bergbaus und anderer Industriezweige; unter Punkt 3 heißt es: „Es handelt sich hierbei um den Aufbau der nationalen bewaffneten Streitkräfte und ihre Versorgung mit Material und Ausrüstungen, worauf wir nicht vorbereitet sind. Im Plan für das Jahr 1953 sind nicht die Voraussetzungen enthalten, die notwendig sind, um die Produktion für die Verteidigung im Jahre 1954 durchführen zu können.”
Dazu wird an anderer Stelle ausgeführt: „Besonders erschwert wurde die Erfüllung des Planes 1952 durch den Beginn des Aufbaus der nationalen Streitkräfte, wodurch Erzeugnisse in Höhe von 500 Mio. DM-DDR (ohne Nahrungsmittel) anderen Verbrauchern weggenommen werden mussten. Hier handelt es sich hauptsächlich um Baustoffe, Baustahl, Kabel, Rohre, Gewebe, Lederschuhe usw.” In Punkt 4 heißt es, dass „die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung durch die schnell gewachsene Kaufkraft und die damit rasch gestiegenen Ansprüche nicht in vollem Umfange gewährleistet” sei. In Punkt 5 werden als neue, zusätzliche Aufgaben, die im Plan für das Jahr 1953 nicht enthalten waren, u.a. genannt: Aufbau der Luftfahrtindustrie und strategische Maßnahmen auf dem Gebiet des Verkehrs. /54/
Im Abschnitt VIII über den Außenhandel wird darauf hingewiesen, dass „wichtige Importe” (aus der Sowjetunion) „nicht kommen, woraus sich eine Gefährdung der Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes” ergebe. Andererseits wurden die Anforderungen für Lieferungen in die Sowjetunion erheblich erhöht gegenüber den im Plan festgelegten Zahlen. In den Schlussfolgerungen heißt es sodann: „Aus der vorangegangenen Darstellung wird klar, dass die ökonomische Lage in entscheidenden Knotenpunkten äußerst ernst und angespannt ist.”
Zum Abschluss wird die Führung der UdSSR gebeten, zu überprüfen, ob eine Hilfe bei der Lösung der schwierigen Probleme nicht möglich ist, zum einen durch verstärkte Importe dringend benötigter Engpassmaterialien, zum anderen durch Verminderung der Reparations- und Exportverpflichtungen der DDR.
Am 20. Januar 1953 bestätigte das Politbüro des ZK der SED den Entwurf des Staatshaushaltsplanes für 1953 und des Sparprogramms. Durch Einsparungen bei Ausgaben für Verwaltung, Kultur, Medizin, durch Preiserhöhungen verschiedener Art, Wegfall von Fahrgeldermäßigungen, und weiteren, insgesamt 33 Sparmaßnahmen, sollten rund anderthalb Milliarden Mark eingespart werden. (13)
Diese Aufgaben hingen ursächlich nicht mit dem Beschluss der 2. Parteikonferenz zusammen, sondern mit der Verschärfung des Kalten Krieges durch die Westmächte und deren offenen Liquidierungsdrohungen gegenüber den sozialistischen Ländern.
Schließlich muss als weiterer Lieferant von Zündstoff die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) genannt werden, die noch immer als eine Art Ober-Regierung fungierte (14), indem sie zu ihr wichtig erscheinenden Fragen Memoranden an die DDR-Regierung übergab, in denen – zumeist auf Grund sehr gründlicher Lageuntersuchungen – oft sehr detailliert ausgearbeitete Maßnahmen zur Durchführung empfohlen wurden. /55/
II. Die SKK und die Durchführung ihrer Empfehlungen
Hatte die SMAD zu ihrer Zeit als Besatzungsmacht und oberste Regierungsbehörde mit Befehlen gearbeitet, die jedoch in der Regel in Befehlsform gekleidete Bevollmächtigungen der deutschen Behörden in ihren Bemühungen um die Überwindung der faschistischen Hinterlassenschaft, den wirtschaftlichen Wiederaufbau und für die Errichtung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung darstellten, so arbeitete die SKK mit Empfehlungen, deren Beachtung und Umsetzung in entsprechende Gesetze und Verordnungen, gegebenenfalls auch nachdrücklich eingefordert wurde. (15)
Die Memoranden aus der zweiten Hälfte 1952 und dem ersten Vierteljahr 1953 waren zumeist der Frage gewidmet, woher und wie die Mittel zur Überwindung der Engpässe in der Finanzierung der zusätzlichen Ausgaben und in der Lebensmittelversorgung zu gewinnen seien. So sehr sich die Mitarbeiter der SKK auch bemühten, ein genaues Bild der Situation in der DDR zu gewinnen und dementsprechende Maßnahmen vorzuschlagen, so sehr ist den Memoranden doch anzumerken, dass die eigenen Erfahrungen aus der Zeit der Industrialisierung und der Offensive gegen das Kulakentum in der Sowjetunion bei den vorgeschlagenen Maßnahmen Pate gestanden hatten. Vorgeschlagen wurde ein strenges Sparsamkeitsregime auf allen Gebieten, aber auch die rigorose Eintreibung von Rückständen an Lebensmittellieferungen und Steuern bei sabotierenden Großbauern. (16) Um die Finanzmittel für die zusätzlichen Ausgaben zu gewinnen, wurden u.a. Empfehlungen zur radikalen Einsparung auf sozialem Gebiet gegeben: Anrechnung von Kuren auf den Arbeitsurlaub, Einschränkung des Kreises der Kurberechtigten, Selbstbeteiligung an den Kosten von Kuren, Entzug der Berechtigung für privat praktizierende Ärzte, Kuren zu verschreiben u.ä. (17)
Einige dieser Empfehlungen berücksichtigten nicht oder ungenügend /56/ die besonderen Gegebenheiten in Deutschland. Ihre Verwirklichung musste die unumgänglichen Härten des Sparkurses zusätzlich verschärfen, und dies im gespaltenen Deutschland bei offener Grenze.
Die Führung der SED und die Regierung kamen solchen Empfehlungen der SKK nur zögernd und in abgemilderter Form nach. (18) Die einschneidendsten Maßnahmen setzten erst gegen Ende 1952 ein, die aufreizendsten Verschlechterungen noch später, im März und April 1953. Dafür nur einige Beispiele: Auf der Suche nach zusätzlichen Geldeinnahmen war beschlossen worden, dass die Reichsbahn 1953 eine zusätzliche Einnahme von 50 Millionen Mark zu erbringen hat. Deshalb wurden im Dezember 1952 Fahrpreisermäßigungen für 8 Kategorien aufgehoben, im April 1953 noch einmal für einige weitere Kategorien, darunter für Behinderte, Schwerbeschädigte, sowie Arbeiterrückfahrkarten. Übrig blieben nur Arbeitermonats- und Wochenkarten und Schülermonats- und Wochenkarten mit einer Ermäßigung von 80 Prozent. (19)
Am 9. April 1953 wurde durch eine Verordnung ein großer Kreis der Bevölkerung aus der Kartenversorgung ausgeschlossen, d.h., die Betroffenen mussten künftig alle, auch die noch bewirtschafteten Waren (Lebensmittel, Textilien, Schuhe), zu erheblich höheren Preisen kaufen. Betroffen davon waren nicht nur kapitalistische Unternehmer, sondern auch Einzelhändler und andere selbständige Gewerbetreibende.
Am 20. April folgte eine Preisverordnung, die eine Preiserhöhung für Fleisch und „zuckerhaltige Waren”, also auch für Marmelade, Kunsthonig und Backwaren brachte, und die vor allem die Rentner traf.
Schließlich wurde die monatelange Kampagne zur Festlegung technisch begründeter Arbeitsnormen in den volkseigenen Betrieben auf der Tagung des Zentralkomitees der SED vom 13./14. Mai 1953 mit dem Beschluss vollendet, ab 1. Juni 1953 alle Arbeitsnormen um mindestens 10 Prozent zu erhöhen.
Waren schon diese Maßnahmen geeignet, nahezu die gesamte Bevölkerung in Proteststimmung zu versetzen, so wurde diese Stimmung noch um vieles gesteigert durch die unbegreiflich dumme Argumentationslinie, jede tatsächliche Verschlechterung als einen Schritt der Verbesserung des Lebensstandards auszugeben. So wurde zum Beispiel im Leitartikel des „Neuen Deutschland” vom 11. April 1953 der Entzug der Lebensmittelkarten für Selbständige als „ein weiterer Schritt auf dem Wege zur allmählichen Abschaffung des Kartensystems”, also quasi als eine positive Errungenschaft hingestellt; in gleicher Weise mussten sich die Rentner verhöhnt fühlen, wenn sie lasen (ND v. 19. 4. 53), die Verteuerung von Fleisch und Marmelade sei eine „Maßnahme zur allmählichen Lockerung der Zwangsbewirtschaftung und der Herbeiführung eines einheitlichen Preisniveaus”. – In dem Argumentationsentwurf zum Wegfall der Fahrpreisermäßigungen hieß es u.a., entsprechend den jetzigen Lohnbedingungen hätte eine ganze Anzahl der bisherigen Fahrpreisermäßigungen keinerlei Berechtigung mehr. Mit Ausnahme der Ermäßigungen für den Berufsverkehr würden alle anderen Ermäßigungen wegfallen, womit „vor allen Dingen den Schiebern und Spekulanten und anderen Feinden unseres friedlichen Aufbaus eine unrechtmäßige Inanspruchnahme der Ermäßigung auf Kosten der Werktätigen unmöglich gemacht wird”. (20)
Stimmungsmäßig war die Situation also sehr günstig für alle sozialismusfeindlichen Kräfte innerhalb und außerhalb der DDR. Sie nutzten das auch weidlich für eine verstärkte antikommunistische, regierungsfeindliche Hetz- und Wühlarbeit. Im Lande selbst tat sich dabei unter Ausnutzung der privilegierten Position der Kirchen die Leitung der Evangelischen Kirche mit ihrem Ratsvorsitzenden Bischof Dibelius hervor. Die auf Dibelius’ Linie des scharfen Antikommunismus stehenden Geistlichen und die unter ihrem Einfluss stehenden Gruppen der „Jungen Gemeinde” gingen auf einen harschen Konfrontationskurs gegenüber dem Staat und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) über und forderten auf diese Weise eine nicht weniger harte Antwort heraus. Der so von der Dibelius-Kirchenleitung provozierte „Kirchenkampf” belastete zusätzlich die ohnehin schon spannungsgeladene Atmosphäre. /58/
III. Das Kommuniqué vom 9. Juni und seine Vorgeschichte: Die Moskauer Beratung Anfang Juni 1953
Die geschilderte Situation bedeutete eine außerordentliche Bewährungsprobe für die SED. Ihre aktiven Mitglieder waren – selbst wenn sie mit bestimmten Maßnahmen und Überspitzungen, vor allem mit den Preiserhöhungen, nicht einverstanden waren – dennoch überzeugt von der Richtigkeit der Grundorientierung der Partei auf den Aufbau des Sozialismus und verteidigten die Maßnahmen der Regierung in tausenden tagtäglichen Diskussionen. Sie – und ebenso die aktiven Jugendlichen in der FDJ – spürten durchaus, dass die Feinde des Sozialismus darauf aus waren, bestehende Schwierigkeiten für eine Generaloffensive auszunutzen, und begrüßten deshalb die Zurückweisung der feindlichen Angriffe, auch jene verschiedener Geistlicher und mancher Angehöriger der „Jungen Gemeinde”, als berechtigt und notwendig.
Sie gingen also monatelang täglich von neuem in harte Auseinandersetzungen zur Verteidigung der Parteilinie und der Regierungsmaßnahmen, bis zu jenem 11. Juni 1953, an dem im „Neuen Deutschland” das „Kommuniqué des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 9. Juni 1953” abgedruckt war.
Als sie dieses Kommuniqué lasen, glaubten sie, ihren Augen nicht trauen zu können: wurde darin doch kurzerhand all das, was sie so hartnäckig und erbittert den Kollegen, Bekannten und Unbekannten gegenüber als richtig und notwendig verteidigt hatten, als eine Reihe von Fehlern gekennzeichnet, die durch die Zurücknahme aller entsprechenden Maßnahmen korrigiert würden.
Fassungslosigkeit, ungläubiges Kopfschütteln, Erbitterung und das Gefühl, schmählich von der Führung blamiert, wenn nicht verraten worden zu sein, eine große Verunsicherung und Lähmung gerade der aktivsten und treuesten Genossen waren die Reaktion und Folge dieses Kommuniqués.
Diese Gefühle waren nur zu verständlich. Es dürfte wohl kein Beispiel in der Geschichte anderer Parteien geben, dass eine Führung ihre Anhänger in eine heiße Schlacht führt und dann in der größten Hitze des Gefechts plötzlich erklärt, das Ganze sei ein Irrtum, deshalb müssten Hintergründe des 17. Juni 1953 alle erreichten Positionen wieder geräumt werden. Damals erhielt die Überzeugung, die Partei sei für einen Kommunisten das Höchste, dem alles Persönliche unterzuordnen ist, wohl bei vielen Genossen einen ernsthaften Knacks.
Was die einfachen Parteimitglieder nicht wussten und bis zum heutigen Tage mit wenigen Ausnahmen nicht wissen, ist, dass die Führung damals mit dem Kommuniqué das, was ihr selbst in viel brutalerer Weise zugefügt und zugemutet worden war, so abgeschwächt wie irgend möglich und nur unter äußerem Druck den Mitgliedern gegenüber wiederholte.
Anfang Juni 1953 waren Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Fred Oelssner (als Übersetzer) nach Moskau zitiert worden, aber nicht etwa, um dort mit den sowjetischen Genossen darüber zu beraten, wie die schwierige Lage in der DDR zu meistern sei, sondern um von ihnen in schriftlicher Form vorgeschrieben zu erhalten, dass sie eine schroffe Kursänderung durchzuführen hätten, und wie diese auszusehen habe – ein Verfahren, wie es bisher keine Führung eines mit der Sowjetunion verbündeten Landes über sich hatte ergehen lassen müssen. (22)
Die DDR-Delegation erhielt ein Dokument in die Hand gedrückt, das Oelssner als Übersetzer vorlas, betitelt: „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik”, mit der Aufforderung, dazu Stellung zu nehmen.
Das Dokument beginnt mit der selbstgerechten Feststellung: „Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden.” /60/
Selbstgerecht war diese Feststellung, weil weder hier noch an anderer Stelle – mit einer einzigen Ausnahme – gesagt wurde, dass diese politische Linie die gemeinsame Linie beider Parteien und Regierungen war. Erst auf entsprechende Hinweise der DDR-Seite wurde eingeräumt, dass nicht die Schuldfrage gestellt werden solle, schuld seien beide Seiten. Aber die inhaltlichen Einwände der deutschen Seite wurden nicht akzeptiert, ihre erste schriftliche Stellungnahme wurde als unzureichend zurückgewiesen; verlangt wurde offenbar eine widerspruchslose Zustimmung zu diesem Dokument, das einer Selbstverurteilung gleichkam. Die geforderte Zustimmung wurde schließlich gegeben, so schwer es den deutschen Genossen auch gefallen sein muss. (23) In dem sowjetischen Papier hieß es nämlich, der Beschluss der II. Parteikonferenz auf „beschleunigten Aufbau des Sozialismus” (24) sei falsch gewesen, weil dafür die innen- und außenpolitischen Voraussetzungen gefehlt hätten. Zur Verbesserung der Lage sei notwendig, anzuerkennen, dass dieser Beschluss und seine Billigung durch das Politbüro der KPdSU(B) vom 8. Juli 1952 – dies die erwähnte Ausnahme – nicht richtig waren. Ebenso als unrichtig zu betrachten sei die bis zu dieser Zeit durchgeführte Propaganda über die Notwendigkeit des Überganges der DDR zum Sozialismus.
Die Formulierungen des sowjetischen Dokumentes zu dieser Frage waren so unpräzise, dass daraus innerhalb der SED-Führung unterschiedliche Schlüsse gezogen wurden, ob der Aufbau des Sozialismus überhaupt fortgeführt werden solle, oder nicht. (25)
Sodann wurden im sowjetischen Dokument unterschiedslos alle im Zuge des von der SKK empfohlenen Sparsamkeitskurses und in Befolgung der SKK-Empfehlungen zur strengeren Eintreibung der rückständigen Steuern und landwirtschaftlichen Produkte ergriffenen Maßnahmen der DDR-Regierung für falsch erklärt, und verlangt, sie rückgängig zu machen. Das Gleiche hinsichtlich der Maßnahmen gegen Angehörige der Jungen Gemeinde und ihre geistlichen Hintermänner. Besonders brisant und in letzter Konsequenz auf die Liquidierung der Anfänge sozialistischen Eigentums in der Landwirtschaft gerichtet waren folgende Passagen des Dokumentes: „Ein künstliches Aufbringen (gemeint: Aufrechterhaltung) der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die sich in der Praxis nicht bewährt haben, und die eine Unzufriedenheit unter den Bauern hervorrufen, ist einzustellen. Alle bestehenden landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sind sorgfältig zu überprüfen, und diejenigen, die auf einer unfreiwilligen Basis geschaffen sind oder die sich als lebensunfähig gezeigt haben, sind aufzulösen. Es ist im Auge zu behalten, dass unter den heutigen Bedingungen in der DDR nur (!) eine einfachere Form der Produktionskooperierung der Bauern, wie die Genossenschaften zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens, ohne dass die Produktionsmittel vergesellschaftet werden (!), mehr oder weniger lebensfähig sein kann.” (26)
Der Hauptgedanke des Dokuments bestand darin, dass „zur Zeit die Hauptaufgabe der Kampf für die Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage” sei. Die Aufgabe des politischen Kampfes für die Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands und zum Abschluss eines Friedensvertrages müssten zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der breiten Massen des deutschen Volkes gemacht werden.
Es wäre deshalb nur logisch gewesen, wenn die sowjetische Seite sich mit Otto Grotewohls Vorschlag einverstanden erklärt hätte, der DDR-Öffentlichkeit den Kurswechsel mit dem Bemühen um die Einheit Deutschlands zu begründen. Das aber wurde zurückgewiesen. Das ganze Dokument und der Verlauf der Besprechungen vermitteln den Eindruck, dass die sowjetische Seite – oder einzelne ihrer Vertreter – darauf aus waren, die SED-Führung, vor allem aber ihren hervorragendsten Exponenten, Walter Ulbricht, vor der DDR-Öffentlichkeit zu kompromittieren und in eine Sündenbock-Rolle zu manövrieren.
Überblickt man das Moskauer Dokument als Ganzes, dann muss auffallen, dass trotz allen Eifers, das „Fehlerregister” so umfangreich und lückenlos wie möglich zu gestalten, ein wirklich entscheidender Punkt überhaupt nicht berührt wurde: der Beschluss von Mitte Mai zur Normenerhöhung ab 1. Juni 1953! Nichts davon, dass dieser Beschluss ein Fehler war, nichts davon, dass auch er aufgehoben werden müsse! Ausgerechnet der Beschluss, der die Beziehungen der Partei und des Staates zur Arbeiterklasse am stärksten belastete, wurde von der sowjetischen Seite nicht erwähnt. Das ist kaum zu verstehen. Ebenso wenig aber ist zu verstehen, dass die SED-Führung nicht von selbst darauf kam, dass es wohl nicht angehen könne, alle Schichten der Bevölkerung zu entlasten von den speziell sie betreffenden Belastungen der letzten Monate – nur die Arbeiterklasse nicht! Im Kommuniqué vom 9. Juni ist von der Aufhebung der Normerhöhung ebenso wenig die Rede, wie im Moskauer „Gesundungs”-Beschluss.
Die Vermutung, auf sowjetischer Seite habe es bei irgendwem ein Interesse gegeben, die SED-Führung und insbesondere ihren Generalsekretär zum Sündenbock zu machen, um seine Stellung zu erschüttern, verdichtet sich, wenn man erfährt, wie es zu der so unvermeidlich Volkszorn provozierenden Fassung des Kommuniqués vom 9. Juni /63/ gekommen ist. Darüber berichtet sein Verfasser, Rudolf Herrnstadt: „Am 10. Juni entwarf ich das ‚Kommuniqué vom 9. Juni‘. Je mehr ich versuchte, das Kommuniqué in der aufgetragenen Weise … zu schreiben, desto klarer wurde mir, dass es in der vorgesehenen Form eine nicht zu verantwortende Chocwirkung in der Partei und in der Öffentlichkeit hervorrufen müsse. Es erwies sich als unmöglich, die wichtigsten, von der Partei soeben ein Jahr hindurch gegen unzählige Widerstände als allein richtig verteidigte Maßnahmen kurzerhand, d.h., unter Verzicht auf eine fundierte Begründung zu widerrufen – ohne die Partei zu desorientieren und zu erbittern und dem Gegner die Flanke zu öffnen. … Am frühen Nachmittag legte ich den Entwurf des Kommuniqués Genossen Ulbricht vor. Er las ihn und hatte keine Einwendungen. Ich setzte ihm das oben Gesagte auseinander. Er erwiderte: ‚Die gleichen Einwendungen habe ich bereits gemacht. Auch Grotewohl hat die größten Bedenken. Aber sie bestehen darauf.‘ Ich sagte: ‚Damit kann man sich doch nicht zufrieden geben?!‘ Ulbricht erwiderte: ‚Komm heute Nachmittag um 6 in die Wohnung des Genossen Grotewohl. Dort wird Semjonow sein. Ich möchte ohnehin, dass er das Kommuniqué vor der Veröffentlichung liest. Bei der Gelegenheit kannst Du ihm die Sache noch einmal vortragen. Aber Du wirst kein Glück haben.‘ ”
Über sein Gespräch mit Semjonow berichtete Herrnstadt: „Ich: ‚Genosse Semjonow, ich bin zwar der Verfasser des Kommuniqués, aber ich möchte gegen seine Veröffentlichung protestieren.‘
S.: ‚Warum?‘
Ich: ‚So darf man den Kurswechsel nicht einleiten. Das Kommuniqué kann nur Verwirrung stiften.‘ Das führte ich näher aus.
Er: ‚Das Kommuniqué muss morgen in der Zeitung stehen.‘
Ich: ‚Ich entnehme Ihren Worten, dass eine diesbezügliche Anweisung vorliegt. Wenn das der Fall sein sollte – ginge es nicht, dass Sie in Moskau darlegen, warum es zweckmäßig wäre, die Anweisung zu verändern? Geben Sie uns 14 Tage, und wir können den Kurswechsel so überzeugend und fortreißend begründen, dass wir mit ihm in die Offensive gehen und nicht der Gegner. … Er enthält doch alle Elemente dafür, aber die Elemente können sich ins Gegenteil verwandeln, wenn wir den Start verpfuschen!‘ Darauf antwortete Genosse Semjonow sehr scharf und von oben herab: ‚In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben!‘ ” /64/
So erschien also das Kommuniqué am 11. Juni 1953 und tat genau die von Ulbricht, Grotewohl und Herrnstadt befürchtete Wirkung: es „desorientierte und erbitterte die Partei und öffnete dem Gegner die Flanke”. Es wirkte wie ein brennendes Streichholz, das in ein offenes Benzinfass geworfen wird. Gewiss, der Brennstoff stand bereit – aber ob er explodierte oder aber „entsorgt” werden konnte, ohne Schaden anzurichten – das hing davon ab, wie mit ihm umgegangen wurde. Das war vorherzusehen, das wurde vorhergesehen, es wurde gewarnt – aber „man” bestand darauf, das brennende Streichholz in das Benzinfass zu werfen!
IV. Fragen, Antworten – Fragen
Niemand vermag zu sagen, ob es ohne dieses Kommuniqué keinen 17. Juni gegeben hätte. Aber mit Sicherheit kann gesagt werden, dass mit diesem Kommuniqué all denen, die darauf aus waren, aus Demonstrationen unzufriedener Arbeiter gegen Normerhöhungen und Preissteigerungen einen „Arbeiteraufstand” gegen die Arbeiter- und Bauernmacht zu entfachen, die Arbeit unerhört erleichtert wurde.
Bleibt die bislang ungelöste Frage: Warum dann dieses Kommuniqué? Mit welcher Absicht gerade so? (28) /65/
Wäre es nur Leichtsinn ohne jede Absicht gewesen – wie erklärt sich dann, dass trotz der bösen Erfahrungen, die mit einer solchen „Schocktherapie” am 17. Juni 1953 gemacht worden war, die gleiche „Therapie” immer wieder – und immer auch mit den gleichen negativen Folgen – „verordnet” wurde? Zuerst durch Chruschtschow, und ab 1985 erneut durch Gorbatschow.
Nur einige wenige Beispiele:
26. Mai 1955: Ansprache Chruschtschows bei der Ankunft auf dem Flughafen von Belgrad:
„Teurer Genosse Tito! … Wir haben eingehend die Materialien überprüft, auf denen die schweren Anschuldigungen und Beleidigungen beruhten, die damals gegen die Führer Jugoslawiens erhoben wurden. Die Tatsachen zeigen, dass diese Materialien von Volksfeinden, niederträchtigen Agenten des Imperialismus, fabriziert waren, die sich durch Betrug in die Reihen unserer Partei eingeschlichen haben.” (29)
Es war jedoch kein „fabrizierter” Fakt, dass Tito sein Land in das imperialistische Paktsystem des Balkanpaktes mit den NATO-Staaten Türkei und Griechenland geführt hatte und es von den USA mit Waffen versorgen ließ – gegen wen wohl? /66/
25. Februar 1956: Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU. In dieser Rede wird den vor Staunen und Entsetzen starren Zuhörern eröffnet, dass die KPdSU jahrzehntelang von einem machtbesessenen, inkompetenten, nicht voll zurechnungsfähigen Blutsäufer geführt worden war.
Diese beiden Fälle der „Schocktherapie” waren jene mit den schwersten und verhängnisvollsten Langzeitwirkungen. Aber nicht in Vergessenheit geraten sollten auch solche mehr unauffälligen, wenig beachteten, scheinbar bedeutungslosen Fälle wie die folgenden: 31. März 1954: Die Sowjetunion erklärt ihre Bereitschaft, der NATO beizutreten.
18. Januar 1959: Durch die Presse geht die Meldung, dass Anastas Mikojan, Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU und 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, bei seinem USA-Besuch auch eine Begegnung mit dem Chef der CIA, Allan Dulles, hatte – als ob ein Besuch eines sowjetischen Spitzenpolitikers beim Chefkoordinator aller subversiven Aktionen gegen den Sozialismus die normalste Sache der Welt sei.
Oktober 1959: Von seiner USA-Reise zurückgekehrt, wirbt Chruschtschow auf einer Großkundgebung um Vertrauen für den USA-Präsidenten Eisenhower (eben jenen Präsidenten, der Ethel und Julius Rosenberg auf den Elektrischen Stuhl schickte), indem er ausführte: „Von dieser Tribüne aus muss ich vor den Moskauern, vor meinem ganzen Volk, vor der Regierung und vor der Partei sagen, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Dwight Eisenhower, der Mann, der das absolute Vertrauen seines ganzen Volkes genießt (gehörten für Chruschtschow die amerikanischen Kommunisten nicht zum Volk?) staatsmännische Klugheit bewiesen hat.”
1960/61: Bruch mit der Volksrepublik China und der KP Chinas. Zuspitzung des Konflikts seitens der Sowjetunion bis zu der Behauptung, die Hauptkriegsgefahr gehe nicht mehr von den imperialistischen USA, sondern von China aus.
Was ist allen diesen Aktionen und Stellungnahmen gemeinsam? Jede von ihnen kam überraschend und unerwartet. Keine war ausreichend stichhaltig begründet, bei einigen – darunter den /67/ wichtigsten – entsprach die zur Begründung angegebene Behauptung offenkundig nicht der Wahrheit, wie etwa bei der Totalrehabilitierung Titos, oder sie stellte eine schlimme Mischung von Wahrheit und Erdichtetem dar, wie in der Geheimrede auf dem XX. Parteitag. Jede stellte eine mehr oder minder schroffe Wendung dar und eine Absage an bisherige elementare marxistisch-leninistische Grundsätze. Jede war ein Angriff auf das bisherige kommunistische Wertesystem. Durch jede wurde bisher für richtig Gehaltenes als falsch bzw. feindlich abgestempelt, und umgekehrt, bisher als falsch und feindlich Betrachtetes für richtig bzw. vertrauenswürdig erklärt.
Was damit – großenteils unmerklich – bewirkt wurde, war seinem Wesen nach eine Vertauschung von Freund- und Feindbild: die eigene Vergangenheit wurde schließlich zum Gegenstand des Abscheus, dem gegenüber es nur noch „unversöhnliche Abrechnung” geben kann; der imperialistische Todfeind der eigenen Sache und der Menschheit dagegen avancierte zum vertrauenswürdigen Partner beim Kampf um eine gerechte Weltordnung und den Weltfrieden und imperialistische Spitzenpolitiker zu Duz-Freunden des Führers der führenden kommunistischen Partei.
Was also ist der gemeinsame Wesenskern all der erwähnten und nicht erwähnten überraschenden Wendungen?
Sie alle waren Teil eines lang währenden Prozesses, in dem die kommunistische Identität der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Länder Stück für Stück bis zur Unkenntlichkeit abgebaut wurde, bis sie ihre Identität so weit verloren hatten, dass ihre Gegner sich ausrechnen konnten, sie durch eine Politik des „Wandels durch Annäherung” vollends aufweichen und vernichten zu können.
Dieser Prozeß war von der Chruschtschow-Mannschaft eingeleitet wurden. Er wurde nach Chruschtschow zwar gebremst, aber nicht gestoppt. Gorbatschow wurde als Produkt des ersten Schubs dieses Identitätswandels sein Fortführer und Beschleuniger bis zum folgerichtigen Abschluss: der Auflösung der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion und seinem Bekenntnis in dem berühmt-berüchtigten Spiegel-Interview: „Meine politischen Sympathien gehören der Sozialdemokratie und der Idee von einem Sozialstaat nach der Art der Bundesrepublik Deutschland.” /68/
Der Moskauer „Gesundungs-Beschluss” vom Mai und das Kommuniqué über den „Neuen Kurs” vom 9. Juni 1953 waren der erste Schritt auf diesem Wege, der 17. Juni 1953 das erste Warnzeichen, das Menetekel, das ankündigte, wohin man auf diesem Wege gelangen wird.
Es wurde nicht verstanden. Schlimmer noch: es wird auch heute noch mehrheitlich missverstanden, wie die meisten der diesjährigen Erinnerungsartikel bezeugen.
Was bleibt, ist die Frage: Woran lag es, dass die Kommunistische Bewegung nicht die inneren Kräfte fand, diesen Selbstvernichtungsprozess zu beenden und vom Irrweg des Revisionismus wieder auf den Weg von Marx, Engels und Lenin zurückzukehren?
Erst, wenn darauf die richtige Antwort gegeben wird, kann die kommunstische Bewegung wieder eine zukunftsgestaltende Kraft werden. /69/
Texterfassung nach Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, München (Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung)1997, S 47-69, Seitenende markiert durch Seitenzahl zwischen zwei Schrägstrichen / /.
Anmerkungen:
(1) Zuerst – ohne den Abschnitt IV – veröffentlicht in den „Marxistischen Blättern” 3/1993, S.77-83; danach ungekürzt im „Info-Blatt”, hgg. vom Redaktionskollegium beim Kreisvorstand der PDS Greifswald, Nr.41-44/1993.
(2) Peter Hübner: Die Flucht nach vorn in den „planmäßigen” Sozialismus. 2. Parteikonferenz der SED: der 17. Juni war vorprogrammiert. In: Berliner Zeitung vom 4./5. Juli 1992.
(3) Wilfriede Otto: Sowjetische Deutschlandnote 1952. Stalin und die DDR. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), Berlin, 3/1991, S. 374-389; diess.: Order aus Moskau ignoriert, Eigeninitiative bewiesen. In: Neues Deutschland (ND), Berlin, vom 11./12. 5. 1991; diess.: Antwort auf Bonner Ambitionen und Stalins Pokerspiel. In: ND vom 11./12. 7. 1992.
(4) Siehe Ernst Wurl: Entscheidung „gegen das Konzept Stalins”? In: BzG 6/1991, S. 767-770. – Auch meine eigenen Erfahrungen sprechen entschieden gegen die These von W. Otto. Etwa Anfang 1952 wurde ich von einem der sowjetischen Redakteure der „Täglichen Rundschau”, der von der SMAD herausgegebenen Tageszeitung, aufgefordert, einen ganzseitigen Artikel mit dem Thema „Über die Neue Ökonomische Politik (NÖP) in der Sowjetunion und in den Volksdemokratien” zu schreiben. Das Thema reizte mich, ich schrieb den Artikel, der die volle Zustimmung des sowjetischen Redakteurs fand, und am 6. Februar 1952 war er in der „Täglichen Rundschau” zu lesen. Er fand aber ein für mich völlig überraschendes Echo: ich wurde von der zuständigen Abteilung des Zentralkomitees der SED scharf gerügt, u.a. weil ich den Artikel mit folgender Betrachtung beendete: wir müssten uns beim Lernen von den sowjetischen Erfahrungen stets bewußt bleiben, „dass die DDR vom Sozialismus und vom unmittelbaren Übergang zum Sozialismus die Aufgabe trennt, auf deren Lösung alle Kräfte konzentriert werden müssen: der Kampf um die Einheit Deutschlands”. Dies sei, wurde mir vorgehalten, schlimmes Sektierertum, denn damit würde ich doch sagen, dass wir mit dem Aufbau des Sozialismus beginnen würden, sobald wir die Einheit Deutschlands erreicht hätten. Das könne man so nicht stehen lassen, es erfordere eine Berichtigung. 14 Tage später wollte man aber von einer Berichtigung nichts mehr wissen; die Situation habe sich geändert, wurde mir auf meine Frage geantwortet. Und wenige Zeit später berichtete die Presse über eine Rede Walter Ulbrichts, in der er verkündet hatte, mit der Stalinallee werde die erste sozialistische Straße gebaut und mit Stalinstadt – dem späteren Eisenhüttenstadt – die erste sozialistische Stadt in der DDR. Es dürfte – auch ohne dass darüber ein Dokument vorliegt – klar sein, dass eine solche Erklärung nicht ohne vorherige Absprache mit Karlshorst abgegeben wurde.
(5) Dazu: „Diskussion über das Buch: Veränderungen in der kapitalistischen Wirtschaft im Gefolge des zweiten Weltkrieges von E. Varga”, 1. Beiheft zur „Sowjetwissenschaft”, Berlin o. J. (1948), S. 43 ff, 86, 115 ff, 119 f; und Eugen Varga: Demokratie neuer Art, Berlin, o. J. (1948).
(6) Für Frieden und Volksdemokratie. Bericht über die Tätigkeit einiger kommunistischer Parteien, gehalten auf der Konferenz in Polen Ende September 1947, Berlin, o. J. (1947), S. 43. (Es handelte sich dabei um die Gründungskonferenz des Kommunistischen Informationsbüros, kurz Inform-Büro, in westlicher Diktion: Kominform.)
(7) Wilfriede Otto, s. Anm. 3.
(8) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (GdA), Chronik, Teil III, Berlin 1967, S. 339.
(9) Weltgeschichte in Daten, Berlin 1966, S. 984.
(10) Die Fälle Hamann und Dertinger waren Gegenstand der Verhandlung des Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien und Massenorganisationen vom 20. Januar 1953 (Zentrales Parteiarchiv der SED ZPA, NL 90/504, Bl. 6-53). SAPMO = Stiftung der Partei- und Massenorganisationen
der DDR.
(11) Zit. nach: GdA, Chronik III, S. 340 f.
(12) ZPA NL 90/473: „Die Sicherung der Durchführung des Fünfjahrplanes und der Aufbau der nationalen bewaffneten Streitkräfte in der Deutschen Demokratischen Republik”, Bl. 35-67. – Am 13. April 1953 richtete W. I. Tschuikow, Oberbefehlshaber der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und Vorsitzender der Sowjetischen Kontrollkommission, im Auftrag der Sowjetregierung ein Schreiben an das ZK der SED mit einer Auflistung der Erleichterungen, die der DDR gewährt werden. (Ebenda, Bl. 74-76)
(13) ZPA, J IV 2/2/258, Bl. 24-28.
(14) Am 10. Oktober 1949, 3 Tage nach Gründung der DDR, stellte die Sowjetische Militär-Administration (SMAD) ihre Tätigkeit ein. An ihre Stelle trat die Sowjetische Kontrollkommission (SKK); ihr Vorsitzender war wiederum W. I. Tschuikow, ihm zur Seite stand als politischer Berater W. S. Semjonow.
(15) Siehe das Schreiben der SKK: „Spravka (Nachfrage) über die Realisierung des von Gen. W. I. Tschuikow den Freunden übergebenen Memorandums zu Finanzfragen durch die deutschen Organe”, o. D. (Oktober 1952), in: ZPA, NL 90/316, Vl. 158-160.
(16) Siehe vor allem das Memorandum der SKK vom Februar 1953, ZPA NL 90/363, Bl. 46-49, und den Entwurf, der aufgrund dieses Memorandums verfassten „Verordnung zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und Versorgung der Bevölkerung” vom 19. Februar 1953, ebenda, Bl. 50-54.
(17) Memorandum der SKK, o. D. (etwa August 1952), ZPA NL 90/316, Bl. 116-119.
(18) Daher die in Anm. 15 erwähnte „Spravka”.
(19) Vorlage der Abteilung Transport und Verkehr des ZK der SED für das Politbüro vom 12. 2. 1953, ZPA NL 90/355, Bl. 66-72.
(20) Ebenda, Bl. 70.
(21) Für das Folgende siehe: Rolf Stöckigt, Ein Dokument von großer historischer Bedeutung, in: BzG 5/1990, S. 648-654. Es handelt sich dabei um das im Text besprochene Dokument, das den Titel trägt: „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik” (von mir „Gesundungs-Beschluss” genannt), beschlossen am 27. Mai 1953 vom Präsidium des Ministerrates der UdSSR (und nicht, wie Stöckigt irrigerweise annahm, vom Politbüro des ZK der KPdSU). – Elke Scherstjanoj, „Wollen wir den Sozialismus?”, Dokumente aus Sitzungen des Politbüros des ZK der SED am 6. Juni 1953, in: BzG 5/1991, S. 658-680. In dieser Dokumentation von Scherstjanoj findet sich die Richtigstellung der irrigen Angabe Stöckigts. – Rudolf Herrnstadt, Das Herrnstadt-Dokument, hrg. von Nadja Stulz-Herrnstadt, Hamburg 1990, S. 57-61.
(22) Es muss verwundern, dass noch keiner der ehemaligen DDR-Historiker, welche die Kritik des Inform-Büros am Kurs der KP Jugoslawiens vom Juni 1948 als unberechtigt und als unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten Jugoslawiens verurteilt haben, zu einer gleichen Verurteilung des weit über eine Kritik hinausgehenden sowjetischen Eingriffs gegenüber der Führung von DDR und SED Anlass gesehen hat.
(23) Siehe Herrnstadt-Dokument, S. 58. – Wenn sie – wie später auch die Mitglieder des Politbüros, denen das Dokument am 6. Juni 1953 zur Stellungnahme vorgelegt wurde – den sowjetischen Forderungen schließlich trotz großer Bedenken und innerer Vorbehalte zustimmten, dann hatte das verschiedene, z. T. auch sehr unterschiedliche Gründe. Abgesehen davon, dass die Umstände für eine Verweigerung gar keinen Raum ließen, muss man sich daran erinnern, dass zu dieser Zeit, so kurz nach dem Tode Stalins, die Führung der KPdSU noch über eine überragende, unbezweifelte Autorität verfügte als Führung der Partei, von der einfach keine fehlerhaften Beschlüsse kommen konnten. Kennzeichnend für diese Einstellung sind die ein geradezu selbstquälerisches Ringen bezeugenden Ausführungen Friedrich Eberts, des aus der SPD gekommenen damaligen Oberbürgermeisters von Berlin (Ost), in der Aussprache am 6. Juni 1953: „Wir haben … aus voller Überzeugung und mit großer Begeisterung hier die Beschlüsse vorbereitet und dann beschlossen, die das Ergebnis der II. Parteikonferenz geworden sind. … Und jetzt soll das alles falsch sein? Das erschien mir gestern und bis zum heutigen Morgen unfassbar. Man weigert sich, das zu glauben. Man fühlt einen tiefen Schmerz über die offenbar vorhandene politische Unzulänglichkeit des Einzelnen und des Ganzen. Und doch: Bei dem letzten Studium des Dokuments in den heutigen frühen Morgenstunden bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass jedes seiner Worte und das Gesamturteil richtig sind.” (Scherstjanoj, S. 675) – Bei anderen mag die Zustimmung dadurch erleichtert worden sein, dass man von dem Dokument den Anstoß zu einer von ihnen schon länger gewünschten Veränderung an der Spitze der Partei, vor allem die Verdrängung Walter Ulbrichts, erwarten konnte. (Siehe dazu ebenfalls Scherstjanoj, Dok. 2, 3. – Ferner W. Otto, Dokumente zur Auseinandersetzung in der SED 1953, in: BzG 5/1990, S. 655-672)
(24) Auf der II. Parteikonferenz war nicht vom „beschleunigten Aufbau des Sozialismus” gesprochen worden, sondern lediglich davon, „dass der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe geworden ist”, dass in der DDR „die Grundlagen des Sozialismus geschaffen werden”, und „dass in der DDR der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird”. (Siehe Protokoll der II. Parteikonferenz der SED, Berlin 1952, S. 58 f.) Siehe dazu auch Scherstjanoj, S. 663.
(25) Scherstjanoj, S. 659.
(26) Die Entwicklung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der DDR ist ein ebenso schlagender Beweis für die Unrichtigkeit dieser Feststellung des sowjetischen Dokuments wie die ruinöse Zersplitterung der polnischen Landwirtschaft als Folge der Anwendung eben des im sowjetischen Dokument genannten Rezeptes durch den im Oktober 1956 an die Spitze der Polnischen Partei gelangten W. Gomulka. Wie dort gefordert, löste Gomulka alle „unrentablen” Genossenschaften auf, wie dort gefordert, gab er jener Primitivform der Genossenschaften den Vorzug, bei denen die Produktionsmittel im Privatbesitz blieben. Das Ergebnis: die fast hundertprozentige Auflösung der bis dahin bestehenden Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und die Verwandlung Polens in das sozialistische Land mit der rückständigsten Landwirtschaft, und daraus resultierend, der labilsten wirtschaftlichen und politischen Ordnung.
(27) Herrnstadt-Dokument, S. 72-74.
(28) Die Frage kann mit unserem heutigen Wissen noch nicht beantwortet werden, aber was wir wissen, erlaubt, auf Fakten gestützte Vermutungen zu äußern. Wir wissen z.B., dass die nach Stalins Tod nach außen hin als Kollektiv auftretende neue sowjetische Führung in Wahrheit einen heftigen Machtkampf führte, aus dem Chruschtschow schließlich als allein übrig gebliebener Sieger hervorging. Er hatte – zunächst im Verein mit Malenkow und Molotow und Bulganin – den Chef der sowjetischen Staatssicherheit, L. P. Berija, ausschalten und erschießen lassen (Mitte oder Ende 1953, s. Herrnstadt-Dokument S. 59), danach – 1955 – Malenkow als Vorsitzenden des Ministerrates gestürzt, im Juni 1957 seine bereits durch Mehrheitsbeschluss des Präsidiums des ZK der KPdSU erfolgte Absetzung als 1. Sekretär durch eine mit Hilfe seiner getreuen Parteigänger Jekaterina Furzewa, 1. Sekretär der Moskauer Parteiorganisation, und Marschall Schukow, Verteidigungsminister, eilends einberufenen Sitzung des Zentralkomitees wieder aufheben lassen, diesen Sieg ausgenutzt, um seinen gefährlichsten Widersacher Molotow als „Parteifeind” aus der Partei ausschließen zu lassen, und schließlich 1957 auch den Nachfolger Malenkows als Vorsitzender des Ministerrates, Bulganin, von seinem Sessel gestoßen und sich selbst zu dessen Nachfolger gemacht, auf diese Weise wieder die Macht des Parteichefs und die des Regierungschefs in einer Hand vereinigend und damit das von Anfang an nur vorgetäuschte „Kollektive-Führung”-Intermezzo beendigend. Wir wissen ferner, was über die inhaltliche Substanz der Differenzen im Falle Berija mitgeteilt wurde: er sei als imperialistischer Agent entlarvt worden; er habe den Sozialismus in der DDR und überhaupt die DDR preisgeben wollen, und – man höre und staune: er habe die Beziehungen zu Jugoslawien normalisieren wollen! (Scherstjanoj, S. 660, Anm. 8). Scherstjanoj deutet die Unglaubwürdigkeit dieser gegen Berija erhobenen Beschuldigungen an, indem sie sie als „in der Tradition stalinistischer Anklageschriften stehend” bezeichnet. In der Tat ist es höchst merkwürdig, dass die Berija zugeschriebenen und verurteilten Bestrebungen mit seinem Tode keineswegs aus der Welt waren, sondern nun in Chruschtschow ihren energischsten Verfechter fanden, um schließlich durch Gorbatschow, der sich selbst mehrfach als Vollender der stecken gebliebenen Chruschtschow-Reformen zu erkennen gab, bis zur letzten Konsequenz geführt zu werden. Schließlich ist festzuhalten: Berijas Ankläger sind es, die uns das Undenkbare als Tatsache zu nehmen gezwungen haben, nämlich, dass sich in die höchste Spitze der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und des Sowjetstaates ein Agent des Imperialismus einschleichen und dort jahrzehntelang sein Unwesen treiben konnte. Nachdem dies Undenkbare auf diese Weise denkbar geworden ist, muss auch die Überlegung und die Frage erlaubt sein, ob es vielleicht nicht nur den einen imperialistischen Agenten in der Führung gegeben hat? Zumindest legen die sich nach Berijas Tod erst richtig häufenden Merkwürdigkeiten und Unerklärlichkeiten in der Politik der KPdSU und der Sowjetunion eine solche Überlegung nahe – ganz zu schweigen von Gorbatschow und dem Ergebnis seines von den Oberhäuptern der imperialistischen Führungsmächte mit soviel Sympathie und Unterstützung verfolgten Wirkens. Auf jeden Fall liegt hier noch Vieles im Dunkel und harrt dringend der Aufhellung.
(29) Die Chruschtschowsche Ledigsprechung Titos von allen Sünden war keineswegs nur eine bilaterale Angelegenheit; sie stellte vielmehr eine äußerst massive Nötigung aller Regierungen sozialistischer Länder dar, in denen es Verurteilungen wegen titoistischer Umtriebe gegeben hatte. Wenn Tito zu Unrecht beschuldigt worden war, dann konnte es auch nirgendwo strafwürdige titoistische Umtriebe gegeben haben, folglich mussten alle des Titoismus Beschuldigten rehabilitiert werden. Wer dazu nicht bereit war, wie die Albaner, den traf der Bannstrahl. Das blieb selbst noch dann so, als Chruschtschow sich gezwungen sah, seinen Sündenfreispruch zurückzunehmen und festzustellen, dass die jugoslawischen Revisionisten „Trojanische Pferde des Imperialismus” seien, und dass die Kritik des Informbüros an der KP Jugoslawiens von 1948 „im Wesentlichen richtig” war (im Juni 1958 auf dem Parteitag der Bulgarischen KP).
Anhang:
Rede von Max Reiman auf der 15. ZK-Tagung der SED, 24.-26. Juli 1953,
mit Kurt Gossweilers Vorwort vom August 2003
Vorwort
Der 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 erregte in diesem Sommer die Gemüter und zwang, Farbe zu bekennen. Nur die marxistisch-leninistische Analyse der KPD des 23. Parteitags (Erklärung zum 17. Juni 1953, veröffentlicht in den Parteitagsdokumenten, Teil II) ergab: der 17. Juni 1953 war ein erster Versuch der Konterrevolution in der DDR, gesteuert von den reaktionären Kreisen Westdeutschlands. Der konterrevolutionäre Putsch von 1953 ist gescheitert.
Im Jahre 1989 dagegen war die Konterrevolution erfolgreich und deshalb sehen die bürgerlichen Kreise in den Ereignissen vom 17. Juni 1953 den Vorboten ihres Erfolges von 1989. Kein Wunder, dass sie feiern.
Eine Konterrevolution hat bekanntlich nicht nur äußere Ursachen. Es ist normal, dass die Reaktion bestrebt ist, verlorenes Gebiet wieder einzunehmen, ihre Klassenposition zu verbessern im weltweiten Klassenkampf. Der Angriff erfolgt dort, wo der Klassengegner eine offene Flanke wittert.
Dieses Heft befaßt sich mit der „offenen Flanke”, den Falscheinschätzungen der SED und den Fehlern, die die sowjetische Führung, damals seit Jahrzehnten anerkanntes Führungszentrum der internationalen Arbeiterbewegung, zu verantworten hat.
Das Heft soll helfen, nicht nur Klarheit über historisches Geschehen zu gewinnen, sondern auch und vor allem Lehren für die Gegenwart zu ziehen, für die Aufgabe, die Arbeiterklasse zu befähigen, im eigenen Klasseninteresse zu denken und zu handeln.
Max Reimann fragt: „Haben wir … angesichts dieser ernsten politischen Situation unsere Aufgabe als Partei richtig erfaßt?”
Und er muß sagen, nein, denn wir haben den Schwerpunkt unserer ideologischen Arbeit auf die Diskussion der Fehler der SED gelegt, statt die Massen über die gefährlichen Pläne des Klassengegners aufzuklären! Das „demobilisiert die Arbeiterklasse und das Volk”. Diesen Vorwurf macht er auch der Informationspolitik der SED. Es sei unverantwortlich, was alles im ND stehe. Was solle angesichts dessen die KPD im Westen der Hetze gegen die DDR entgegenstellen?
Selbstverständlich muß über Fehler gesprochen werden, aber auf kommunistische Art, um die Sache des Sozialismus voranzubringen. Wenn die Fehlerdiskussion, die wir uns aufzwingen lassen, dahin führt, dass wir den Sozialismus in Frage stellen, dann dient das nur dem Gegner.
Besonders erbost war Max Reimann über die Erklärung der SED, das Lebensniveau des Volkes der DDR dem Lebensniveau im Westen Deutschlands anzupassen: „Eine solche Losung des Angleichens ist nicht nur marxistisch falsch, sie hat mit Politik überhaupt nichts mehr zu tun. Wir haben – ich denke mit vollem Recht – gesagt, dass die Deutsche Demokratische Republik ein Vorbild ist und ich bin der Meinung, dass sich daran nichts geändert hat.”
So klare Worte an die Adresse Modrows, Gysis und Lufts hätte man sich 1989 gewünscht!
Der Angriff, stellt Max Reimann fest, richtete sich nicht nur gegen die DDR, nicht nur gegen die SED als Ganzes. Er richtete sich auch unverkennbar gegen die Führung: Pieck, Ulbricht, Grotewohl.
Und auf der Tagung, siehe da, stellte sich heraus, in der SED-Führung gäbe es eine Plattform – das „behindert natürlich die Parteiführung, die Partei schnell und gründlich politisch richtig zu orientieren.”
Eine Plattform, die Ulbricht absetzen wollte und sich damit in Übereinstimmung mit dem grölenden Mob – „Der Spitzbart muß weg!”- und der Adenauer-Regierung befand, hat natürlich „dem Feinde die größte Arbeit geleistet…”
Max Reimann fordert, die Plattformer nicht nur aus der Führung der SED, sondern aus der SED zu entfernen.
Die Geschichte gibt ihm recht: Wider den Revisionismus !
Unter diesem Titel veröffentlichte Kurt Gossweiler 1997 eine Aufsatzsammlung aus sechs Jahrzehnten, ein Dokument seines Kampfes. Wir drucken hier die „Hintergründe des 17. Juni 1953” nach und verweisen besonders auf Absatz III. Hier wird dokumentiert, wie es zu einigen „Fehlern” kam.
Es zeigt sich, dass die inneren Ursachen der Konterrevolution, auch in Moskau lagen. Hier fuhr die neue Führung nach Stalins Tod einen „neuen Kurs”, den sie auch der SED aufzwingen wollte.
Und auch in Moskau war man der Meinung, Ulbricht müsse weg.
Über den Revisionismus Chruschtschows herrscht inzwischen wohl Klarheit. Nur heißt Klarheit noch lange nicht, dass der Revisionismus überwunden ist. Es ist leicht, sich von Chruschtschow zu distanzieren, seine Urteile z.B. zu den Fehlern der SED aber getreulich nachzubeten.
Die DKP-Erklärung zum 17. Juni 1953 vom 9. Mai 2003 enthält unter der Überschrift „Die Fehler und Irrtümer der DDR-Führung” folgenden Abschnitt:
„b) Die Arbeiter- und Bauern-Regierung und die SED, die sich als Partei der Arbeiterklasse gegründet hatte und verstand, hatten weitere fundamentale Fehler begangen. Im Protokoll der 15. Tagung des Zentralkomitees der SED nach dem 17. Juni hieß es in einem Diskussionsbeitrag u.a.: „In einem solchen Umfang haben wir noch nie die Stimme der Massen zu hören bekommen. Wir wissen, dass dies nicht immer leicht war oder dass diese Stimme keineswegs immer freundlich war. Die schändliche Missachtung der Sorgen und Nöte der Werktätigen durch die Partei-, Gewerkschafts- und Verwaltungsorgane, die unvorstellbaren Mängel in der Arbeitsorganisation, die schlimmen Auswüchse des Bürokratismus und die Scheu vor Verantwortung, die Fallstricke einer sturen Schematisierung, die Schönfärberei unserer Presse, die Langweiligkeit unseres Rundfunks, all dies wurde offenbar. Dabei zeigte sich, dass wir vielfach mit den besten parteilosen Menschen keinen Kontakt hatten und haben, dass wir uns nicht mit ihnen berieten.”
Es wäre schlimm, hätte der anonyme Diskussionsredner recht. Aber: Dieser Diskussionsbeitrag ist nicht im Protokoll der 15. Tagung enthalten. Wir wissen jetzt ja auch von dem Kampf innerhalb der SED und müssen deshalb diesen Diskussionsbeitrag so werten, wie er gemeint war: Er sollte die Ablösung der Führung befördern, der man deshalb größt möglichs Versagen vorwarf.
Der Ton der Rede, wie sollte es anders sein, ist der Ton von 1989. Es wird unterstellt, die sozialistische Politik wird gegen die Massen durchgedrückt, die Sorgen und Nöte der Werktätigen werden missachtet, unvorstellbare Mängel, schlimme Auswüchse…
Die DKP-Führung ist scheinbar der gleichen Meinung, denn sie schafft es nicht, die SED die Partei der Arbeiterklasse zu nennen. Sie sagt nur, „die SED, die sich als Partei der Arbeiterklasse …verstand”.
Max Reimann, der Vorsitzende der KPD und spätere Ehrenvorsitzende der DKP, kam zu einer völlig anderen Einschätzung.
Es hätte der DKP-Führung besser zu Gesicht gestanden, in ihrer Erklärung des Sekretariats anstelle eines anonymen Redebeitrages von der 15. Tagung des ZK der SED im Juli 1953 die Rede des verstorbenen Ehrenvorsitzenden der DKP, damals Vorsitzender der KPD, Max Reimann, zu veröffentlichen. Wir tun es.
Es ist der Revisionismus, der immer wieder vergisst, dass der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit geführt wird, der sich mit Eifer auf Fehler oder angebliche Fehler der marxistisch-leninistischen Parteien stürzt, Erfolge mit der Begründung in Frage stellt, es seien aber doch Fehler unterlaufen. Der Revisionismus vergisst, die Klassenfrage zu stellen und weicht damit in einer Grundsatzfrage vom wissenschaftlichen Sozialismus ab.
Es ist ganz erstaunlich, mit welcher Treffsicherheit und mit welcher Entschiedenheit Max Reimann in seinem Beitrag erkannte und beim Namen nannte, was an der „Wende zum neuen Kurs” der SED im Widerspruch stand zu allen Erfahrungen und Lehren kommunistischer Massenpolitik. Er hat – sicherlich ohne es zu wissen – damit ein vernichtendes Urteil über jene gesprochen, die damals die SED-Führung gegen ihren Willen gezwungen haben, einen solchen geradezu selbstmörderischen Kurs zu steuern. Dass dieser Kurs von der nach Stalins Tod gebildeten neuen Führung in Moskau diktiert worden ist – das ist schon in vielen Veröffentlichungen festgestellt worden……………
Max Reimann: Rede auf der 15. ZK-Tagung der SED, 24. – 26. Juli, 1953
Genossen!
Haben wir – ich stelle diese Frage vor dem Zentralkomitee – angesichts dieser ernsten politischen Situation unsere Aufgabe als Partei richtig erfasst? Ich sage offen heraus, nein, das haben wir nicht. Kannten wir etwa nicht die Pläne der USA-Imperialisten und ihrer Ableger in Bonn? Natürlich kannten wir sie! Wussten wir nichts von den Vorbereitungen auf den Tag X? Natürlich wussten wir davon! Wussten wir nicht, was die Kriegsverträge von Bonn und Paris bedeuten? Natürlich, wir haben oft genug darüber gesprochen. Kannten wir nicht die Drahtzieher und ihre Marionetten vom Ostbüro, von den Bonner Parteien, vom Schlage eines Hildebrandt, Tillich, eines Wehner und des Trotzkisten Brand? Alles dies haben wir gekannt. Was taten wir, um unaufhörlich die Arbeiterklasse und alle friedliebenden Menschen zu stärken in ihrer Abwehrbereitschaft gegenüber den Kriegsprovokateuren? Statt das Hauptgewicht zu legen auf die Aufklärung der Massen über die politischen Hintergründe und die Absichten der Kriegsprovokateure stellten wir in diesen entscheidendsten Tagen an die Spitze unserer Betrachtungen die Fehler der SED. Mir scheint, Genossinnen und Genossen, indes wir dies taten, machten wir erst unseren größten und entscheidenden Fehler.
Wenn der Feind nach einem ausgeklügelten Provokationsplan arbeitet, mit dem er die Verständigung der Deutschen untereinander und die Verständigung der Großmächte unmöglich machen will, wenn der Feind, wenn die USA-Kriegstreiber mit ihren Provokationsabsichten selbst in England und Frankreich die sich durchringenden Kräfte der Verständigung erpressen und erniedrigen will, dann kann man doch nicht unsere erste Aufgabe darin sehen, vor die Öffentlichkeit zu treten und unsere Fehler, die Fehler der Sozialistischen Einheitspartei und der Regierung der DDR zum Hauptdiskussionspunkt in Presse und Rundfunk und in den Versammlungen zu machen. Was sollte denn dabei herauskommen? Das könnte doch nur das Bild verschieben, die Arbeiter und das Volk demobilisieren gegenüber dem Hauptfeind des deutschen Volkes, den amerikanischen und deutschen Imperialisten.
Es wurde doch nur die Politik der SED und der Regierung der DDR verzerrt, in ein falsches Licht gerückt, denn in Wirklichkeit war die Politik der Partei doch immer gerichtet auf die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands, auf die Verständigung der Deutschen, auf die Verständigung der 4 Großmächte zur friedlichen Beilegung der deutschen Frage und auf die Hebung des Wohlstandes der Arbeiter, der Werktätigen in der DDR.
Indem wir an die Spitze der neuen Maßnahmen zur beschleunigten Wiederherstellung der Einheit Deutschlands unsere Fehler stellten, gaben wir doch erst den Provokateuren die Möglichkeit, die Arbeiter zu verwirren und sie zu Handlungen zu bewegen, die sie nicht wollten, und die sich gegen sie selbst richteten. Zudem haben wir dadurch erhebliche Teile unserer Partei, der SED, und der übrigen Arbeiter in Westdeutschland verwirrt, was die Adenauer-Regierung und die Leute vom Schlage eines Wehner und eines Brand vorübergehend ausnutzen konnten.
Genossen! Kritik und Selbstkritik sind selbstverständlich ein hohes Gesetz für jede marxistisch-leninistische Partei, und es ist keine Frage, wenn Fehler gemacht werden, muss man darüber offen sprechen, die Ursachen analysieren und Beschlüsse fassen, um gemachte Fehler zu revidieren. Aber Kritik und Selbstkritik vollziehen sich doch nicht im luftleeren Raum. Das Ziel ist doch, die Partei und damit die Massen zu erziehen. Was sich aber am 17. Juni und in den folgenden Tagen zeigte, das diente nicht der Erziehung unserer Partei und der Massen, sondern der Verwirrung.
In den Tagen nach dem 17. Juni war der Genosse Geitner vom Sekretariat unserer Partei in Berlin und sprach mit dem Genossen Walter Ulbricht. Genosse Ulbricht sagte dem Genossen Geitner: Wenn du zurückkommst, sage dem Max, dass in Westdeutschland nicht soviel von Fehlern in der SED und der Regierung gesprochen wird. Nun, Genossen, wir haben das sowieso nicht getan, denn das taten zur Genüge unsere Gegner, die spaltenlang das „Neue Deutschland” zitierten und das Staatliche Rundfunkkomitee der DDR, das offenbar in diesen Tagen seine Hauptaufgabe darin erblickte, in allen Sendungen von den Fehlern der Regierung und den eigenen Fehlern zu sprechen, was soweit ging, dass die sonst gern gehörten Kommentatoren Geßner und Schnitzler sich der Schönfärberei und der Lüge bezichtigten. So konnte es gar nicht ausbleiben, und wir merkten das von Tag zu Tag in Westdeutschland, dass der Gegner in die Offensive kam und erhebliche Teile der Mitgliedschaft der KPD verwirrt waren, dass sie nicht gleich richtig und einheitlich auf diese gegnerische Offensive reagierten. Es trat auch in der Bevölkerung und vor allem selbst unter den Arbeitern ein hohes Maß von Verwirrung ein. Bei den meisten von ihnen gab es zwar keinen Zweifel darüber, dass die amerikanischen Kriegstreiber und Adenauer bei den Ereignissen des 17. Juni die Finger im Spiel hatten, doch diese richtige Erkenntnis von den Massen wurde durch die Tatsache überschattet, dass die offiziellen Äußerungen, wie sie ihnen zumindest aus dem Rundfunk bekannt wurde, die Auffassung nährten, dass das, was sich in der DDR abspielte, doch im hohen Maße das Ergebnis der falschen Politik der SED wäre.
Trotz dieser Tatsache hatten Adenauer und die rechten SPD-Führer in Westdeutschland nicht den gewünschten Erfolg. Sie versuchten zwar, die Lage auszunutzen, um eine Pogromstimmung gegen die KPD zu schaffen, aber sie kamen dabei bei den Massen nicht durch. Der angeordnete 5-Minuten-Gedenkstreik für die sogenannten Opfer wurde in den meisten Fällen in den Betrieben nicht durchgeführt. Das trifft ganz besonders auf die Arbeiter in der Schwerindustrie zu. Aber selbst da, wo der Streik durchgeführt wurde, gab es heftige Diskussionen, in denen gleichfalls zum Ausdruck kam, dass viele Arbeiter die Dinge klassenmäßig sahen und ihre Zweifel darüber zum Ausdruck brachten, ob es richtig sei, zu streiken, wenn die Adenauer und Euler und die Deutschen Monopolherren von Rhein und Ruhr hierzu aufriefen.
Viele Arbeiter und Angestellte weigerten sich auch, Geld für die sogenannten Opfer zu sammeln, bzw. herzugeben. Es gibt eine ganze Reihe Belegschaftsbeschlüsse, die sich hiergegen aussprechen. In einem so bedeutsamen Betrieb wie dem Stahlwerk Hagen-Haspe haben auch die sozialdemokratischen Betriebsräte gemeinsam mit unseren Genossen es abgelehnt, die Geldsammlung im Betrieb durchzuführen. Daraufhin wurde der Betriebsrat von der Arbeitsdirektion in Verbindung mit den rechten DGB-Führern praktisch aufgelöst, so dass Neuwahlen in diesem Betrieb durchgeführt werden.
Ich erinnere Euch an den Verlauf der Essener Betriebsräte-Konferenz, wo die rechten DGB-Führer es nicht wagten, den Arbeitern ihren Betriebsrat aufzuzwingen.
Auch das patriotische Bürgertum hat schnell erkannt, dass es sich bei den Ereignissen des 17. Juni um eine großangelegte Provokation der Amerikaner als Hilfe für die Adenauer-Regierung handelt. Aber es hieße blind sein, wollte man übersehen, dass auch in diesen Kreisen sich eine pessimistische Stimmung entwickelte, die der Gegner geschickt ausnutzt, um viele ehrliche Menschen daran zu hindern, das ganze Ausmaß der Provokation der Adenauer-Regierung zu erkennen.
Die sozialdemokratischen Führer nahmen den 17. Juni zum Anlass, um, wie sie sagen, die „KPD aufzurollen”. Dabei bedienten sie sich vor allem der Lüge von den hungernden Massen in der DDR, traten auf als diejenigen, die die Not lindern wollten, versuchten ihre eigenen Anhänger von der Lage in Westdeutschland abzulenken und schickten in diesen Tagen ihre Haupthetzer, die Agenten und Provokateure vom Schlage Wehner und Brand vor, aber auch hier muss ich feststellen, nicht mit dem von ihnen gewünschten Erfolg. Im Gegenteil, diese gesteigerte Hetze hatte im zunehmenden Maße die Wirkung, dass viele sozialdemokratische Mitglieder und Funktionäre an ihre Führung durch Entschließungen aus Mitgliederversammlungen und Funktionärkonferenzen die Forderung erhoben, endlich Schluss zu machen mit der Hetze gegen die DDR, und die Kommunisten. Die sozialdemokratischen Mitglieder erkennen immer mehr, dass die Politik der Adenauer-Regierung die Provokationen, die Kriegshetze, das organisierte Auftreten von faschistischen Gruppen der SS und von Soldatenverbänden, sich keineswegs nur gegen die DDR und die KPD richten, sondern, dass sich dieser Terror auch selbst gegen die sozialdemokratische Parteimitgliedschaft richtet. Dieser Tatsache ist es zuzuschreiben, dass die Forderung nach einer Viermächtekonferenz von den sozialdemokratischen Mitgliedern immer stärker erhoben wird, und warum die SPD-Führer gezwungen sind, diese Forderung immer wieder zu erwägen.
Ja, noch mehr, die sozialdemokratischen Mitglieder durchschauen die Hilfestellung, die die USA-Imperialisten der Adenauer-Regierung gegeben haben und lehnen darum das Manöver mit den angeblichen Hilfssendungen für die DDR ab, die sie offen als Wahlspeck für die Adenauer-Regierung charakterisieren.
Unsere Forderung, den Wahlkampf gemeinsam gegen Adenauer zu führen, hat in der SPD ein breites Echo gefunden, was in einer wachsenden Zahl gemeinsamer Versammlungen, im gemeinsamen Vorgehen in den Gemeinden und Stadtvertretungen und im gemeinsamen Schutz von Kundgebungen und Veranstaltungen zum Ausdruck kommt. Dabei ist eine Betrachtung der sozialdemokratischen Mitglieder und Funktionäre die, dass, wenn Adenauer die Kommunisten aus dem Bundestag ausschalten will, dies selbst eine Schwäche der Position der SPD bedeutet. Dies sprechen sogar leitende sozialdemokratische Funktionäre offen aus.
Aber, Genossen, seid Euch darüber klar, dass die Ereignisse des 17. Juni für unsere Partei, für die KPD, ihre Auswirkungen haben. Wir versuchen zunächst, volle Klarheit in der Partei zu schaffen und die Verwirrung zu beheben, die vor allem in solchen Bemerkungen von Mitgliedern und Funktionären der Partei zum Ausdruck kam, wie die: Seht Ihr, wir haben recht gehabt, als wir schon immer sagten, die SED prallt zu weit vor mit ihrer Politik, wie es die Opportunisten sagten, oder: Wir haben schon immer gesagt, dass der Aufbau des Sozialismus die Menschen Westdeutschlands vor den Kopf stößt und die Sektierer sagen: Jetzt wird der Sozialismus preisgegeben.
Die Sektierer und Opportunisten zusammen stellen die Frage der Fehler in den Vordergrund, und sie wurden auch hierbei durch das begünstigt, was sie aus dem demokratischen Rundfunk hörten, bzw. sie gaben der Hetze der Gegner nach.
Indem ich dies betone, kann ich aber zugleich erklären, dass die Partei sich im großen und ganzen schnell wieder gefangen hat und nun eine feste Orientierung besonders im Hinblick auf die Führung des Wahlkampfes hat, und dass die Durchführung der Parteivorstandssitzung und das angenommene Wahlprogramm, das Bauernhilfsprogramm, das Programm für den Mittelstand, für die Frauen und für die Jugend der Partei und den Massen eine klare Orientierung über die Absichten und die Politik der KPD geben.
Die heutige ZK-Tagung, besonders die Rede des Genossen Grotewohl, wird in unserer Partei und in der Bevölkerung Westdeutschlands Klarheit über den neuen Kurs schaffen, den die Regierung der DDR und die SED hier gehen werden. Ich schlage darum vor, dass das Manuskript dieser Rede zu uns geschickt wird, damit wir die Rede in einer sehr hohen Auflage in Westdeutschland verbreiten können.
Genossinnen und Genossen! Ich muss Euch noch auf die Wirkung einer Frage aufmerksam machen, die anscheinend von Euch weder beachtet noch ermessen wurde. Es handelt sich um die Formulierung im Zentralorgan der SED, dass durch den neuen Kurs die Lage der Werktätigen in der DDR dem Lebensniveau der Bevölkerung Westdeutschlands angepasst werden soll. Ich kann Euch sagen, das hat in Westdeutschland kein Werktätiger verstanden. Bekanntlich wird die Lage der Werktätigen in Westdeutschland dadurch charakterisiert, dass der größte Teil von ihnen unter dem Existenzminimum lebt, dass 1,5 Millionen erwerbslos sind, dass mehr als 2 Millionen in Kurzarbeit stehen, dass Rentner und Witwen, insgesamt 8 Millionen Menschen, ein Hungerdasein ohnegleichen führen.
Stellt Euch vor, wenn diese Menschen aus offiziellem Munde der SED – und das Zentralorgan und der Rundfunk in der DDR sind nun einmal das offizielle Organ – hören, dass das Ziel der DDR sei, die Lebenslage der werktätigen Menschen den Lebensverhältnissen in Westdeutschland anzugleichen.
Was sollen sich diese Millionen Menschen eigentlich denken? Begreift Ihr nicht, dass man so auch die Politik der SED und der KPD vor den Massen diskreditiert? Der Genosse Herrnstadt sieht mich so groß an. Wahrscheinlich weißt Du, Genosse Herrnstadt, heute selbst nicht, was alles in diesen Tagen im Zentralorgan gestanden hat. In Westdeutschland führen die Massen einen erbitterten Kampf um 5 Pfennig Lohnerhöhung.
Wochenlang wird bei den Textil- und Hafenarbeitern erbittert gekämpft bis zum Zusammenstoß mit der Polizei. In allen Industriezweigen haben die Arbeiter und Angestellten durchgesetzt, dass die Tarife gekündigt werden. Auf der am Wochenende stattgefundenen Konferenz der Bergarbeiter Westdeutschlands wurde eine Lohnforderung von 2.50 bis 3.00 Mark pro Schicht gestellt. 650.000 Jugendliche, die aus der Schule entlassen sind, wissen überhaupt nicht, wie sie in den Arbeitsprozess gelangen sollen. Die Bauern müssen ihr Gemüse unterpflügen, weil sie durch ausländische Zwangseinfuhren in ihrer Existenz erdrosselt werden.
Wenn man schon die Frage des Angleichens stellt, so bin ich der Meinung, ist das unsere erste Aufgabe, zu zeigen, welche Fragen die DDR bereits gelöst hat, welche Erfolge die DDR hat, dass es hier keine Arbeitslosigkeit gibt, dass eine krisenhafte Entwicklung in der DDR in hohem Maße ausgeschlossen ist, dass Schwierigkeiten, wenn sie wirklich auftreten, wie das der Fall war, behoben werden können, dass in der DDR nicht die Ausbeuter das Zepter führen, nicht ihren Herr-im-Hause-Standpunkt in den Betrieben durchsetzen können, dass in der DDR zum Glück und Segen des ganzen deutschen Volkes und der Völker Europas der Militarismus und Faschismus aufs Haupt geschlagen ist, und wo er mit Hilfe der Adenauer-Regierung neu organisiert wird, auf eine eiserne Faust stößt.
Also, ein Gerede vom Angleichen ist doch eine Irreführung der Massen in Westdeutschland und nicht minder eine Irreführung der werktätigen Massen in der Deutschen Demokratischen Republik, die sich auf solche Weise eine falsche Vorstellung über das Leben der Massen in Westdeutschland machen müssen. Eine solche Losung des Angleichens ist nicht nur marxistisch falsch, sie hat mit Politik überhaupt nichts mehr zu tun. Wir haben – ich denke mit vollem Recht – gesagt, dass die Deutsche Demokratische Republik ein Vorbild ist und ich bin der Meinung, dass sich daran nichts geändert hat.
Im Gegenteil, die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der DDR, die nach den Prinzipien des Potsdamer Abkommens entwickelt wurden, sind die wesentlichsten Grundlagen für die Wiedervereinigung Deutschlands, für die Sicherung des Friedens in Europa. Sie sind die Basis für den erfolgreichen Kampf unseres ganzen Volkes, für einen gerechten Friedensvertrag, der unserem Volk seine Einheit, seine Demokratie und Unabhängigkeit garantiert. Man darf doch nicht außer acht lassen, dass die gemachten Fehler nicht das Entscheidende sind, sondern das Erreichte, das Geschaffene, denn allein dies garantiert auch die Durchführung des neuen Kurses, auf die schnellere Herbeiführung gesamtdeutscher Beratungen und einen Friedensvertrag.
Ich will Euch noch auf eine weitere Frage aufmerksam machen. Die Entschließung des Politbüros vom 9. und 11. Juni traf unsere Genossen wie ein Blitz aus heiterem Himmel und mich selbst auch.
Meines Wissens war das auch der Fall in der SED.
Unsere Genossen erkennen natürlich richtig, dass dieser Beschluss den Kampf der Patrioten in Westdeutschland für den Sturz der Adenauer-Regierung mächtig beflügeln wird. Auch in der übrigen Bevölkerung Westdeutschlands bewirkte dieser Beschluss ein Aufatmen, da die Bevölkerung angesichts der Adenauer-Politik in einer beständigen Kriegsfurcht lebt. Aber was in der Bevölkerung und vor allem in der Partei nicht verstanden wurde, das war die Tatsache, dass man vor einem Jahr auf der Parteikonferenz die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus beschlos, während dann faktisch dieser Beschluss durch ein Dekret des Politbüros und der Regierung annulliert wird. So wurde das jedenfalls in Presse und Rundfunk kommentiert.
Genossen! Natürlich muss und wird es Direktiven geben. Das kann nie anders sein. Aber, Genossen – und ich möchte meine Bitte hier an das Politbüro richten -, zu glauben, dass man mit einer Direktive eine Politik um 180 Grad herumschmeißen kann, das ist doch nichts anderes als ein äußerst gewagtes Spiel, das um so gefährlicher ist, da es jedes einzelne Parteimitglied trifft, unvorbereitet, ohne ideologische Grundlage, und der Parteiorganisation einfach den Boden unter den Füßen wegnimmt.
Was soll denn dabei herauskommen?
Ich sage Euch das, Genossen. Dabei ist in vielen Fällen im Bewusstsein einfacher Menschen herausgekommen, dass der Sozialismus eine schlechte Sache ist, dass der Aufbau des Sozialismus falsch ist. Unsere Gegner machten das zu einer ihrer Hauptthesen in der Hetze gegen die Kräfte des Fortschritts und des Sozialismus. Die ganze Adenauer-Presse und die Presse der Wallstreet stellten triumphierend fest, dass durch den Beschluss des Politbüros der SED erwiesen sei, dass der Sozialismus bankrott macht, dass die ganze Wissenschaft des Marxismus-Leninismus in eine Sackgasse geführt habe und zum Untergang verurteilt sei.
Dass das die Kapitalisten sagen, ist ja nichts Neues. Neu ist nur, dass sie es sagen konnten, ohne auf den direkten massiven Widerstand von uns zu stoßen. Neu ist ferner, dass sie sich dabei auf solche Erscheinungen in der Republik stützten, die sich als wirkliche Fehler erwiesen haben und über die man natürlich offen diskutieren muss.
Meiner Meinung nach ist der Beschluss über die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR richtig. Eine andere Frage ist allerdings die des Tempos. Die Sicherung des Aufbaus der Schwerindustrie bei gleichzeitiger Entwicklung der Bedarfsgüterindustrie, die schädlichen Methoden des Kommandierens, des Administrierens, statt der Überzeugung, der ungenügende Kampf gegen den Bürokratismus, das Vorwärtsdrängen ohne Rücksicht darauf, ob die Massen mitkommen, wie sich ihre Stimmung entwickelt usw.. Aber alle diese ernsten Fragen dürfen doch nicht so gestellt werden, dass dabei eine Diskreditierung des Sozialismus herauskommt. Denn das erleichterte der Ausbeuterklasse, den Monopolisten und den Kriegstreibern allzusehr ihr verlogenes Spiel.
In den Tagen nach dem 17. Juni legte ich mir in Westdeutschland die Frage vor, als ich das „Neues Deutschland” bekam und den Rundfunk abhörte: Ist denn dort in Berlin niemand, der mit eiserner Faust auf den Tisch schlägt, um eine solche Schreibweise im Zentralorgan und solche Sendungen im Rundfunk zu unterbinden? – Nun, Genossen, nach den Reden der Genossen Grotewohl und Ulbricht ist mir sehr vieles klar geworden. Es ist mir klar geworden, dass in einer solchen entscheidenden Situation, wo der Gegner solche Provokationen durchführt, um das deutsche Volk in den Bruderkrieg zu führen, um ein zweites Korea in Europa zu veranstalten, im Politbüro scharfe Differenzen vorhanden sind, und – wie der Genosse Walter Ulbricht sagte – eine Gruppierung mit einer eigenen Plattform besteht. Eine solche Lage behindert natürlich die Parteiführung, die Partei schnell und gründlich politisch richtig zu orientieren. Ich bin der Meinung, dass Genossen in der Parteiführung, die sich in solchen Situationen zusammenschließen und eine Plattform erarbeiten, die selbst gegen die Führung so vorgehen, wie der Genosse Ulbricht gestern sagte, dass er abgesetzt werden sollte, dem Feinde die größte Arbeit geleistet haben. (Zurufe: Sehr richtig!)
Schlagt doch einmal die Zeitungen in Westdeutschland auf! Wogegen richtet sich denn der Stoß Adenauers, Ollenhauers und der Amerikaner? Er richtet sich ja nicht nur gegen die DDR und die SED im allgemeinen, sondern er richtet sich gegen die Führung, gegen die entscheidensten Kräfte in der Führung, gegen Pieck, Grotewohl und Ulbricht und ihr seid dazu übergegangen und habt diese Frage im Politbüro gestellt. Ihr habt damit dem Feind Vorschub geleistet, habt die Kraft der Partei in der politischen Aktivität unterbunden.
Ich frage mich auf Grund einer solchen Situation, ob der Vorschlag der hier gemacht wird, ausreicht, dass diese Genossen nur aus dem Politbüro herausgenommen werden. Eine Gruppierung mit einer Plattform, die in einer solchen entscheidenden Situation so aufgetreten ist, gehört weder in die Führung noch in die Partei. Ich glaube, das muss heute hier im Zentralkomitee entschieden werden. (Sehr richtig! Beifall!)
Genossen! Die Probleme, um die es auf dieser ZK-Tagung geht, sind für unseren eigenen Kampf in Westdeutschland von allergrößter Bedeutung. Die vom Politbüro der Partei und vom Zentralkomitee gefassten und auch heute umfassenden Beschlüsse sind von allergrößter Bedeutung auch für unsere Partei. Ihr seid die höchste Autorität der deutschen Arbeiterklasse. Ihr seid nicht nur das Zentralkomitee der SED, sondern Ihr seid die Führung auch unserer Partei. Eine richtige Entscheidung kann nur nach ausreichender, prinzipienfester Diskussion gefällt werden und kann und darf nur eine kollektive Entscheidung nach guter, gründlicher Diskussion sein.
Mit vollem Recht habt Ihr wiederholt unsere Fehler in der Politik der KPD kritisiert. Hierfür waren wir Euch dankbar. Alle Mitglieder und Funktionäre der KPD besitzen zu Euch das größte, unerschütterliche Vertrauen. Wir wissen, dass Eure Beschlüsse, dass all Eure Hinweise an uns der gemeinsamen Sache, dem historischen Kampf der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes für die Wiederherstellung der Einheit unserer Nation und der Sicherung des Friedens dienen. In diesem Kampf ist die Partei die führende Kraft. An ihrer Geschlossenheit, an ihrer ideologischen Klarheit, an ihrer richtigen Massenpolitik scheitern die Kriegspläne der Provokateure.
Fest verbunden mit der großen unbesiegbaren Sowjetunion, den Ländern der Volksdemokratie, des gesamten Weltfriedenslagers sind wir auch bei vorübergehenden Schwierigkeiten die siegreiche, vorwärtsstürmende Kraft.
Nehmt die Versicherung aller Genossen der KPD hin, dass wir alle Kräfte einsetzen, um am 5. September der Adenauer-Regierung eine ernste Niederlage zu bereiten und dass wir diese Niederlage vorbereiten durch die Verstärkung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse, in der Politik der Sammlung aller Adenauer-Gegner, um ein neues Kräfteverhältnis im kommenden Bundestag herzustellen, damit von Bonn aus ebenso wie von Berlin die Politik der friedlichen Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Demokratie schnell zum Siege geführt wird!
(Beifall)
Aus: Max Reimann, Kurt Gossweiler, Gerhard Feldbauer, „Der Versuch eines konterrevolutionären Putsches 1953 in der DDR” – Schriftenreihe für marxistisch-leninistische Bildung der KPD Heft 121 – August 2003 – (Das Heft enthält von Kurt Gossweiler den vorstehenden Aufsatz „Hintergründe des 17. Juni 1953” und von Gerhard Feldbauer den Abschnitt „3. Deutsche Kommunisten und Sozialisten nach der Niederlage von 1989/90” aus seinem Aufsatz „Zum Opportunismus in der kommunistischen und sozialistischen Bewegung Italiens – Von den Anfängen bis in die Gegenwart – Erfahrungen für deutsche Kommunisten und Sozialisten”, erschienen in „offensiv – Zeitschrift für Sozialismus und Frieden Heft 7/2003, Im Internet unter: http://www.offen-siv.com/2003/03-07.htm )
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