Montag, 29. April 2013
EU-Rüstungsexporte: Unerwünschte Debatte
IMI-Analyse 2013/15 - in: junge Welt, 27.04.2013
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 29. April 2013
Politik und Rüstungsindustrie intensivieren den Waffenexport. Die Diskussion um bessere EU-Ausfuhrkontrollen konnte in Brüssel durch Abwesenheit von Ausschußmitgliedern sowie geschickte Änderungsanträge verhindert werden
Am Donnerstag vor einer Woche konnte der Panzerbauer Krauss-Maffei Wegmann mit einer »Erfolgsmeldung« aufwarten: Der Vertrag zum Verkauf von 62 Kampfpanzern »Leopard 2«, 24 »Panzerhaubitzen 2000« und vieles mehr an das Emirat Katar – Gesamtumfang 1,89 Milliarden Euro – sei unter Dach und Fach. Augenscheinlich sind die »restriktiven« deutschen Rüstungsexportrichtlinien löchrig wie ein Fischernetz – und genauso verhält es sich auch mit ihrem Pendant auf europäischer Ebene. So erteilten die EU-Staaten im Jahr 2011 Exportlizenzen im Umfang von 37,52 Milliarden Euro (2010: 37,72 Euro), allein 21,3 Prozent davon für die Lieferungen in den Mittleren Osten und damit in eine der brisantesten Krisenregionen der Welt.
Alle Versuche, mit einem rechtsverbindlichen EU-Rüstungsexportkontrollsystem, dem »Gemeinsamen Standpunkt«, die Waffenausfuhren in Konfliktregionen oder in Länder, in denen die Menschenrechte massiv verletzt werden, zu verhindern (oder wenigstens zu begrenzen), sind bislang kläglich gescheitert. Verantwortlich hierfür sind zahlreiche Schwächen des »Gemeinsamen Standpunktes«, die ein permanentes Unterlaufen der dem Wortlaut nach eigentlich recht eng gefaßten Exportkriterien ermöglichen. So werden munter weiter Waffen in alle Welt transferiert.
Mit diesen Mängeln beschäftigt sich der Berichtsentwurf des Europäischen Parlamentes »Waffenausfuhr: Umsetzung des Gemeinsamen Standpunkts des Rates«.1 In ihm wurde nicht nur dargestellt, weshalb die europäischen Exportrichtlinien so untauglich sind. Gleichzeitig wurden auch die hierfür verantwortlichen EU-Staaten dazu aufgefordert, endlich für ein wenigstens halbwegs funktionierendes Kontrollsystem zu sorgen. Verfaßt wurde der Bericht von der Europaabgeordneten Sabine Lösing, Mitglied der Linksfraktion GUE/NGL, wobei dies erst nach Auseinandersetzungen möglich war, zumal die GUE/NGL nur maximal einmal pro Legislaturperiode hierzu die Möglichkeit hat.
Taktischer Winkelzug der EVP
Bevor ein solcher Report vom Europäischen Parlament debattiert und verabschiedet werden kann, muß er allerdings erst noch die zuständigen Ausschüsse passieren. Im Vorfeld waren mit den Fraktionen der Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen Kompromisse erzielt worden, die den Bericht nicht in einem Maße verwässert hätten, daß er inakzeptabel gewesen wäre. Indem aber nach all diesen Verhandlungen aus den genannten Fraktionen am vergangenen Dienstag nur etwa die Hälfte der Abgeordneten bei der Abstimmung im Auswärtigen Ausschuß (AFET) anwesend war, spielten die Parlamentarier – bewußt oder unbewußt – der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) in die Hände. Diese nutzte nämlich ihre unverhofft zustande gekommene Mehrheit im Ausschuß dazu, um den Bericht und damit faktisch auch jegliche Debatte über das Thema unmöglich zu machen.
Hierfür drückten sie in einem ersten Schritt alle ihre Änderungsanträge durch und verfälschten damit die Grundaussagen in einem Maße, daß die Berichterstatterin Sabine Lösing sich gezwungen sah, ihren Namen zurückzuziehen. Anschließend stimmten die Konservativen dann auch noch gegen den nun von ihnen zu verantwortenden Bericht. Hierbei handelte es sich um einen völlig ungewöhnlichen Vorgang, wie Lösing unmittelbar danach in einer Pressemitteilung betonte: »Heute wurde – in einem meines Wissens noch nie dagewesenen Vorgang – der von mir eingereichte Initiativbericht ›Waffenausfuhr: Umsetzung des Gemeinsamen Standpunkts des Rates‹ im Auswärtigen Ausschuß des Europaparlaments abgelehnt. Obwohl die konservative Mehrheit im Ausschuß den Bericht in ihrem Sinne verändern und so die gemeinsam mit den Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen gefundenen Kompromisse kippen konnte, hat sie am Ende gegen den Bericht gestimmt.«2
Dies klingt zunächst schizophren: Weshalb sollten die EVP-Abgeordneten gegen einen Bericht stimmen, der nach den Änderungsanträgen durchaus ihren Präferenzen entsprach? Dieses Verhalten macht bei genauerer Betrachtung aber durchaus Sinn. Denn mit diesem nahezu präzedenzlosen taktischen Winkelzug, der einen neuen Standard in Sachen parlamentarischer Hinterhältigkeit setzt, wurde verhindert, daß sich das Europäische Parlament überhaupt mit dem Thema beschäftigen wird. Ansonsten hätte im Plenum ein Alternativbericht debattiert und die Sache so wenigstens angesprochen werden müssen, wie ebenfalls aus der bereits zitierten Pressemitteilung hervorgeht: »Das ist ein ungeheurer Vorgang, denn nun kann der Bericht nicht mehr im Plenum des Europaparlaments diskutiert werden.«
Versuche, Kontrolle abzuschaffen
Dies ist umso skandalöser, als derzeit sowohl seitens der Politik als auch der Industrie eine regelrechte Rüstungsexportoffensive läuft, über die man augenscheinlich unter keinen Umständen öffentlich debattieren will. Ihre Haltung in dieser Frage haben die Konservativen mehr als deutlich gemacht: Über Rüstungsgüter diskutiert man nicht, man exportiert sie!
Glaubt man Lobbyisten wie Christian-Peter Prinz zu Waldeck, Geschäftsführer des »Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie«, ist die Ausweitung der Rüstungsexporte aufgrund eines angeblichen Kahlschlags bei den Militärausgaben eine Angelegenheit von geradezu existentieller Bedeutung: »Es ist die Frage des Überlebens – wollen wir diese Industrie erhalten oder wollen wir sie nicht erhalten? Wenn wir sie erhalten wollen, müssen wir in den Export gehen.«3
Hier gilt es zunächst einmal festzuhalten, daß die Branche keineswegs kurz vor dem Ruin steht. Im Gegenteil, wie eine im Dezember 2012 veröffentlichte Untersuchung des »Center for Strategic and International Studies« (CSIS) belegt, erwies sich das Waffengeschäft in jüngster Zeit sogar als überaus profitabel. Zwar seien die Erlöse in den 1990er Jahren eingebrochen, in den darauf folgenden Jahren seien sie jedoch von 58 Milliarden Euro im Jahr 2001 um 57,7 Prozent auf 91 Milliarden Euro 2011 gestiegen. Es geht also nicht darum, das Überleben der Branche zu sichern, sondern man ist bestrebt, die – ohnehin üppigen – Profitmargen auf möglichst hohem Niveau zu stabilisieren, wenn möglich sogar auszubauen. Da allerdings in absehbarer Zeit mit einer stagnierenden oder teils (zumeist nur leicht) sinkenden Inlandsnachfrage zu rechnen sein wird, gewinnt das Auslandsgeschäft an Bedeutung.
Bei der Politik rennt die Industrie hier offene Türen ein, da eine starke und unabhängige rüstungsindustrielle Basis als wesentlicher Machtfaktor erachtet wird. Insbesondere im Zusammenhang mit Auslandsinterventionen. Hinzu kommt neuerdings noch ein weiteres Interesse: Vor allem Deutschland will mit der sogenannten Merkel-Doktrin Waffen an »strategisch wichtige Partner« liefern – und zwar auch vollkommen unabhängig davon, ob diese demokratische und Menschenrechte achten, und ungeachtet dessen, ob es sich dabei um Krisengebiete handelt oder nicht. Bislang müssen derartige Geschäfte, die womöglich gegen Rüstungsexportkriterien verstoßen, noch mit besonderen sicherheitspolitischen Interessen begründet werden – dies will man künftig mit »Positivlisten« umgehen und sich hierdurch mißliebige Debatten ersparen. Die dahinterstehende »Logik« wurde von Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals in einem Vortrag Ende 2011 deutlich gemacht: »Wir müssen die Staaten, die bereit sind, sich zu engagieren, auch dazu befähigen. Ich sage ausdrücklich: Das schließt auch den Export von Waffen mit ein – dies selbstverständlich nur nach klaren und weithin anerkannten Prinzipien.« Schon die gängige Ausfuhrpraxis und noch mehr solche »strategischen Waffenlieferungen« verstoßen jedoch auf eklatante Weise gegen die auf europäischer Ebene geschaffenen Regelungen zur Rüstungsexportkontrolle, die augenscheinlich nicht greifen.
Bereits im Juni 1998 wurde der »Verhaltenskodex über Waffenexporte« verabschiedet, der acht Kriterien enthielt, bei deren Verletzung eine Rüstungsexportlizenz entweder grundsätzlich abgelehnt werden (Kriterien 1–4) oder eine Verweigerung zumindest erwogen werden sollte (Kriterien 5–8). Demnach müssen Empfängerländer u.a. die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht respektieren (Kriterium 2), und es dürfen keine Exporte in Krisengebiete erfolgen (Kriterium 4). Ferner sollte etwa auch die Entwicklungsverträglichkeit gewährleistet sein, indem in kein Land exportiert wird, das sich diese Ausgaben aufgrund seiner Finanzlage eigentlich nicht leisten kann (Kriterium 8).
Acht Kriterien
Schon früh war allerdings klar, daß diese acht Prüfsteine in der Exportpraxis der EU-Länder nahezu gewohnheitsmäßig ignoriert wurden. So förderte eine im November 2011 veröffentlichte Untersuchung zu Tage, daß Mitgliedsstaaten im Zeitraum zwischen 2001 und 2009 Rüstungsgüter im Wert von über 50 Milliarden Euro in die Krisenregionen Nordafrika und Mittelost exportiert haben. Zunächst wurde sich herausgeredet, daß es sich beim Verhaltenskodex lediglich um eine Absichtserklärung handele – es oblag den Staaten, ob sie sich daran halten wollten oder eben nicht. Aus diesem Grund setzte man große Hoffnungen in den »Gemeinsamen Standpunkt betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern«, der im Dezember 2008 verabschiedet wurde. Er übernahm den Verhaltenskodex und damit auch die acht Kriterien nahezu unverändert, wodurch sie rechtsverbindlichen Charakter erhielten. Damit konnte allerdings ebenfalls nicht verhindert werden, daß weiter Waffen in Länder exportiert werden, die gegen eines oder mehrere Grundsätze verstoßen.
Vorerst läßt sich zwar festhalten, daß der »Gemeinsame Standpunkt« und damit die Rechtsverbindlichkeit der acht Kriterien sicher einen gewissen Fortschritt darstellten. Im Detail läßt er aber dennoch viel zu wünschen übrig. Deshalb forderte der Berichtsentwurf »Waffenausfuhr« zahlreiche Ergänzungen, etwa, »daß aufgrund der negativen Auswirkungen von Rüstungsausgaben auf die Entwicklungschancen von ärmeren Empfängerländern Kriterium 8 aufgewertet werden sollte, indem Entwicklungsunverträglichkeit automatisch zu einer Ablehnung von Exportlizenzen führen sollte« (Rüstungsexportbericht, Artikel 3). Zudem scheint es Usus zu sein, die Kriterien – wenn überhaupt – nur für Ausfuhren in Drittländer (grob gesagt: Nicht-EU-/NATO-Mitglieder) in Betracht zu ziehen. Doch auch Exporte in EU-Länder wie etwa Griechenland dürften gegen das Kriterium der Entwicklungsverträglichkeit verstoßen. Denn im Wortlaut des »Standpunkts« gibt es bezüglich des Geltungsbereichs keinerlei Einschränkung. Da der Handel innerhalb der EU im Zuge der Verbringungsrichtlinie des Mitte 2012 europaweit in Kraft getretenen Verteidigungspakets (Defence Package) jetzt liberalisiert und massiv ausgeweitet wird, wird dieser Punkt immer wichtiger.
Ein weiteres Manko ist, daß Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Dual use) vom »Gemeinsamen Standpunkt« nicht erfaßt werden. Dies ist besonders für »zivile« Sicherheitstechnologien problematisch, die sehr häufig für interne Repression verwendet werden. Wenn man also schon auf solche Ausfuhren nicht gänzlich verzichten will, sollten sie ebenfalls wenigstens in ein verbindliches Rüstungsexportkontrollsystem eingebunden werden. Dabei wäre dann »zwingend vorzuschreiben, daß bei einem Export von Sicherheitstechnologie und generell von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck die Vereinbarkeit mit den acht Kriterien geprüft wird« (Rüstungsexportbericht, Artikel 10).
Außerdem plädiert der »Gemeinsame Standpunkt« für eine Stärkung des Rüstungssektors, wenn es in ihm etwa heißt: »Der Wunsch der Mitgliedsstaaten, eine Rüstungsindustrie als Teil ihrer industriellen Basis wie auch ihrer Verteidigungsanstrengungen aufrechtzuerhalten, wird anerkannt« (Artikel 13). Andererseits seien zwar die »wirtschaftlichen, sozialen, kommerziellen und industriellen Interessen« der Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen, dies dürfe allerdings »die Anwendung der oben angeführten Kriterien nicht beeinträchtigen« (Artikel 10). In der Praxis scheint es aber genau andersherum zu laufen. »In der Europäische Union pochen weiterhin die Mitgliedsstaaten auf ihr vertraglich abgesichertes Recht, souverän über Rüstungsproduktion und Rüstungshandel zu entscheiden. Im Zweifelsfall haben nationale außenpolitische Interessen und der Erhalt eigener Rüstungskapazitäten Vorrang.«4
Dies hängt mit der wesentlichsten Schwachstelle des »Gemeinsamen Standpunktes« zusammen: Weiterhin können Nationalstaaten die Kriterien auslegen, wie es ihnen gerade beliebt. Ob ein Land wie etwa Saudi-Arabien die Menschenrechte verletzt (Kriterium 2), kann jedes EU-Land für sich selbst entscheiden. Sollten also gewichtige Exportinteressen im Spiel sein, werden diesbezügliche Hindernisse schlichtweg weginterpretiert. Hier liegt eine wesentliche Ursache dafür, daß es weiter möglich ist, die Kriterien geflissentlich zu ignorieren. So kommt etwa eine Studie des »Bonn International Center for Conversion« (BICC) zu dem Ergebnis, knapp 30 Prozent der von der Bundesregierung im Jahr 2011 erteilten Lizenzen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern hätten gegen eines oder mehrere der EU-Rüstungsexportkriterien verstoßen.5
Aus diesem Grund fordert der Berichtsentwurf »Waffenausfuhr«, »daß ein standardisiertes Prüf- und Berichtssystem geschaffen wird, das Aufschluß darüber gibt, ob und in welchem Maße Exporte einzelner Mitgliedsländer der Europäischen Union gegen die acht Kriterien verstoßen« (Rüstungsexportbericht, Artikel 5). Ferner wird kritisiert, »daß es keine Möglichkeit gibt, die Einhaltung der acht Kriterien unabhängig prüfen zu lassen, daß keine Sanktionsmechanismen bei Verstoß gegen die acht Kriterien durch einen Mitgliedsstaat existieren und dies auch nicht geplant ist« (Artikel 7).
Mehr Klarheit und Transparenz
Darüber hinaus hätte eigentlich die zweite wesentliche Neuerung des »Gemeinsamen Standpunktes« gegenüber dem Vorläufer »Verhaltenskodex« mehr Klarheit und Transparenz in Sachen EU-Rüstungsexporte bringen sollen. Denn in ihm wird vorgeschrieben, daß die jährlichen Berichte der »Working Party on Conventional Arms Exports« (COARM, Gruppe Ausfuhr konventioneller Waffen des Rates der EU) im Amtsblatt abgedruckt und damit öffentlich zugänglich gemacht werden müssen (zuvor mußten sie nur dem Rat übersendet werden). Doch auch dieses Instrument hat sich als genauso stumpf wie das des »Gemeinsamen Standpunktes« selbst erwiesen.
Der COARM-Bericht faßt die Rüstungsexporte der EU-Einzelstaaten jährlich in einem etwa 430seitigen Dokument zusammen, allerdings immer mit einer »leichten« Verzögerung: Der Report für 2011 erschien erst am 14. Dezember 2012, der für das Jahr zuvor erst am 30. Dezember 2011. Also ausgerechnet am letzten Arbeitstag des Jahres, und ohne daß vorab über die anstehende Veröffentlichung informiert worden wäre. Deutlicher hätte wohl kaum signalisiert werden können, daß an Transparenz in diesem Bereich wenig bis kein Interesse besteht. Deshalb fordert der Berichtsentwurf »Waffenausfuhr« von Sabine Lösing »die zeitnahe Veröffentlichung des COARM-Jahresberichts, die höchstens ein halbes Jahr nach dem Erhebungszeitraum erfolgen sollte« (Rüstungsexportbericht, Artikel 18).
Darüber hinaus weisen die Daten zahlreicher Mitgliedsländer (darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien) extreme Lücken auf und sind somit weitgehend unbrauchbar: Für das Jahr 2010 übermittelten lediglich 63 Prozent der Staaten vollständige Angaben. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß unterschiedliche Berichtssysteme und Erhebungsverfahren die tatsächlichen Zahlen zusätzlich vernebeln helfen. Der Berichtsentwurf »Waffenausfuhr« plädiert daher für »die Einführung eines standardisierten Erhebungs- und Übermittlungsverfahrens, das in allen Staaten gleichermaßen Anwendung findet, um fristgerechte und vollständige Informationen zu übermitteln bzw. zu veröffentlichen« (Rüstungsexportbericht, Artikel 13). Außerdem wird gefordert, »daß der COARM-Jahresbericht um eine Zusammenfassung ergänzt wird, in der u.a. vergleichende Trends zu den Vorjahren und aggregierte Zahlen enthalten sein sollten« (Artikel 17).
Im »Gemeinsamen Standpunkt« ist vorgeschrieben, daß dieser drei Jahre nach Verabschiedung einer Überprüfung unterzogen werden muß. Das nach fast einem Jahr vom Europäischen Rat im November 2012 präsentierte Ergebnis ist angesichts der zuvor beschriebenen eklatanten Defizite ein schlechter Witz: »Nach Abschluß dieser Bewertung gelangt der Rat zu dem Schluß, daß die Bestimmungen des Gemeinsamen Standpunkts und das in seinem Rahmen bereitgestellte Instrumentarium den im Jahr 2008 vorgegebenen Zielen nach wie vor förderlich sind und eine solide Grundlage für die Koordinierung der Waffenausfuhrpolitik der Mitgliedsstaaten bilden.«6
Natürlich wäre die denkbar beste Variante, sämtliche Rüstungsexporte generell zu verbieten – eine konsequente Anwendung der acht Kriterien, wie sie vom Berichtsentwurf »Waffenausfuhr« eingefordert wurde, würde dem allerdings schon relativ nahekommen. Und genau aus diesem Grund wurde letzterer nun auch von den Konservativen versenkt. Schon allein eine Debatte um die löchrige Rüstungsexportkontrolle ist offensichtlich unerwünscht, wie auch Berichterstatterin Sabine Lösing in ihrer eingangs zitierten Presseerklärung betont: »Die Konservativen haben damit deutlich gemacht, daß sie die Interessen der europäischen Rüstungsindustrie vor Menschenrechte stellen. (Sie) wollen jede öffentliche Diskussion über effektivere Kontrollen der Rüstungsexporte verhindern und so eine mögliche strengere Umsetzung blockieren. Gerade die CDU/CSU scheint damit verhindern zu wollen, daß ihre Position zu Waffenexporten im Bundestagswahlkampf publik wird.«
Anmerkungen
1 Entwurf eines Berichts über das Thema »Waffenausfuhr: Umsetzung des Gemeinsamen Standpunkts des Rates 2008/944/GASP« (2012/2303 (INI)), Brüssel, 13.2.2013 (zitiert als Rüstungsexportbericht)
2 Europaparlament: Freie Fahrt für Waffenexporte, Pressemitteilung von Sabine Lösing, Brüssel, 23.4.2013
3 Sonja Heizmann: Frontverschiebung. Die Zukunft der deutschen Rüstungsindustrie, Deutschlandradio Kultur, 19.9.2011
4 Bernhard Moltmann: Die Zange, die nicht kneift. Der EU-Gemeinsame Standpunkt zu Rüstungsexporten, HSFK-Report Nr. 3/2012, S. II
5 GKKE: Rüstungsexportbericht 2012, 10.12.2012, S. 7
6 Schlußfolgerungen des Rates vom 19.11.2012
Bangladesch: Heute landesweite Demonstrationen und Generalstreik gegen mörderische Arbeitsbedingungen
29.04.13 - Nach wie vor wird in den Trümmern der eingestürzten Textilfabrik in der bengalischen Hauptstadt Dhaka nach Überlebenden gesucht. Offiziell werden 379 Todesopfer gemeldet - rund 900 Menschen werden noch vermisst. Der Besitzer des Fabrikgebäudes, Sohel Rana, wurde gestern an der indisch-bengalischen Grenze verhaftet, nachdem bereits am Samstag drei Chefs der im Gebäude ansässigen Textilfabriken sowie zwei Ingenieure festgenommen worden waren.
Hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter streiken und protestieren seit Tagen vor allem in der Region Dhaka gegen ihre katastrophalen Arbeitsbedingungen. Viele der 4.500 Textilfabriken des Landes mussten vorübergehend geschlossen werden. Das Zentralkomitee der MLPD erhielt einen Brief von Hasan Tarique Chowdhury, Mitglied der Internationalen Abteilung der Kommunistischen Partei von Bangladesch, in dem er schreibt:
"Liebe Genossinnen und Genossen, wahrscheinlich seid ihr schon über den tragischen Einsturz des Hochhauses in der Savar-Region von Bangladesh (ca. 25 Kilometer von der Hauptstadt Dhaka) am 24. April 2013 informiert, das Tausenden von Textilarbeitern den Tod brachte, darunter viele Textilarbeiterinnen und Kinderarbeiter. Die Regierung des Landes versucht, die Zahl der Toten zu vertuschen, aber täglich bergen die Rettungskräfte neue Leichen von Arbeiterinnen und Arbeitern.
Die Kommunistische Partei von Bangladesh (CPB) hat schon immer gegen die gefährlichen Arbeitsbedingungen protestiert, die in den meisten Textilfabriken herrschen. So sind viele Fabriken gebaut worden, ohne die notwendigen Bau-Regeln oder die staatlichen Bauvorschriften einzuhalten. ... Die Kommunistische Partei von Bangladesh (CPB) stellt fest, dass dieser massenhafte Tod kein Unfall ist, sondern ein vorsätzlicher Mord durch die profithungrigen Eigentümer der Fabriken.
Die Partei fordert die sofortige Verhaftung der schuldigen Fabrikbesitzer, schnelle Rettungsarbeiten seitens der Regierung, angemessene Entschädigung für die Toten und die verletzten Arbeiterinnen und Arbeiter, den Schutz des menschlichen Lebens am Arbeitsplatz, die Garantie für freie gewerkschaftliche Betätigung im Textilsektor. ... Außerdem fordern wir die Festlegung des Mindestlohns auf 8.000 Taka (=78 Euro) und die entsprechenden Erhöhung des Lohnes für jede Lohnstufe.
Die CPB hat zu einer landesweiten Demonstration am 29. April und zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen, um für diese Forderungen Druck auf die Regierung und die Fabrikbesitzer auszuüben. Wir sind uns sicher, dass dieser ernst gemeinte Kampf der Arbeiterklasse einen Sieg erringen wird."
"rf-news" wird weiter darüber berichten. Zuvor hatte sich Monika Gärtner-Engel, Europa-Koordinatorin der Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen, mit einer Solidaritätserklärung an alle Textilarbeiterinnen und -arbeiter sowie alle an den Massenprotesten Beteiligten gewandt, die sie der in Bangladesch lebenden stellvertretenden Asien-Koordinatorin der Weltfrauenkonferenz zusandte. Darin schreibt sie unter anderem:
"Liebe Freundinnen, tief bestürzt haben wir von der Tragödie erfahren ... . Wir sind mit euch sehr sehr traurig und erschüttert. Wir sind aber auch sehr wütend über dieses vermeidbare Unglück, dessen Ursache sich nur mit kapitalistischer Profit-Sucht beschreiben lässt. ... Immer sehe ich die beeindruckenden Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter aus der Versammlung bei unserem Besuch vor Augen!
Wir stehen mit ganzem Herzen hinter der Massenprotestbewegung, die sich entwickelt, und fordern mit euch die lückenlose Aufklärung und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden! Kämpfen wir gemeinsam und solidarisch für ein Leben unter lebenswerten Bedingungen, ohne Ausbeutung und Unterdrückung."
W.I. Lenin Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
Thesen
(Januar-Februar 1916)
1. Imperialismus, Sozialismus und Befreiung der unterdrückten Nationen
Der Imperialismus ist die höchste Stufe der Entwicklung des Kapitalismus. Das Kapital ist in den fortgeschrittenen Ländern über den Rahmen des Nationalstaates hinausgewachsen; es hat Monopole an Stelle der Konkurrenz gestellt und alle objektiven Voraussetzungen für die Verwirklichung des Sozialismus geschaffen. Deshalb steht in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten von Amerika der revolutionäre Kampf des Proletariats um die Niederwerfung der kapitalistischen Regierungen und die Expropriation der Bourgeoisie auf der Tagesordnung. Der Imperialismus erzeugt einen solchen Kampf, indem er die Klassengegensätze ungemein verschärft, die Lage der Massen in ökonomischer Hinsicht – Trusts, Teuerung – sowie in politischer Hinsicht verschlimmert, Wachstum des Militarismus, Kriege, Verstärkung der Reaktion, Befestigung und Erweiterung des nationalen Druckes und des kolonialen Raubes verursacht. Der siegreiche Sozialismus muß die volle Demokratie verwirklichen, folglich nicht nur vollständige Gleichberechtigung der Nationen realisieren, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen durchführen, das heißt das Recht auf freie politische Abtrennung anerkennen. Sozialdemokratische Parteien, die durch ihre ganze Tätigkeit sowohl jetzt als während und nach der Revolution nicht zu beweisen imstande sein werden, daß sie die unterjochten Nationen befreien und ihre eigenen Beziehungen zu denselben auf dem Boden der freien Vereinigung aufbauen werden – eine solche Vereinigung aber würde zur lügnerischen Phrase ohne die Freiheit der Abtrennung – derartige Parteien würden Verrat am Sozialismus begehen.
Allerdings ist die Demokratie eine Staatsform, die mit dem Absterben des Staates überhaupt ebenfalls verschwinden muß. Das aber wird erst dann eintreten, wenn der siegreiche Sozialismus dem vollständigen Kommunismus weichen wird.
2. Die sozialistische Revolution und der Kampf um die Demokratie
Die sozialistische Revolution ist kein einzelner Akt, keine einzelne Schlacht an einer Front, sondern eine ganze Epoche schärfster Klassenkonflikte, eine lange Reihe von Schlachten an allen Fronten, das heißt in allen Fragen der Ökonomie sowie der Politik, Schlachten, welche nur mit der Expropriation der Bourgeoisie enden können. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, daß der Kampf um die Demokratie imstande wäre, das Proletariat von der sozialistischen Revolution abzulenken oder auch nur diese Revolution in den Hintergrund zu schieben, zu verhüllen und dergleichen. Im Gegenteil, wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die vollständige Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Siege über die Bourgeoisie vorbereiten.
Nicht weniger falsch wäre es, einen der Punkte des demokratischen Programms, so zum Beispiel das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, fallenzulassen, und zwar auf Grund seiner angeblichen „Undurchführbarkeit“ oder seines „illusorischen“ Charakters wegen in der imperialistischen Epoche. Die Behauptung, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen sei im Rahmen des Kapitalismus undurchführbar, kann entweder im absoluten ökonomischen oder relativen politischen Sinne aufgefaßt werden
Im ersten Sinne ist diese Behauptung theoretisch grundfalsch. In diesem Sinne ist im Rahmen des Kapitalismus etwa das „Arbeitsgeld“ oder die Abschaffung der Krisen und dergleichen mehr undurchführbar. Aber es ist falsch, daß das Selbstbestimmungsrecht der Nationen genauso undurchführbar sei. Zweitens würde selbst das einzige Beispiel der Abtrennung Norwegens von Schweden im Jahre 1905 genügen, um die „Undurchführbarkeit“ in diesem Sinne zu widerlegen. Drittens wäre es lächerlich zu bestreiten, daß bei einer kleinen Veränderung der gegenseitigen politischen und strategischen Beziehungen, zum Beispiel Deutschlands und Englands, heute oder morgen die Konstituierung neuer Staaten – etwa eines polnischen, indischen und ähnlichen – „durchführbar“ sei. Viertens korrumpierte das Finanzkapital in seinem Suchen nach Expansion die „freieste“ demokratische und republikanische Regierung und die gewählten Beamten eines beliebigen, wenn auch „unabhängigen“ Landes, und wird sie auch künftig „frei“ korrumpieren.
Die Herrschaft des Finanzkapitals, wie des Kapitals überhaupt, ist durch keinerlei Umgestaltungen auf dem Gebiete der politischen Demokratie zu beseitigen. Und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen liegt ganz und ausschließlich auf diesem Gebiete. Aber diese Herrschaft des Finanzkapitals hebt nicht im mindesten die Bedeutung der politischen Demokratie als einer freieren, weiteren und klareren Form der Klassenunterdrückung und der Klassenkämpfe auf. Daher führen alle Ausführungen über die „Undurchführbarkeit“ im ökonomischen Sinne einer der Forderungen der politischen Demokratie unter dem Kapitalismus zu einer theoretisch falschen Definition der allgemeinen und grundlegenden Beziehungen des Kapitalismus zur politischen Demokratie überhaupt.
Im zweiten Falle ist diese Behauptung unvollständig und ungenau. Denn nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie sind beim Imperialismus nur unvollständig, verstümmelt und als eine seltene Ausnahme (zum Beispiel die Abtrennung Norwegens von Schweden im Jahre 1905) „durchführbar“. Die Forderung der sofortigen Befreiung der Kolonien, die von allen revolutionären Sozialdemokraten aufgestellt wird, ist ebenfalls beim Kapitalismus ohne eine Reihe von Revolutionen „undurchführbar“. Aber daraus folgt keinesfalls der Verzicht der Sozialdemokratie auf den sofortigen und entschiedenen Kampf für alle diese Forderungen. Das wäre ja nur in die Hand der Bourgeoisie und Reaktion gespielt. Ganz im Gegenteil, man muß alle diese Forderungen nicht reformistisch, sondern entschieden revolutionär formulieren, sich nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Legalität beschränken, sondern diesen Rahmen zerbrechen, sich nicht mit dem parlamentarischen Auftreten und äußerlichen Protesten begnügen, sondern die Massen mit in den aktiven Kampf hineinziehen, den Kampf um jede demokratische Forderung bis zum direkten Ansturm des Proletariats auf die Bourgeoisie verbreiten und anfachen, das heißt ihn zur sozialistischen Revolution, die die Bourgeoisie expropriiert, führen. Die sozialistische Revolution kann nicht nur aus einem großen Streik oder einer Straßendemonstration oder einem Hungeraufstand, einer Militärempörung oder einer Meuterei in den Kolonien, sondern aus einer beliebigen politischen Krise, wie der Dreyfus-Affäre oder dem Zaberninzident, oder im Zusammenhang mit dem Referendum in der Frage der Abtrennung der unterdrückten Nationen und ähnlichem mehr aufflammen.
Die Verstärkung der nationalen Unterjochung in der Ära des Imperialismus bedingt für die Sozialdemokraten nicht den Verzicht auf den „utopischen“, wie ihn die Bourgeoisie bezeichnet, Kampf für die Freiheit der Abtrennung der Nationen, sondern ganz im Gegenteil eine verstärkte Ausnutzung aller Konflikte, die auch auf diesem Boden entstehen, als Veranlassung für Massenaktionen und revolutionäre Kampfe gegen die Bourgeoisie.
3. Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und seine Beziehung zur Föderation
Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden, d.h. der unterdrückten Nation, so daß diese Forderung nicht der Forderung der Abtrennung, der Zerstückelung, der Bildung kleiner Staaten gleich ist. Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung. Je mehr die demokratische Organisation des Staates bis zur vollständigen Freiheit der Abtrennung ausgestaltet ist, desto seltener und schwächer wird in der Praxis das Bestreben nach Abtrennung sein, denn die Vorteile der großen Staaten sind sowohl vom Standpunkt des ökonomischen Fortschritts als auch von demjenigen der Interessen der Massen zweifellos, wobei diese Vorteile mit dem Kapitalismus steigen. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts ist nicht gleichbedeutend mit der Anerkennung des Prinzips der Föderation. Man kann ein entschiedener Gegner dieses Prinzips, ein Anhänger des demokratischen Zentralismus sein, aber der nationalen Nichtgleichberechtigung die Föderation als den einzigen Weg zum vollständigen demokratischen Zentralismus vorziehen.
Eben von diesem Standpunkt aus zog der Zentralist Marx sogar die Föderation zwischen Irland und England der Gewaltunterjochung Irlands durch England vor.
Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur Aufhebung der Kleinstaaterei und jeder Absonderung von Nationen, nicht nur Annäherung der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung. Und eben, um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir einerseits die Massen über den reaktionären Charakter der Idee von Renner und Bauer (sogenannte „national-kulturelle Autonomie“) aufklären, anderseits aber die Befreiung der unterdrückten Nationen nicht in allgemeinen weitschweifigen Phrasen, nicht in nichtssagenden Deklamationen, nicht in der Form der Vertröstung auf den Sozialismus, sondern in einem klar und präzis formulierten politischen Programm fordern, und zwar in spezieller Bezugnahme auf die Feigheit und Heuchelei der „Sozialisten“ der unterdrückenden Nationen. Wie die Menschheit zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Diktatur der unterdrückten Klasse kommen kann, so kann sie zur unvermeidlichen Verschmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung. das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen kommen.
4. Die proletarische, revolutionäre Fragestellung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen
Nicht nur die Forderung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, sondern alle Punkte unseres demokratischen Minimalprogramms wurden noch im 17. und 18. Jahrhundert von dem Kleinbürgertum aufgestellt. Und das Kleinbürgertum stellt sie alle jetzt noch utopisch auf. Es beachtet den Klassenkampf und seine Verstärkung unter dem Regime der Demokratie nicht, es glaubt an den „friedlichen Kapitalismus“. Genauso ist die das Volk irreführende Utopie der friedlichen Vereinigung der gleichberechtigten Nationen beim Imperialismus die von den Kautskyanern verteidigt wird
Als Gegengewicht zu dieser spießbürgerlichen opportunistischen Utopie muß das Programm der Sozialdemokratie als das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende hervorheben.
Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders unangenehmen Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muß die Freiheit der politischen Abtrennung der von „seiner“ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern. Andernfalls wird der Internationalismus des Proletariats zu leeren Worten; weder Vertrauen noch Klassensolidarität unter den Arbeitern der unterdrückten und der unterdrückenden Nation sind möglich; die Heuchelei der reformistischen und Kautskyschen Vertreter des Selbstbestimmungsrechts, die sich über die von „ihren eigenen Nationen“ unterdrückten und in „ihrem eigenen“ Staate gewaltsam zurückgehaltenen Nationen ausschweigen, bleibt dabei immer noch unentlarvt.
Anderseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrätereien und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen. Denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen mißbraucht beständig die Losungen der nationalen Befreiung um die Arbeitet zu betrügen: in der inneren Politik benutzt sie diese Losungen zur reaktionären Verständigung mit der Bourgeoisie der herrschenden Nation (zum Beispiel die Polen in Osterreich und Rußland, die eine Abmachung mit der Reaktion treffen zur Unterdrückung der Juden und Ukrainer); in der äußeren Politik bemüht sie sich, sich mit einer der wetteifernden imperialistischen Regierungen zu verständigen, um ihre räuberischen Ziele zu verwirklichen (die Politik der kleinen Balkanstaaten u.a.m.).
Die Tatsache, daß der Kampf gegen eine imperialistische Regierung für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer andern „Großmacht“ für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann, kann die Sozialdemokratie ebensowenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten, wie die mehrfachen Fälle der Ausnutzung der republikanischen Losungen durch die Bourgeoisie in ihrer politischen Betrügerei und Finanzräuberei zum Beispiel in romanischen Ländern die Sozialdemokratie auf ihren Republikanismus zu verzichten bewegen können. [1]
5. Marxismus und Proudhonismus in der Nationalfrage
Im Gegensatz zu den kleinbürgerlichen Demokraten sah Marx in allen demokratischen Forderungen ausnahmslos nicht etwas Absolutes, sondern einen historischen Ausdruck des von der Bourgeoisie geleiteten Kampfes der Volksmassen gegen den Feudalismus. Es gibt keine der demokratischen Forderungen, die nicht unter bestimmten Umständen als Werkzeug des Betruges gegen die Arbeiter von seiten der Bourgeoisie dienen konnte oder gedient hätte. Daher wäre es theoretisch grundsätzlich falsch, eine der politischen Forderungen der Demokratie, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in dieser Hinsicht auszusondern und den übrigen Forderungen entgegenzustellen. In der Praxis kann das Proletariat nur dann seine Selbständigkeit bewahren, wenn es den Kampf für alle demokratischen Forderungen, die Republik nicht ausgenommen, dem revolutionären Kampf für die Niederwerfung der Bourgeoisie unterordnet. Anderseits, im Gegensatz zu den Proudhonisten, die das nationale Problem „im Namen der sozialen Revolution“ verneinten, hob Marx in erster Linie, indem er hauptsächlich die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern im Auge hatte, das grundlegende Prinzip des Internationalismus und des Sozialismus hervor: Nie kann ein Volk, das and’re Völker unterdrückt, frei sein.
Eben vom Standpunkt des Interesses der revolutionären Bewegung der deutschen Arbeiter forderte Marx im Jahre 1848, daß die siegreiche Demokratie Deutschlands die Freiheit der von den Deutschen unterjochten Völker verkünden und verwirklichen solle. Eben vom Standpunkt des revolutionären Kampfes der englischen Arbeiter forderte Marx im Jahre 1869 die Abtrennung Irlands von England, wobei er hinzufügte: „obgleich nach der Trennung Föderation kommen mag“. Nur durch die Aufstellung einer solchen Forderung erzog Marx die Arbeiter Englands im wirklich internationalen Geiste. Nur auf diese Weise konnte er den Opportunisten und dem bürgerlichen Reformismus, der bis heute, nach Ablauf eines halben Jahrhunderts, diese irländische „Reform“ nicht verwirklicht hat, eine revolutionäre Lösung der gegebenen historischen Aufgabe entgegenstellen. Nur so war Marx imstande, im Gegensatz zu den Verteidigern des Kapitals, welche die Freiheit der Abtrennung der kleinen Nationen als eine Utopie und als undurchführbar erklärten und nicht nur die ökonomische, sondern auch die politische Konzentration als fortschrittlich bezeichneten, die Fortschrittlichkeit dieser Konzentration nicht imperialistisch zu vertreten. Nur so war er imstande, die Annäherung der Nationen nicht auf dem Wege der Vergewaltigung, sondern der freien Vereinigung der Proletarier aller Länder zu verteidigen. Nur so war es Marx möglich, der äußerlichen, oft heuchlerischen Anerkennung der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen den revolutionären Kampf der Massen auch auf dem Gebiete der nationalen Frage entgegenzustellen.
Der imperialistische Krieg der Jahre 1914-1916 und der durch ihn aufgedeckte Augiasstall von Heuchelei der Opportunisten und Kautskyaner haben aufs anschaulichste die Richtigkeit dieser Politik von Marx bewiesen. Diese Politik soll als Muster für alle fortgeschrittenen Länder gelten, denn jedes von ihnen unterdrückt jetzt fremde Nationen. [2]
6. Drei Typen von Ländern in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
Es sind drei Haupttypen von Ländern in dieser Hinsicht zu unterscheiden:
Die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder Westeuropas und die Vereinigten Staaten von Amerika. Die bürgerlich-fortschrittliche nationale Bewegung ist hier längst beendet. Jede dieser „großen“ Mächte unterdrückt fremde Nationen in den Kolonien sowie im eigenen Lande. Die Aufgaben des Proletariats der herrschenden Nationen sind hier eben dieselben, wie sie im 19. Jahrhundert in England in bezug auf Irland waren. [3]
Osteuropa: Österreich, der Balkan und insbesondere Rußland. Hier hat das 20. Jahrhundert besonders die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen entwickelt und den nationalen Kampf verschärft. Das Proletariat dieser Länder kann die Aufgaben der konsequenten Durchführung der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht erfüllen und den sozialistischen Revolutionen der anderen Länder nicht beistehen, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verteidigen. Besonders schwierig und wichtig ist hier die Aufgabe der Verschmelzung des Klassenkampfes der Arbeiter der unterdrückten und der der unterdrückenden Nationen.
Die Halbkolonien, wie China, Persien, die Türkei. und alle Kolonien mit einer Bevölkerung von zirka 1.000 Millionen Menschen. Die bürgerlich-demokratischen Bewegungen sind hier teilweise kaum im Anfangsstadium, teilweise noch lange nicht beendet. Die Sozialisten haben nicht nur die bedingungslose und sofortige Befreiung der Kolonien zu fordern – diese Forderung bedeutet aber politisch nichts anderes als die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen – sondern sie müssen auch revolutionäre Elemente in den bürgerlich-demokratischen nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Ländern entschieden unterstützen und ihrer Auflehnung, ihren Aufständen, respektive ihrem revolutionären Kriege gegen die sie unterjochenden imperialistischen Staaten beistehen.
7. Der Sozialchauvinismus und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
Die imperialistische Epoche und der Krieg 1914-1916 haben die Aufgabe des Kampfes gegen den Chauvinismus und Nationalismus in den fortgeschrittenen Ländern besonders hervorgehoben. In bezug auf die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen gibt es zwei Hauptschattierungen unter den Sozialchauvinisten, das heißt den Opportunisten und Kautskyanern, die den imperialistischen, reaktionären Krieg durch den Begriff der „Vaterlandsverteidigung“ zu beschönigen suchen.
Einerseits sehen wir die direkten Diener der Bourgeoisie, welche die Annexionen verteidigen, weil der Imperialismus und die politische Konzentration fortschrittlich seien, und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ablehnen, weil es utopisch, illusorisch, spießbürgerlich usw. sei. Dazu gehören: Cunow, Lensch, Parvus und die äußersten Opportunisten in Deutschland, ein Teil der Fabier und Führer der Trade-Unions in England, in Rußland die Opportunisten Semkowski, Libman, Jurkewitsch u.a.m., die gegen das Selbstbestimmungsrecht auftreten und so die alten Annexionen des Zarismus (Finnland etc.) verteidigen.
Anderseits sehen wir die Kautskyaner, zu denen auch Vandervelde, Renaudel und mehrere Pazifisten Englands und Frankreichs gehören. Sie treten ein für die Einheit mit den ersteren und unterscheiden sich von diesen in der Praxis nicht, da sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nur äußerlich und heuchlerisch verteidigen. Sie finden, „es sei zuviel verlangt“ (Kautsky,Die Neue Zeit, 16.IV.15), wenn man die Forderung der Freiheit der politischen Abtrennung aufstellt; sie bestehen nicht auf der Notwendigkeit der revolutionären Taktik der Sozialisten gerade der unterdrückenden Nationen, ganz im Gegenteil, sie vertuschen deren revolutionäre Pflichten, rechtfertigen ihren Opportunismus, erleichtern ihren Betrug an den Völkern, vermeiden gerade die Frage der Grenzen des Staates, der die nichtgleichberechtigten Nationen gewaltsam unter seiner Herrschaft zurückhält, usw.
Die einen wie die andern sind die gleichen Opportunisten, die den Marxismus prostituieren, indem sie jede Fähigkeit, die theoretische Bedeutung und praktische Unentbehrlichkeit der Taktik von Marx, die durch das Beispiel Irlands erläutert wurde, zu begreifen, verloren haben.
Was die Annexionen anbetrifft, so ist diese Frage im Zusammenhang mit dem Krieg besonders aktuell geworden. Aber was bedeutet eigentlich Annexion? Es ist leicht, sich davon zu überzeugen, daß jeder Protest gegen Annexionen nichts anderes als entweder die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen bedeutet oder eine leere pazifistische Phrase ist, die den Status quo verteidigt und jede Gewalt, sei sie auch revolutionärer Natur, verabscheut. Ähnliche Phrasen sind grundsätzlich falsch und mit dem Marxismus unvereinbar.
8. Die konkreten Aufgaben des Proletariats in der nächsten Zukunft
Die sozialistische Revolution kann in der nächsten Zukunft beginnen. In diesem Falle wäre die sofortige Aufgabe des Proletariats die Erkämpfung der politischen Macht, die Expropriation der Banken und die Verwirklichung anderer diktatorischer Maßregeln. Die Bourgeoisie – und besonders die Intelligenz vom Typus der Fabier und Kautskyaner – wird sich bemühen, die Revolution in solch einem Augenblick zu zerstückeln und zu bremsen, indem sie ihr beschränkte demokratische Ziele vorschreiben wird. Wenn alle rein demokratischen Forderungen imstande sind, beim schon beginnenden Ansturm der Proletarier gegen die Grundlagen der Macht der Bourgeoisie der Revolution im gewissen Sinne im Wege zu stehen, so wird die Notwendigkeit, die Freiheit aller unterjochten Völker (das heißt das Selbstbestimmungsrecht) zu verkünden und zu verwirklichen, ebenso aktuell während der sozialistischen Revolution, wie sie es für den Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution war, zum Beispiel in Deutschland im Jahre 1848 oder in Rußland im Jahre 1905.
Möglicherweise werden aber bis zum Beginn der sozialistischen Revolution noch 5, 10 oder noch mehr Jahre verfließen. Es wird auf der Tagesordnung eine solche revolutionäre Erziehung der Massen stehen, die die Zugehörigkeit der Sozialchauvinisten und Opportunisten zur Arbeiterpartei, ebenso wie deren Sieg, ähnlich wie in den Jahren 1914-1916, unmöglich machen wird.
Die Sozialisten werden den Massen zu erklären haben, daß die Sozialisten Englands, welche die Freiheit der Abtrennung der Kolonien sowie Irlands nicht fordern, die Sozialisten Deutschlands, welche ebenfalls die Freiheit der Abtrennung der Kolonien sowie Elsaß-Lothringens, der Polen und der Dänen nicht fordern, die unmittelbare revolutionäre Propaganda und revolutionäre Massenaktion gegen die nationale Unterdrückung nicht verbreiten und solche Vorkommnisse wie den Zaberninzident nicht zur breitesten illegalen Propaganda unter dem Proletariat der unterdrückenden Nation, zu Straßendemonstrationen und revolutionären Massenaktionen ausnutzen, die Sozialisten Rußlands, welche die Freiheit der Abtrennung Finnlands, Polens, der Ukraine u.a. nicht verlangen, usw. daß solche Sozialisten als Chauvinisten, als Lakaien der von Blut und Schmutz triefenden imperialistischen Monarchien und imperialistischen Bourgeoisie handeln.
9. Die Stellungnahme der russischen und polnischen Sozialdemokratie und der Zweiten Internationale zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen
Die Meinungsverschiedenheiten unter den revolutionären Sozialdemokraten Rußlands und Polens in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen traten schon im Jahre 1903 auf dem Parteitag hervor, auf dem das Programm der SDAP Rußlands angenommen wurde und gegen die Proteste der Delegierten der polnischen Sozialdemokratie auch der Paragraph 9 des Programms angenommen wurde, der das Selbstbestimmungsrecht der Nationen formuliert. Seither wurde von den Vertretern der polnischen Sozialdemokratie nie die Forderung wiederholt, den Paragraphen 9 aus dem Programm zu entfernen oder ihn irgendwie anders zu formulieren. In Rußland, wo zu den unterjochten Nationen nicht weniger als 57 Prozent der Gesamtbevölkerung (mehr als 100 Millionen) gehören, wo diese Nationen hauptsächlich die Grenzgebiete des Staates bewohnen, wo ein Teil dieser Nationen sich oft auf einer höheren Stufe der Kultur befindet als die Großrussen, wo die politischen Verhältnisse besonders barbarisch sind und nicht selten an das Mittelalter erinnern, wo die bürgerlich-demokratische Revolution noch nicht vollendet ist – in Rußland ist die Anerkennung des Rechts der vom Zarismus unterjochten Nationen auf die Freiheit der Abtrennung von Rußland für die Sozialdemokratie, ihrer demokratischen und sozialistischen Aufgaben wegen, eine bedingungslose Pflicht. Unsere Partei, die im Januar 1912 wiederaufgebaut worden ist, hat im Jahre 1913 eine Resolution angenommen, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen wiederholt und es gerade im obenerwähnten Sinne erläutert.
Die Entfaltung des großrussischen Chauvinismus unter der Bourgeoisie sowie unter den opportunistischen Sozialisten (Rubanowitsch, Plechanow, Nasche Delo u.a.m.) in den Jahren 1914-1916 veranlaßt uns, um so mehr auf dieser Forderung zu bestehen und gleichzeitig zu erklären, daß diejenigen, die diese Forderung ablehnen, praktisch den Chauvinismus der Großrussen sowie den Zarismus unterstützen. Unsere Partei erklärt, daß sie für ein solches Auftreten gegen das Selbstbestimmungsrecht jedwede Verantwortung aufs entschiedenste ablehnt.
In der neuesten Formulierung der Position der polnischen Sozialdemokratie in der Nationalfrage (Erklärung auf der Zimmerwalder Konferenz) sind folgende Gedanken enthalten:
Diese Erklärung geißelt die deutsche usw. Regierung, weil sie die „polnischen Länder“ wie ein Pfand im künftigen Spiel der Kompensationen behandeln, „ohne dem polnischen Volk die Entscheidung über seine Geschicke einzuräumen“. „Die polnische Sozialdemokratie legt den entschiedensten und feierlichsten Protest ein gegen dieses Zerschneiden und Zerfleischen eines ganzen Landes.“ Sie geißelt die Sozialisten, welche den Hohenzollern ... „die Erlösung der unterdrückten Völker übertrugen“. Sie spricht die Überzeugung aus, daß nur die Teilnahme an diesem bevorstehenden Kampf des revolutionären internationalen Proletariats um den Sozialismus „die Fesseln der nationalen Unterdrückung sprengen und jede Fremdherrschaft aufheben wird, dem polnischen Volke die Möglichkeit einer freien, allseitigen Entwicklung als einem gleichberechtigten Glied in der Internationale der Völker sichern wird“. Sie erkennt den Krieg „für die Polen“ als „doppelt brudermörderischen“ (Bulletin der ISK, Nr.2, 27.IX.1915, Bern, S.15).
Von der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts unterscheiden sich diese von uns unterstrichenen Sätze im Grunde genommen nicht. Sie leiden nur an einer größeren Weitschweifigkeit und Unbestimmtheit der politischen Formulierungen als die Mehrzahl der Programme und Resolutionen der zweiten Internationale.
Jeder Versuch, diese Gedanken politisch klar zu formulieren und ihre Anwendung auf die kapitalistische oder auch nur sozialistische Ordnung zu bestimmen, wird die Irrigkeit der Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen von Seiten der polnischen Sozialdemokratie noch anschaulicher beweisen,
Der Beschluß des Londoner internationalen sozialistischen Kongresses im Jahre 1896, der das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennt, muß auf Grund der oben aufgestellten Thesen ergänzt werden, mit dem Hinweis
auf die besondere Unentbehrlichkeit dieser Forderung unter der Herrschaft des Imperialismus;
auf die historische Bedingtheit und den Klassencharakter aller Forderungen der politischen Demokratie, der vorliegenden nicht ausgenommen;
auf die Notwendigkeit, die konkreten Aufgaben der Sozialdemokratie der unterdrückenden Nationen von denen der Sozialdemokratie der unterdrückten zu unterscheiden;
auf die inkonsequente, rein äußerliche und infolgedessen in ihrer politischen Bedeutung heuchlerische Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen von seiten der Opportunisten und Kautskyaner;
auf die tatsächliche Ähnlichkeit zwischen den Chauvinisten und denjenigen Sozialdemokraten, besonders der Nationen der „Großmächte“ (Großrussen, Anglo-Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Italiener, Japaner u.a.), die nicht auf der Freiheit der Abtrennung der Kolonien und Nationen bestehen, welche von „ihren“ Nationen unterdrückt werden;
auf die Notwendigkeit, den Kampf für diese sowie für alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie dem unmittelbaren revolutionären Massenkampf für die Beseitigung der kapitalistischen Ordnung und für die Verwirklichung des Sozialismus unterzuordnen.
Der Kampf der Sozialdemokratie der kleinen Nationen insbesondere der polnischen Sozialdemokratie, gegen die das Volk betrügenden nationalistischen Losungen ihrer Bourgeoisie führte sie zur Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen.
Die Übertragung dieses Standpunktes auf die gesamte Internationale wäre theoretisch falsch; es hieße den Proudhonismus an Stelle des Marxismus setzen und wäre eine unbewußte Unterstützung des gefährlichsten Chauvinismus und Opportunismus der großstaatlichen Nationen.
Die Redaktion des Sozial-Demokrat,
Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands
Postskriptum. In der soeben erschienenen Neuen Zeit vom 3. März 1916 reicht Kautsky dem Vertreter des schmutzigsten deutschen Chauvinismus, Austerlitz, offen die christliche Versöhnungshand, indem er für das habsburgische Österreich die Freiheit der Abtrennung der unterdrückten Nationen ablehnt, für Russisch-Polen aber, um Hindenburg und Wilhelm II einen Lakaiendienst zu erweisen, anerkennt. Eine bessere Selbstentlarvung des Kautskysmus könnte man sich schwerlich wünschen!
Anmerkungen von Wladimir Iljitsch Lenin
1. Selbstverständlich ist es ganz lächerlich, das Selbstbestimmungsrecht darum abzulehnen, weil daraus angeblich die Anerkennung der „Vaterlandsverteidigung“ hervorgehen muß. Mit demselben Recht – das heißt mit demselben Unrecht – berufen sich die Sozialchauvinisten in den Jahren 1914-1916, um die „Vaterlandsverteidigung“ zu rechtfertigen, auf jede beliebige Forderung der Demokratie (zum Beispiel die der Republik) oder auf jede beliebige Formulierung des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung. Der Marxismus lehnt die Vaterlandsverteidigung im imperialistischen Krieg 1914 bis 1916 auf Grund einer konkret-historischen Analyse der Bedeutung dieses Krieges ab, und nicht ausgehend von einem „allgemeinen Prinzip“ oder einem einzelnen Programmpunkt. Ebenso hat der Marxismus, auf Grund einer solchen Analyse, in Europa die Landesverteidigung zum Beispiel in solchen Kriegen wie denen der Großen Französischen Revolution oder der Garibaldianer anerkannt.
2. Oft wird behauptet – zum Beispiel letzthin von dem deutschen Chauvinisten Lensch in Nr.8 und 9 der Glocke –, daß das negative Verhalten von Marx zur Nationalbewegung einiger Völker, wie zum Beispiel zur Bewegung der Tschechen im Jahre 1848 die Unnötigkeit des Anerkennens des Selbstbestimmungsrechts vom Standpunkt des Marxismus beweise. Das ist aber falsch. Denn im Jahre 1848 waren ebenso historische wie politische Gründe vorhanden, um zwischen „reaktionäre und revolutionären demokratischen“ Nationen zu unterscheiden. Marx hatte recht, als er die ersten verurteilte und für die zweiten Partei ergriff. Das Selbstbestimmungsrecht ist eine der Forderungen der Demokratie, die natürlich dem Kriterium der Gesamtinteressen der Demokratie unterliegt. In den Jahren 1848 und den folgenden forderten diese Gesamtinteressen in erster Linie den Kampf gegen den Zarismus.
3. In einigen Kleinstaaten, die am Kriege 1914-1916 nicht beteiligt sind, wie zum Beispiel Holland und die Schweiz, nutzt die Bourgeoisie energisch die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen aus, um die Teilnahme an dem jetzigen imperialistischen Kriege zu rechtfertigen. Das ist einer der Beweggründe, die der Sozialdemokratie solcher Länder zur Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen Anstoß gaben. Die richtige proletarische Politik, nämlich die Ablehnung der „Vaterlandsverteidigung“ im imperialistischen Kriege, rechtfertigen sie mit Hilfe unrichtiger Argumente. Man erhält in der Theorie eine Verstümmelung des Marxismus und in der Praxis eine Art kleinstaatlicher Beschränktheit, die Ignorierung von Hunderten von Millionen einer Bevölkerung, die von großstaatlichen Nationen unterjocht sind. Genosse Gorter hat unrecht, wenn er in seiner prächtigen Broschüre Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts ablehnt. Aber praktisch wendet er ganz richtig eben dieses Prinzip an, wenn er die sofortige „politische und nationale Unabhängigkeit“ Niederländisch-Indiens fordert und die holländischen Opportunisten dafür geißelt, daß sie auf die Aufstellung dieser Forderung und auf den Kampf für dieselbe verzichten.
Wladimir Iljitsch Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus
(März 1913) [1]
Die Lehre von Marx stößt in der ganzen zivilisierten Welt auf die erbittertste Feindschaft und den größten Haß der gesamten bürgerlichen Wissenschaft (der offiziellen wie der liberalen), die im Marxismus eine Art „schädlicher Sekte“ erblickt. Ein anderes Verhalten kann man auch nicht erwarten, denn eine „unparteiische“ Sozialwissenschaft kann es in einer auf Klassenkampf aufgebauten Gesellschaft nicht geben. Jedenfalls ist es Tatsache, daß die gesamte offizielle und liberale Wissenschaft die Lohnsklaverei verteidigt, während der Marxismus dieser Sklaverei schonungslosen Kampf angesagt hat. In einer Gesellschaft der Lohnsklaverei eine unparteiische Wissenschaft zu erwarten wäre eine ebenso törichte Naivität, wie etwa von den Fabrikanten Unparteilichkeit zu erwarten in der Frage, ob man nicht den Arbeitern den Lohn erhöhen sollte, indem man den Profit des Kapitals kürzt.
Doch nicht das allein. Die Geschichte der Philosophie und die Geschichte der Sozialwissenschaft zeigen mit aller Deutlichkeit, daß der Marxismus nichts enthält, was einem „Sektierertum“ im Sinne irgendeiner abgekapselten, verknöcherten Lehre ähnlich wäre, die abseits von der Heerstraße der Weltzivilisation entstanden ist. Im Gegenteil: Die ganze Genialität Marx’ besteht gerade darin, daß er auf die Fragen Antworten gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit bereits gestellt hatte. Seine Lehre entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus.
Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat. Auf diese drei Quellen und gleichzeitige Bestandteile des Marxismus wollen wir denn auch kurz eingehen.
I
Die Philosophie des Marxismus ist der Materialismus. Im Laufe der gesamten neuesten Geschichte Europas und insbesondere Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich, wo eine entscheidende Schlacht gegen alles mittelalterliche Gerümpel, gegen den Feudalismus in den Einrichtungen und in den Ideen geschlagen wurde, erwies sich der Materialismus als die einzige folgerichtige Philosophie, die allen Lehren der Naturwissenschaften treu bleibt, die dem Aberglauben, der Frömmelei usw. feind ist. Die Feinde der Demokratie waren daher aus allen Kräften bemüht, den Materialismus „zu widerlegen“, zu untergraben und zu diffamieren, und nahmen die verschiedenen Formen des philosophischen Idealismus in Schutz, der stets, auf diese oder jene Art, auf eine Verteidigung oder Unterstützung der Religion hinausläuft.
Marx und Engels verfochten mit aller Entschiedenheit den philosophischen Materialismus und legten zu wiederholten Malen dar, wie grundfalsch jede Abweichung von dieser Grundlage ist. Am klarsten und ausführlichsten sind ihre Anschauungen in Engels– Werken Ludwig Feuerbach und Anti-Dühring niedergelegt, die – wie das Kommunistische Manifest – Handbücher jedes klassenbewußten Arbeiters sind.
Aber Marx blieb nicht beim Materialismus des 18. Jahrhunderts stehen, er entwickelte die Philosophie weiter. Er bereicherte sie durch die Errungenschaften der deutschen klassischen Philosophie und besonders des Hegelschen Systems, das seinerseits zum Materialismus Feuerbachs geführt hatte. Die wichtigste dieser Errungenschaften ist die Dialektik, d.h. die Lehre von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefstgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt, die Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt. Die neuesten Entdeckungen der Naturwissenschaft – das Radium, die Elektronen, die Verwandlung der Elemente – haben den dialektischen Materialismus von Marx glänzend bestätigt, entgegen den Lehren der bürgerlichen Philosophen mit ihrer ständig „neuen“ Rückkehr zum alten und faulen Idealismus.
Marx, der den philosophischen Materialismus vertiefte und entwickelte, führte ihn zu Ende und dehnte dessen Erkenntnis der Natur auf die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft aus. Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt – wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht. Genauso wie die Erkenntnis des Menschen die von ihm unabhängig existierende Natur, d.h. die sich entwickelnde Materie widerspiegelt, so spiegelt die gesellschaftliche Erkenntnis des Menschen (d.h. die verschiedenen philosophischen, religiösen, politischen usw. Anschauungen und Lehren) die ökonomische Struktur der Gesellschaft wider. Die politischen Einrichtungen sind ein Überbau auf der ökonomischen Basis. Wir sehen zum Beispiel, wie die verschiedenen politischen Formen der heutigen europäischen Staaten dazu dienen, die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat zu festigen.
Marx’ Philosophie ist der vollendete philosophische Materialismus, der der Menschheit – insbesondere der Arbeiterklasse – mächtige Mittel der Erkenntnis gegeben hat.
II
Nachdem Marx erkannt hatte, daß die ökonomische Struktur die Basis ist, worauf sich der politische Überbau erhebt, wandte er seine Aufmerksamkeit vor allem dem Studium dieser ökonomischen Struktur zu. Das Hauptwerk von Marx – Das Kapital – ist der Erforschung der ökonomischen Struktur der modernen, d.h. der kapitalistischen Gesellschaft gewidmet.
Die vormarxsche klassische politische Ökonomie entstand in England, dem entwickeltsten kapitalistischen Land. Adam Smith und David Ricardo, die die ökonomische Struktur untersuchten, legten den Grundstein der Arbeitswerttheorie. Marx setzte ihr Werk fort. Er begründete diese Theorie exakt und entwickelte sie folgerichtig. Er zeigte, daß der Wert einer jeden Ware durch die Menge der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt wird, die zur Produktion der Ware erforderlich ist.
Wo die bürgerlichen Ökonomen ein Verhältnis von Dingen sahen (Austausch Ware gegen Ware), dort enthüllte Marx ein Verhältnis von Menschen. Der Austausch von Waren drückt die Verbindung zwischen den einzelnen Produzenten vermittels des Marktes aus. Das Geld bedeutet, daß diese Verbindung immer enger wird und das gesamte wirtschaftliche Leben der einzelnen Produzenten untrennbar zu einem Ganzen verknüpft. Das Kapital bedeutet eine weitere Entwicklung dieser Verbindung: Die Arbeitskraft des Menschen wird zur Ware. Der Lohnarbeiter verkauft seine Arbeitskraft dem Besitzer des Bodens, der Fabriken, der Arbeitsmittel. Einen Teil des Arbeitstages verwendet der Arbeiter darauf, die zu seinem und seiner Familie Unterhalt notwendigen Ausgaben zu decken (Arbeitslohn), den anderen Teil des Tages jedoch arbeitet der Arbeiter unentgeltlich; er schafft den Mehrwert für den Kapitalisten, die Quelle des Profits, die Quelle des Reichtums der Kapitalistenklasse. Die Lehre vom Mehrwert ist der Grundpfeiler der ökonomischen Theorie von Marx.
Das durch die Arbeit des Arbeiters geschaffene Kapital unterdrückt den Arbeiter, ruiniert die Kleinbesitzer und erzeugt eine Armee von Arbeitslosen. In der Industrie ist der Sieg des Großbetriebes auf den ersten Blick sichtbar, aber auch in der Landwirtschaft sehen wir die gleiche Erscheinung: Die Überlegenheit des kapitalistischen landwirtschaftlichen Großbetriebes wächst, die Anwendung von Maschinen nimmt zu, die Bauernwirtschaft gerät in die Schlinge des Geldkapitals, sie verfällt unter der Last ihrer technischen Rückständigkeit dem Niedergang und Ruin. In der Landwirtschaft nimmt der Niedergang des Kleinbetriebs andere Formen an, doch der Niedergang selbst ist eine unbestreitbare Tatsache.
Durch die Zerschlagung der Kleinproduktion bewirkt das Kapital eine Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Schaffung einer Monopolstellung der Vereinigungen der Großkapitalisten. Die Produktion selbst wird immer mehr zur gesellschaftlichen Produktion – Hunderttausende und Millionen von Arbeitern werden zu einem planmäßigen Wirtschaftsorganismus zusammengefaßt –, das Produkt der gemeinsamen Arbeit aber eignet sich eine Handvoll Kapitalisten an. Es wachsen die Anarchie der Produktion, die Krisen, die tolle Jagd nach Märkten, die Existenzunsicherheit für die Masse der Bevölkerung. Die kapitalistische Ordnung, die Abhängigkeit der Arbeiter vom Kapital steigert, schafft gleichzeitig die gewaltige Macht der vereinigten Arbeit.
Von den ersten Anfängen der Warenwirtschaft, vom einfachen Austausch an, verfolgte Marx die Entwicklung des Kapitalismus bis zu seinen höchsten Formen, bis zur Großproduktion.
Und die Erfahrungen aller kapitalistischen Länder, der alten wie der neuen, zeigen einer von Jahr zu Jahr wachsenden Zahl von Arbeitern anschaulich die Richtigkeit dieser Lehre von Marx. Der Kapitalismus hat in der ganzen Welt gesiegt, aber dieser Sieg ist nur die Vorstufe zum Sieg der Arbeit über das Kapital.
III
Als der Feudalismus gestürzt und die „freie“ kapitalistische Gesellschaft zur Welt gekommen war, zeigte es sich sogleich, daß diese Freiheit ein neues System der Unterdrückung und Ausbeutung der Werktätigen bedeutet. Alsbald kamen verschiedene sozialistische Lehren auf, als Widerspiegelung dieser Unterdrückung und als Protest gegen sie. Doch der ursprüngliche Sozialismus war ein utopischer Sozialismus. Er kritisierte die kapitalistische Gesellschaft, verurteilte und verfluchte sie, träumte von ihrer Vernichtung, phantasierte von einer besseren Ordnung und suchte die Reichen von der Unsittlichkeit der Ausbeutung zu überzeugen.
Der utopische Sozialismus war jedoch nicht imstande, einen wirklichen Ausweg zu zeigen. Er vermochte weder das Wesen der kapitalistischen Lohnsklaverei zu erklären noch die Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus zu entdecken, noch jene gesellschaftliche Kraft zu finden, die fähig ist, Schöpfer einer neuen Gesellschaft zu werden.
Indessen enthüllten die stürmischen Revolutionen, von denen der Untergang des Feudalismus, der Leibeigenschaft, überall in Europa und besonders in Frankreich begleitet war, immer augenfälliger den Kampf der Klassen als Grundlage der gesamten Entwicklung und als ihre treibende Kraft.
Kein einziger Sieg der politischen Freiheit über die Klasse der Feudalherren wurde errungen ohne deren verzweifelten Widerstand. Kein einziges kapitalistisches Land bildete sich auf mehr oder weniger freier, demokratischer Grundlage, ohne daß ein Kampf auf Leben und Tod zwischen den verschiedenen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft stattfand.
Die Genialität Marx’ besteht darin, daß er es früher als alle anderen verstand, daraus jene Schlußfolgerungen zu ziehen und konsequent zu entwickeln, die uns die Weltgeschichte lehrt. Diese Schlußfolgerung ist die Lehre vom Klassenkampf.
Die Menschen waren in der Politik stets die einfältigen Opfer von Betrug und Selbstbetrug, und sie werden es immer sein, solange sie nicht lernen, hinter allen möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klassen zu suchen. Die Anhänger von Reformen und Verbesserungen werden immer von den Verteidigern des Alten übertölpelt werden, solange sie nicht begreifen, daß sich jede alte Einrichtung, wie sinnlos und faul sie auch erscheinen mag, durch die Kräfte dieser oder jener herrschenden Klassen behauptet. Um aber den Widerstand dieser Klassen zu brechen, gibt es nur ein Mittel: innerhalb der uns umgebenden Gesellschaft selbst Kräfte zu finden, aufzuklären und zum Kampf zu organisieren, die imstande – und infolge ihrer gesellschaftlichen Lage genötigt – sind, die Kraft zu bilden, die das Alte hinwegzufegen und das Neue zu schaffen vermag.
Erst der philosophische Materialismus von Marx hat dem Proletariat den Ausweg aus der geistigen Sklaverei gewiesen, in der alle unterdrückten Klassen bisher ihr Leben fristeten. Erst die ökonomische Theorie von Marx hat die wirkliche Stellung des Proletariats im Gesamtsystem des Kapitalismus erklärt.
In der ganzen Welt, von Amerika bis Japan und von Schweden bis Südafrika, mehren sich die selbständigen Organisationen des Proletariats. Es schreitet in seiner Aufklärung und Erziehung fort, indem es seinen Klassenkampf führt, es entledigt sich der Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft, schließt sich immer enger zusammen und lernt, an seine Erfolge den richtigen Maßstab anzulegen, stählt seine Kräfte und wächst unaufhaltsam.
W.I.
Anmerkung
1. W.I. Lenins Artikel Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus wurde in der Nr.3 der Zeitschrift Prosweschtschenije, Jahrgang 1913, veröffentlicht, die dem 30. Todestag von Karl Marx gewidmet war.
Prosweschtschenije (Die Aufklärung) – theoretisches Organ der Bolschewiki, erschien monatlich ab Dezember 1911 legal in Petersburg. Die Zeitschrift, die auf Anregung Lenins gegründet worden war, trat an die Stelle der von der zaristischen Regierung verbotenen Moskauer bolschewistischen Zeitschrift Mysl (Der Gedanke). Lenin leitete die Zeitschrift Prosweschtschenije vom Ausland her; sie veröffentlichte seine Arbeiten: Prinzipielle Fragen der Wahlkampagne, Die Ergebnisse der Wahlen, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und andere. Den Teil Kunst und Literatur redigierte A.M. Gorki. Die Auflage der Zeitschrift betrug nahezu 5.000 Exemplare.
Kurz vor dem ersten Weltkrieg – im Juni 1914 – wurde die Zeitschrift von der zaristischen Regierung verboten. Im Herbst 1917 wurde das Prosweschtschenije erneut herausgegeben, es erschien nur eine Doppelnummer der Zeitschrift, in der die Arbeiten Lenins Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? und Zur Revision des Parteiprogramms veröffentlicht wurden.
11. Mai Köln: So, wie es ist, bleibt es nicht.
Antikapitalistische Blockupy Warm-Up Demo
Sa. 11. Mai 2013 — 16.00 Uhr
Köln, Vorplatz des Apostelnkloster (am Neumarkt)
Im Vorfeld zu den europaweiten Aktionstagen in Frankfurt (31.Mai – 1. Juni) gegen die europäische Krisenpolitik werden wir auch in NRW gegen die Austeritätspolitik der Troika und die Krisenauswirkungen auf die Straße gehen.
Die Demonstration wird in Köln an einigen Orten vorbeiziehen welche exemplarisch für die herrschende autoritäre Krisenpolitik stehen. Auf kreative Weise wird die Demonstration das Motto aus Frankfurt aufgreifen und Krisenakteure “markieren”! Bringt euren Widerstand gegen das europäische Krisenregime kreativ auf die Straße – bastelt Schilder oder Transparente, seid laut auf der Demo und bereitet kreative Aktionen vor!
Aufruf von Blockupy NRW
Es gibt eine Alternative: Kapitalismus abschaffen!
Vor dem Hintergrund der autoritären Krisen- und Sparpolitik Deutschlands, die bereits in zahlreichen südeuropäischen Ländern zu Leid und Elend geführt hat, gilt es, europaweit agierende Institutionen endlich in den Fokus der Kritik zu rücken. Denn sie treffen die politischen und ökonomischen Entscheidungen, mit deren Konsequenzen die Menschen in ganz Europa leben müssen. Doch nicht nur in Frankfurt finden sich wesentliche Entscheidungsträger_innen und Verteidiger_innen der kapitalistischen Logik. So sieht sich auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln als „ökonomisches Think-Tank Deutschlands“, das auf „freies Unternehmertum, Wettbewerb und offene Märkte“ abzielt.
Allein diese Aussagen aus dem Selbstverständnis des Kölner Forschungsinstituts werfen viele Fragen zur vermeintlichen Wissenschaftlichkeit, Objektivität und Zielsetzung dieser Einrichtung auf. Dass ein von „120 Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände[n] in Deutschland sowie Einzelunternehmen“ finanziertes Institut tatsächlich unabhängige Forschung betreiben kann, ist schlichtweg absurd. Vielmehr scheint klar, dass von den Förder_innen gewünschte Aussagen zu Marktwirtschaft, Arbeitswelt, Umwelt und vielen weiteren Themen mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Argumenten untermauert werden sollen. Daher wird das kapitalistische Wirtschaftssystem als alternativlos dargestellt.Wieso die nationale Herangehensweise die Positionen des IW Köln so stark prägen, hängt sicher mit verschiedenen Faktoren zusammen. Zum einen ist die Finanzierung des Instituts durch Arbeitgeber_innenverbände mit dem Ziel verbunden, die nationalen Interessen dieser durchzusetzen. Zum anderen trägt der Präsident des Instituts, Eckart John von Freyend, zu dieser Positionierung bei. Von Freyend ist Mitglied der Burschenschaft Alemannia (Heidelberg), deren Wahlspruch „Einer für Alle – Alle für Einen! Ehre, Freiheit, Vaterland!“ er stark verinnerlicht zu haben scheint. Allein die Tatsache, dass der Präsident der Einrichtung einer Studentenverbindung angehört, die immer wieder wegen ihrer autoritären, nationalistischen und sexistischen Ideologie kritisiert wird, macht eins deutlich: das IW ist ein reaktionärer Krisenakteur im Herzen von NRW.
Das IW Köln repräsentiert, neben vielen anderen Einrichtungen und Instituten, das kapitalistische System. Ein System, das auf globaler Ausbeutung basiert, Armut und soziale Ungleichheit produziert und die Natur zerstört. Das IW hat das Spardiktat der europäischen Kürzungspolitik nicht geschaffen, doch es leistet Schützenhilfe auf ideologischer Ebene, damit Deutschland auch weiterhin als „Krisengewinner“ vorneweg marschieren kann und der kapitalistische Laden reibungslos läuft. Wir wollen, dass es für Befürworter_innen des kapitalistischen Systems unbequem wird und tragen deswegen unseren Protest vor deren Tür. Denn alternativlos ist nicht der Kapitalismus, sondern seine Überwindung.
So wie es ist, bleibt es nicht.
Deshalb rufen wir dazu auf, an der antikapitalistischen Demonstration am 11. Mai 2013 in Köln teilzunehmen. Gemeinsam werden wir der Kölner Innenstadt laut und aktionistisch unsere Kritik am Kapitalismus präsentieren.Hierbei wollen wir neben dem IW auch auf weitere Akteur_innen aufmerksam machen, die verantwortlich sind für Sozialkürzungen, rassistische Hetze und Gentrifizierung.
NRW goes Blockupy! – Blockupy goes NRW!
[Stand: 26.4.2013]
Kulturkritik.net zu Verdinglichung
Wo Menschen für Geld etwas taten, nannte man das früher "Verdingung", d.h. das sich zu einem bloßen Ding machen, um selbst Dinge erstehen zu können. In diesem Zusammenhang kann man jede Entsubjektivierung als Verdinglichung beschreiben. Verdinglichung meint dann Verobjektivierung von Subjektivität, so etwas wie das Dingsein von Menschen durch Versachlichung ihrer Kräfte und Eigenschaften. Dies ist sowohl ein Vorgang, der das Werden entmenschlichter Beziehungen vollzieht, als auch Kritik gegen die Verobjektivierung, also das sich selbst oder andere zum Ding machen. Es ist immer verbunden mit Selbstunterwerfung an die Sachgewalt der Gegebenheiten, geistig unreflektiert auch als Huldigung ihrer Macht (siehe Warenfetisch), als Fixierung des Bewusstseins der Verhältnisse zum Verhalten des Selbstbewusstseins.
Der Begriff, der lediglich Entsubjektivierung beschreibt, hat leider eine etwas undeutliche und unglückliche Bedeutung durch Theodor W. Adorno bekommen, weil er damit verschiedene Phänomene der Entfremdung und Selbstentfremdung, mit der Objektivierung überhaupt und auch der kulturellen Selbstwahrnehmung zusammengefasst hat (z.B. Veräußerung, Entäußertes, Versachlichtes, Sachlichkeit, Versachlichung). Die Verkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie von Marx in der Wertform dargelegt worden war, worin ihre Sache den Menschen entfremdet und über sie mächtig ist, verstand Adorno darin, dass Menschen sich selbst zur Sache machen ließen, also nicht wirklich als Objekte einer sachlichen Macht existieren musten, die sich aus dem Warentausch und der darin erzwungenen Konkurrenzverhältnisse ergab. Die Verkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie von Marx in der Wertform dargelegt worden war, worin ihre Sache ihnen entfremdet und über sie mächtig ist, verstand er als bloßes Ding sein, also darin, dass Menschen sich selbst zur Sache machen ließen.
Damit war die marxistische Kritik der Philosophie zur Wolke eines Vorwurfs gegen die Menschen regrediert, der den mündigen Menschen einklagt. Er fällt damit auf die Aufklärung, auf den Appell an den vernünftigen Menschen zurück, der sich Rechenschaft über sein Unvernunft zu geben hat wie sie ja letztlich mit dem politischen Wille definiert ist. Nicht die Logik einer entfremdeten Sache, sondern die Unvernunft der Menschen, ihre Ergebenheit in die Verschleierung unmenschlicher Verhältnisse ist der Gegenstand seines Erkenntnisinteresses. Nicht das Bewusstsein verkehrter Verhältnisse sollte diese aufheben, sondern ein wahres Bewusstsein sollte als Wissen um die Wahrheit die Verhältnisse des Lebens bestimmen. Und dessen Wahrheit musste nur das Wissen um seine Negation sein. Die negative Dialektik Adornos blieb an der Aufklärung kleben, die sie kritisieren wollte, wenn auch in einer weit sublimeren, weil völlig abgehobenen Rationalität. Sie unterstellt ja gerade das, was sie kritisiert, als Notwendigkeit: menschliche Identität, als Wahrheit, die nicht sein kann. Von daher impliziert das die Forderung nach einem Wesen, das nicht ist, unterstellt also ähnlich wie Heidegger, dem er mit Recht einen "Jargon einer Eigentlichkeit" vorwirft, ein unwesentliches Dasein, das durch wesentliches Sein erst aufgehoben werden kann. Und er leugnet damit die widersprüchliche Wirklichkeit, welche nach Marx die Bedingungen enthält, durch die Menschen die Entfremdung ihres Lebens, die Enteignung ihrer Lebenkraft und Lebensszeit auch wirklich aufheben können. Adorno verbleibt in der Grundlage einer klassischen Theologie, in der Lebensphilosophie eines unerfüllten Lebens, und behauptet damit dessen Auflösung in der Verwirklichung des Gedankens eines wahren Lebens, also durch die Wahrhaftigkeit des Denkens.
Verdinglichung ist bei Adorno daher auch wesentlich nur falsches Bewusstsein, bürgerliche Identität, die einem Verblendungszusammenhang des Kapitals sich unterworfen habe: die Identifizierung mit dem, worin sich die bürgerlichen Lebens- und Prduktionsverhältnisse entstehen und bewähren - nach seiner Auffassung als Produktion von Tauschwerten, die dadurch Blendwerk seien, dass sie als Schein von Gebrauchswerthaftigkeit bestünden. Nicht weil Gebrauchswerte durch die abstrakte Teilung der Arbeit isoliert voneinander existieren, sondern weil sie durch den Tauschwert erst verfälscht würden, wäre der Gebrauchswert entstellt und zur Verblendung geeignet.
Mit dieser grotesken Umkehrung des Marxschen Begriffs vom Warenfetischismus überholt Adorno dessen Erkenntnis durch Rückgriff auf den interpretativen Verstand einer kritischen Theorie, die sich vordringlich als eine Art philosophische Psychologie kritisch gibt und als solche auch vielfach übernommen wurde. Die Menschen sind darin nicht als Marktsubjekte, als Warenbesitzer, begriffen, die sich selbst im Widerspruch befinden, sondern als Marktobjekte einer Psychokratie, die von einer eigens hierfür aktiven Macht, der Kulturindustrie, verdinglicht würden, also ein ihnen fremdes, nicht in sich selbst schon widersprüchliches Selbstbewusstsein erlangen, das sie als Ding bestätigt und Ding sein lässt.
Für die Linke der Nachkriegszeit machte besonders dies den kritischen Charakter eines theoretischen Antikapitalismus aus. Sie konnte sich darin wieder als Aufklärer verstehen, die das Übel der Bewusstseinsmächte zu im Bewusstsein selbst zu bekämpfen habe. Von daher konnte das an diese Verhältnisse aus eigener Verstandesnot fixierte Bewusstsein nicht aus der bloßen Ideologiekritik heraus durch deren Analyse aufgehoben werden, sondern durch eine Psychologie, welche die Internalisierung eines "falschen Bewusstseins" zu bekämpfen habe, welches Interesse an einem "falschen Leben" verfolge. Es war damit eine Konstruktion von "falschem Menschsein", eine Theologie der Verfälschung geschaffen, welche dem Falschen als Form eines Widerspruchs und damit auch dessen Substanz und Formbestimmung sich entziehen konnte, um dem einen Imperativ des "wahren Lebens" entgegen zu halten.
Indem der Verblendungszusammenhang, den die Kulturmächte erzeugten, bekämpft werde, würde auch die Verdinglichung des Bewusstsein bekämpft. Dabei sei vor allem die Unterwerfung des Bewusstseins unter diese Verhältnisse durch Anpassung der eigenen Bedürfnisse an sie (siehe Fetischisierung) Gegenstand der Kritik, also die Unterwerfung des Menschen unter die Tauschverhältnisse, dem Verfall an deren Falschheit (Täuschung), die ganz davon absieht, dass sie diese Verhältnisse zur wirklichen Lebensgrundlage, also als Existenzweise ihres Lebens haben, das auch durch sich schon in der Lage sein kann, seinen Widerspruch aufzuheben. Die kritische Theorie hatte sich dagegen hierauf vorwiegend mit der Negativen Dialektik) bezogen (siehe zur Mehrfachverwendung des Begriffs auch Friedmann Grenz: "Adornos Philosophie in Grundbegriffen", Suhrkamp-Verlag 1975, S.43ff). Im Unterschied zu Marx wird daher im Warenfetischismus aiuch nur eine Seite reflektiert, die Verdinglichung des Menschen zur Sache, nicht aber die Vermenschlichung der Sache selbst, die Macht, die sie wirklich über das Leben der Menschen hat, wo die Menschen durch sie mächtig werden. Hierdurch wurde die kritische Theorie eher zu einer kritischen Kulturtheorie, als dass sie eine Kritik der politischen Kultur hätte werden können.
Meinen wollte diese Theorie die Verkehrung von Mensch und Ding, die Adorno in dem ihm eigenen Marxverständnis als objektive wie subjektive Gegebenheit der bürgerlichen Gesellschaft ansah. Adorno hat mit seinem Begriff der Verdinglichung der Begrifflichkeit von Marx ein Gesellschaftsverständis untergeschoben, das Marx selbst ausdrücklich kritisiert hatte, indem er die doppelte Begründetheit des Gebrauchswerts in den Warentausch hinein vermittelt analysierte: Die Sache als Produkt von Arbeit, die in den Gebrauchswert als konkret nützliche Arbeit eingeht, verhält sich auf dem Markt nur zu einem anderen Produkt als wirkliche Sache unter der Bedingung des Tauschwerts, in welchem sich ausschließlich abstrakt menschliche Arbeit mitteilt.
Ein anderer Aspekt der Verdinglichung, der bei Adorno weitaus am meisten gebräuchlich war, war die psychologische Bedeutung in den Werturteilen des Bürgertums. Die zwischenmenschliche Wertschätzung, die sich darin ausrückte, war ihm zugleich Ausdruck der Selbstunterworfenheit der Menschen unter eine Realität, der sie sich als bloß "Geblendete" überantwortet haben, nicht aber als isolierte Wesen, die ihre Abwesenheit auch wirklich leiden. Damit hat seine Anschauung zwar viele Wahrnehmungen gut getroffen, aber in der Wendung hiergegen blieb er konservativer Realist: Gegen den realen Ungeist kann nur der reine Geist wahr sein. Und den wiederum kann es nicht innerhalb dieser Welt geben: "Wahr ist nur, was nicht von dieser Welt ist" (Adorno).
Wahr ist allerdings auch, dass die Gebrauchsgüter in ihrem Nutzen selbst nur beschränkt menschliche Güter sind. Als Dinge von Menschen sind sie auch von ihrem Gebrauchswert alleine her nicht menschliche Sache. Im Nutzen reflektieren sich alle möglichen Notwendigkeiten des bürgerlichen Lebens, wie sie im Tagesablauf und den Gewohnheiten entstehen. Originär menschlich ist vielleicht ein Stuhl; aber muss es ein Auto sein oder ein Psychopharmakon? Die Diskussion hierzu ist sicher nicht mehr mit dem Begriff der Verdinglichung zu führen. Es ist die Diskussion von bürgerlicher Kultur selbst.
Entfremdung und Verdinglichung
Der Begriff der Entfremdung erfordert die Untersuchung der ihm zugrunde liegenden Prozesse der Verdinglichung
Unter Entfremdung kann recht vorläufig ein Zustand verstanden werden, in dem die »natürlichen« und »organischen« Beziehungen des Menschen zu sich, zur äußeren Natur und zu seinen Mitmenschen eigentümlich verrückt sind. Allgemein ist Entfremdung so als eine defizitäre Beziehung zu begreifen. Gleichgültigkeit, Instrumentalisierung, Versachlichung, Künstlichkeit, Isolation, Sinnlosigkeit und Ohnmacht können vor diesem Hintergrund als Ausdruckformen dieses Defizits gelten. So verstanden hat Entfremdung zwar einerseits das Zeug dazu, zu einem Schlüsselbegriff der Krisendiagnosen der Moderne zu werden. Bei Lichte besehen lässt sich hier aber bereits ahnen, dass Entfremdung ein recht schillernder und undeutlicher Begriff ist, dem man, nach einem Urteil Georges Labicas, »nicht trauen sollte«.(1)
Ungeachtet des harschen Verdikts wird aber, bei aller begrifflichen Laxheit, deutlich, dass Entfremdung eine typisch moderne Stimmungslage einfängt. Entfremdung genießt also nach wie vor und trotz seines gegenwärtigen Verschwindens aus dem Vokabular der Gesellschafts- und Kulturkritik einiges an Aktualität. Dies lassen auch zwei jüngere Veröffentlichungen(2) ahnen. Mit anderen Worten kann die Rede von der Entfremdung als ein Symptom angesehen werden, das dazu auffordert, erneut die Arbeit am Begriff aufzunehmen. Wie kommt es also dazu, dass Menschen sich selbst etwa nur noch als gleichgültig und ohnmächtig, ihre Beziehungen zu anderen als instrumentell und sinnlos erfahren? Wie lässt sich verstehen, dass diejenigen, die sich selbst vielleicht als »Subjekte« begreifen, ihrer Subjektivität beraubt sind? Wer sind die »Räuber«? Eine Antwort die das Handeln der Individuen selbst in Betracht zieht und keine Mutmaßungen über eine Verschwörung der Herrschenden anstellt, scheint dringlich. Ferner die Frage, wie sich dieser Zustand begreifen lässt, ohne auf anthropologische Konstanten zurückzugreifen, Entfremdung also gerade nicht als die schicksalhafte Abkehr von einem eigentlichen und einstmals versöhnten Naturwesen zu verstehen. Schließlich berührt Entfremdung die Frage nach Emanzipation und Freiheit; wie ist ihre Aufhebung denkbar? Ausgangspunkt ist demnach, Entfremdung nicht als etwas zu begreifen, was erklärt, sondern vielmehr als etwas, was zu erklären ist.
Unbegriffene Entfremdung
Mit Jean Jacques Rousseau nimmt ein Entfremdungsdiskurs im heute gebräuchlichen, zivilisationskritischen Sinne seinen Anfang. Freilich verfügt Rousseau noch nicht über einen Begriff von Entfremdung, der Sache nach aber ist er bereits mit dem Phänomen befasst. Er interpretiert den Zivilisationsprozess als einen Akt der Bedürfnisverfeinerung der Menschen, der sie in Abhängigkeit von künstlichen Bedürfnissen bringt, ja sie nach und nach von ihrer natürlichen Freiheit entfremdet. Am Ende des Zivilisationsprozesses stehen Hochmut, Eitelkeit und Heuchelei. Pointiert fasst Rousseau seine Überlegungen zusammen: »Der Wilde lebt in sich selbst, der Mensch in der Gesellschaft hingegen lebt immer außer sich und vermag nur in der Meinung der Anderen zu leben.«(3) Damit wird Rousseau zum Begründer der modernen Sozialphilosophie. Er fragt nach den strukturellen Beschränktheiten der modernen Zivilisation und orientiert sich dabei an einem idealen Dasein des Menschen, angelegt in der Ausstattung der Gattung. Zugleich markiert Rousseau damit aber auch die Grenzen einer klassischen Entfremdungstheorie; zu Recht sind auf anthropologischen Erwägungen ruhende Entfremdungstheorien diskreditiert.
Aber auch ein Verständnis von Entfremdung, das sich dieses substanzialistischen Problems bewusst ist, liefert keine Garantie für eine überzeugende Erfassung des betreffenden Phänomens. Dies gilt zum Beispiel für Rahel Jaeggis Aktualisierungsversuch.(4) Entfremdet sind, so die Autorin, Lebensformen, »mit [denen] der Einzelne sich nicht identifizieren, in [denen] er sich nicht »verwirklichen«, die er sich nicht ›zu Eigen‹ machen kann.«(5) »Selbstentfremdung«, so die These, ist als Zustand zu kennzeichnen, in dem man sich »in entscheidender Weise das Leben, das man führt, nicht aneignen kann, und in dem man in dem, was man tut, nicht über sich selbst verfügt.«(6) Jaeggi verdeutlich den Zustand der Entfremdung anhand eines Wissenschaftlers, der bis dato ein recht wechselhaftes und ausschweifendes Leben geführt hat.(7) Nunmehr findet er sich plötzlich in den geordneten Bahnen der Ein-Kind-Kleinfamilie wieder. Nach der familiären »Umstellung«, mit eignem Haus und Gartenarbeit, erscheint ihm sein Leben eigentümlich fremd.
Jaeggis Sichtweise zieht nicht in Erwägung, dass es unterhalb der Oberfläche der ausschweifenden wie familiären Subjektivität etwas geben könnte, das jeder Form von Selbstverwirklichung diametral entgegensteht. Sie betrachtet Entfremdung einzig aus der »Perspektive des Subjekts«(8) und unterstellt dabei, dass sich über dies Subjekt überhaupt positive Aussagen treffen lassen. Mit diesem Subjekt verhält es sich aber ähnlich, wie mit den von Adorno stets kritisierten Konzepten des Selbst. In ihnen entdeckt er nichts weiter als eine positive Anthropologie, die mit kritischer Theorie unvereinbar ist, weil schließlich unter der Last der Vorgeschichte die Menschen »überhaupt noch nicht sie selbst«(9) sind. In Jaeggis Perspektive bleibt unberücksichtigt, dass Vergesellschaftung und Entfremdung in einem engen Zusammenhang stehen, dass in dieser Gesellschaft ein nicht-entfremdetes Leben gar nicht vorstellbar ist.
Wider Erwarten lässt gerade Rousseau diesen Zusammenhang erahnen. So nennt er einerseits den »Menschen« des Naturzustandes nur zu konsequent »den Wilden.« Andererseits denkt er den Prozess der Zivilisation als in Gang gebracht durch soziale Interaktionen und Kommunikationen. Der Naturzustand endet bereits mit Formen familiärer und sippenhafter Interaktion.(10)
Mit Rousseau lässt sich also festhalten, dass ein vorgesellschaftlicher Mensch gar nicht existiert und dass jegliche Formen des geselligen Austauschs bereits entfremdet sind. Irgendetwas passiert also, sobald die Menschheit als Menschheit den Naturzustand verlässt; irgendetwas, das gemeinhin mit dem Begriff der Entfremdung belegt wird. Das aber fordert dazu auf, sich diese Formen selbst anzuschauen.
Der Naturzustand des »Menschen«, den Rousseau idealisiert, ist nicht als Reich der Freiheit zu verstehen. Denn da, wo eine Unterscheidung zwischen Mensch und Natur schlechterdings nicht möglich ist, wo alles als »Schrecken des blinden Naturzusammenhangs«(11) anzusehen ist, da kann nicht die Rede sein von einer glücklichen Urgeschichte der Menschheit. Nur ungefähr kann gesagt werden, dass die »Wilden« sich irgendwann aufmachten, die Übermacht der Natur zu überwinden. Es ist aber nicht der Aufbruch als solcher, der den »Sündenfall« markiert. Der emanzipatorische Wert des Ausgangs aus der Natur kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Weit schwerwiegender ist, dass die Menschheit aus schierer Angst um ihre Selbsterhaltung und in blanker Selbstüberschätzung versuchte die Natur zu beherrschen.
Damit lässt sich die Frage nach den Formen des Austausches genauer fassen. Nicht Interaktion und Kommunikation als solche sind problematisch, sondern Interaktion und Kommunikation so sie im Schatten der Angst vor dem Rückfall in Natur stehen. Es geht also darum, die Formen des menschlichen Umgangs mit den Gegenständen der Natur aus dem Anteil der »Lebensnot«(12) an der Geschichte zu begreifen. Dies ist fundamental für das Verständnis aller »historischen Fatalität.«(13)
Hegels Vorarbeit und die Marxsche Verwirklichung
Der Mensch musste, um sein Überleben zu sichern, Umgangsformen mit der übermächtigen Umwelt ausbilden, die geeignet waren, Natur zu bezwingen, heißt die von ihr ausgehenden Gefahren abzuwehren. Zu diesem Zweck entwarf er ideelle und materielle Werkzeuge, die schließlich das zuvor Unüberschaubare theoretisch-begrifflich wie auch praktisch bewältigbar machten. Diese Werkzeuge sind aber ambivalent zu bewerten. Einerseits erscheinen sie als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Emanzipation, andererseits verhalten sie sich der Objektwelt gegenüber wie »Liquidatoren.«(14)
Für das Verständnis insbesondere des »ideelle[n] Werkzeugs«(15), des urteilenden Begriffs, leistet Georg Wilhelm Friedrich Hegel erhebliche Vorarbeit.(16) Die normale, urteilende Sprache wird für ihn zum Problem, weil sie mit der ihr eigenen Identifikation die Dinge aufspießt und Bedeutung dauerhaft fixiert. Dadurch schneidet die alltägliche Sprache die qualitativen Eigentümlichkeiten des Dings ab. Das konkrete Sinnesdatum bekommt in der Erkenntnis die abstrakte Form des Begriffs. Dieser Vorgang hat wirklichkeitskonstituierenden Charakter. In der Kritik der Ideologie der Identität, die absieht von der Kontext- und Zeitgebundenheit der begrifflichen Unterscheidungshandlung, liegt der verdinglichungskritische Impuls der Philosophie Hegels. Zugleich betont Hegel damit im Kern die Veränderbarkeit und die Unabgeschlossenheit von Sinn und Bedeutung. Diese Überlegungen nimmt Marx zum Aufhänger einer kritischen Wendung.
Marx Auseinandersetzung mit dem wirklichen Leben der Menschen führt zu einer materialistischen Transformation der idealistischen Kritik des Identitätsprinzips. Damit stellt die Herausarbeitung des historischen Materialismus sowie der Kritik der politischen Ökonomie eine Differenzierung und Konkretisierung der Analyse der Entfremdungsproblematik dar.(17) Marx stellt das, was zuvor ideell als Welterschließung gefasst wurde, auf seine reale Grundlage, das heißt auf die der (Re-)Produktion des Menschen dienenden Lebensvollzüge. Wiederholt hat er dabei auf den wirklichkeitskonstituierenden Charakter welterschließender Tätigkeit aufmerksam gemacht. So heißt es etwa in der Deutschen Ideologie, dass die sinnliche Welt nicht ein von Ewigkeit her gegebenes Ding (an sich) ist, sondern »das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen.«(18) Alles, was in der Welt des Menschen ist, hat seinen Grund im tätigen Handeln der Menschen und – darin liegt sein emanzipatorischer Gehalt – ist durch dieses veränderbar.
»Der Mensch erzeugt seine Welt dadurch, daß er sich vergegenständlicht. Der Prozeß der Vergegenständlichung ist der Prozeß, in dem der Mensch seine Ideen und Ziele in materielle Dinge verwandelt, um seine Wünsche zu befriedigen und um die Gesellschaft und ihre Institutionen zu reproduzieren.«(19) Die Vergegenständlichung ist in dieser allgemeinen Fassung freilich noch direkt verbunden mit der Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche desjenigen, der sie vollbringt. Diese einzig nützliche Gegenstände, Gebrauchswerte produzierende Tätigkeit ruht sozusagen noch »in sich selbst«. Bringt diese Tätigkeit aber auf einem differenziert-arbeitsteiligen, will sagen gesellschaftlichen Niveau Waren hervor, so bleibt zwar die Tätigkeit wirklichkeitskonstituierend, das Produkt aber steht in keinem unmittelbaren Bezug mehr zu Bedürfnis und Wunsch. Vielmehr wird es nun durch fremde, dem Einzelnen nicht mehr unmittelbar zugängliche gesellschaftliche Umstände bestimmt. Als Warenproduzent ist der Mensch sozusagen »außer sich«, er lebt »in der Meinung der Anderen«.
Dabei erscheint doch die Ware dem spontanen Alltagsbewusstsein zunächst und zumeist als ein recht triviales Ding. Auch dass Waren einen bestimmten Wert haben ist ganz und gar nicht mysteriös. Gleichwohl besitzt die Ware etwas, was Marx dazu bringt in diesem Rahmen von einer »gespenstige[n] Gegenständlichkeit«(20) zu sprechen. Damit zusammen hängt, was hier eigentlich interessiert: Verdinglichung, Verselbständigung, ja Entfremdung. Denn dadurch, dass Gegenstände als Waren getauscht werden, erscheint eine gesellschaftliche Beziehung als ein Verhältnis von selbständigen Dingen. Am Ende dieses Prozesses der Verdinglichung und Verselbständigung steht dann ein als eigentümlich fremd und unheimlich erfahrenes Leben.
Was meint nun Verdinglichung bei Marx? Seine Analyse legt offen, dass die Wertgegenständlichkeit der Ware gar nicht an ihr selbst zu fassen ist – wie es noch dem Alltagsbewusstsein scheint –, sondern einzig an einer anderen Ware, die in diesem Augenblick als Verkörperung bzw. Ausdruck von Wert gilt. »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht […] darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere ihrer Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften der Dinge zurückspiegelt.«(21) Marx' Analyse zeigt, dass der Wert keine Natureigenschaft der Dinge ist. Gleichwohl erscheint es als besäßen sie von Natur aus diesen oder jenen Wert. Dies nennt Marx »den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.«(22)
Der Fetischismus ist aber nicht zu verwechseln mit einem kognitiven Fehler, er ist nicht bloß falsches Bewusstsein. Vielmehr ist der Fetischismus Ausdruck eines tatsächlichen Sachverhalts, denn die gesellschaftlichen Beziehungen sind warenvermittelt. Falsch ist vor diesem Hintergrund allein der Glaube, dass diese Eigenschaft den Dingen automatisch zukommt; falsch ist, dass die Wertgegenständlichkeit als »selbstverständliche Naturnotwendigkeit«(23), in Anlehnung an Hegel, ontologisiert wird, von ihrer Zeit- und Kontextgebundenheit abgesehen wird.
Gilt diese Verdinglichung und Verselbständigung bereits bezüglich der so genannten einfachen, zufälligen Wertform, so gilt dies in gesteigertem Maße für die Geldform. Das Geld kann als allgemeines Äquivalent einzig fungieren, weil alle anderen Waren von der Rolle des Wertausdrucks, der Wertverkörperung ausgeschlossen sind; mit anderen Worten, weil die Individuen sich auf das Geld als Geld beziehen. Dessen ungeachtet ist Geld aber nur Wert, weil es ihn in einer anderen Ware ausdrückt. »Die vermittelnde Bewegung verschwindet hinter ihrem eigenen Resultat und lässt keine Spur zurück.«(24) So erscheint im Geld eine gesellschaftliche Beziehung als gegenständliche Eigenschaft des Dings.
Damit ist der Rahmen, in dem die alltäglichen Handlungen der Individuen sich vollziehen, grob skizziert.(25) Es ist nicht das Bewusstsein über das Aufeinanderverwiesensein von Wert und Arbeit, das den Zusammenhang stiftet, sondern die unwillkürliche Art und Weise des Bezugs auf die Dinge. »Indem sie [die Menschen; D.L.] ihre verschiedenartigen Produkte als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten als menschliche Arbeit gleich. Sie tun es aber sie wissen es nicht«.(26) In genau dieser Reihenfolge. Der Mensch handelt, ohne sich über die selbst gesetzten Bedingungen eben dieses Handels im Klaren zu sein. Gesellschaft vollzieht sich hinterrücks und nachträglich, quasi als Zufallsprodukt des Warentauschs.
Aus diesem spezifischen Modus der Bezugnahme auf die Dinge ergibt sich schließlich eine für warenproduzierende Gesellschaften typische Form der Herrschaft: i.e. sachliche Herrschaft. Dass aber die Unterwerfung unter »Sachzwänge« aus dem Handeln der Menschen herrührt und eben nicht aus einer Konspiration der Herrschenden, bleibt weitgehend unsichtbar, da das spontane Alltagsbewusstsein den Zwängen von Ware und Geld unterlegen ist. Der Rationalität des Handelns sind so enge Grenzen gesetzt. Daher muss auch die Beschäftigung mit den Handlungen der Menschen notwendig scheitern, sofern sie lediglich auf das Bezug nimmt, was die Menschen wissen. Bleibt der von Marx erschlossene Rahmen unberücksichtigt, bleibt auch Entfremdung unverstanden. Ausgeblendet wird, was die Einzelnen nicht wissen, nämlich der durch Denken und Handeln selbsterzeugte und vorausgesetzte Rahmen. Alle Warentauschenden, keiner ausgenommen, bleiben in ihrem spontanen Bewusstsein befangen vom Warenfetisch.
Marx zeigt, wie etwas rein Gesellschaftliches verdinglicht wird. Durch das Handeln der Menschen entwickeln sich gesellschaftlich-unbewusste Strukturen. Diese von keinem intendierten Vorgaben erscheinen als verselbständigt und bestimmen fortan Wohl und Wehe der Menschen, ohne dass sie unmittelbar verändernd eingreifen können. »Um für den Philosophen verständlich zu bleiben«(27), ließe sich angesichts der Verdinglichung und Verselbständigung des Werts durchaus auch von »allgemeiner Entfremdung« sprechen.(28)
Georg Lukács Theorie der Verdinglichung
Am Leitfaden des Marxschen Fetischtheorems entwirft Georg Lukács 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein in der Krise des Marxismus eine umfassende Beschreibung und Kritik des »modernen Kapitalismus.« Im Zentrum steht dabei der Aufsatz Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. Hierin wird »Verdinglichung« als Grundbegriff einer kritischen Analyse in zweifacher Hinsicht – als gesellschaftskritischer und rationalitätskritischer Begriff – eingeführt. Lukács' zentraler Gedanke ist, dass mit dem modernen Kapitalismus die Warenform »sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft durchdring[t] und nach ihrem Ebenbilde umform[t].«(29) Sie strukturiert nicht allein die Beziehungen an sich unabhängiger, auf die Produktion von Waren gerichteter Prozesse, sondern auch die Beziehungen der Menschen zu sich selbst, zu einander und zur menschlichen Gesellschaft insgesamt. Sie prägt also die gesamte Wirklichkeit der Individuen.
Die Marktsubjekte sind genötigt, durch die Expansion des Warentauschs, sich zu ihrer Umwelt in ein verdinglichtes Verhältnis zu setzen. Das hat zur Konsequenz, dass die Gegenstände des Handelns einzig als potenziell verwertbare Objekte wahrgenommen werden; der Andere erscheint lediglich unter dem Gesichtspunkt einer erhofften ertragreichen Transaktion. Zuletzt erscheint auch das je eigene Vermögen als Ressource innerhalb der Transaktion. Der moderne Kapitalismus schlägt alles mit Ähnlichkeit – alles erscheint unter der Perspektive der Instrumentalisierung.
Lukács' zentrale These lautet schließlich, dass Verdinglichung im modernen Kapitalismus zur zweiten Natur geworden ist. Im modernen Kapitalismus muss es zu einer Art Gewohnheit werden, sich in dinghafter Gestalt wahrzunehmen. Gefühle, Kompetenzen, Gegenstände und andere Personen werden in dinghaft-objektiver Gestalt gesehen. Für alle gesellschaftlichen Sphären bedeutet dies, dass ausnahmslos jeder Mensch zu einem kontemplativen, teilnahmslosen und einflusslosen Zuschauer dessen wird, was passiert. Kontemplation und Teilnahmslosigkeit werden zu Schlüsselbegriffen für das, was sich im Lichte der ubiquitären Warenförmigkeit auf der Ebene des sozialen Handelns vollzieht. Dabei meint Kontemplation gerade nicht die konzentrierte Versenkung in eine interessierende Sache, sondern das genaue Gegenteil – die duldsame und passive Beobachtung. Teilnahmslosigkeit bedeutet für Lukács, dass der Akteur in keiner Weise vom Geschehen emotional affiziert ist. Alles zieht ohne jede innere Teilnahme an ihm vorüber. All das, was weiter oben über den philosophischen Begriff der Entfremdung gesagt wurde, wird von Lukács als durch die Expansion des Warentauschs verursacht angesehen und schließlich durch diese erklärt.
Zugleich legt Lukács im Verdinglichungsaufsatz eine kritische Untersuchung der Wissenschaft und Philosophie im modernen Kapitalismus vor. Beide fallen vor allem durch den Formalismus der Begriffsbildungen und einer von Wissenschaft und Philosophie unterstellten Unabänderlichkeit der Begrifflichkeiten auf. Lukács macht dagegen eine kontextualistische und zeitgebundene Auffassung von sprachlichen Unterscheidungen stark und eröffnet damit auch die Möglichkeit diese auf ihre gesellschaftliche Formbestimmtheit hin zu befragen. Einmal mehr setzt sich Hegels Theorie der Bedeutung durch.
Ungeachtet teilweise erheblicher Probleme, die sich mit Geschichte und Klassenbewusstsein verbinden,(30) bleibt Lukács' Verzahnung von Ökonomie-, Rationalitäts- und Begriffskritik paradigmatisch innerhalb einer Tradition der kritischen Theorie. Lukács eröffnet schließlich die Möglichkeit auf der Grundlage des Verdinglichungsbegriffs eine umfassende und materialistische Theorie von Entfremdung zu entwerfen.
Schluss
Hegels Philosophie gewährte einen ersten Blick auf das Prinzip, das der Verdinglichung zugrunde liegt, i.e. Identitäts-/Äquivalenzprinzip. Marx und nach ihm Lukács wendeten die idealistischen Überlegungen Hegels ins Materialistische und formulierten so eine gesellschaftskritische Theorie der Verdinglichung. Der Begriff der Verdinglichung bringt die Pointe der Marxschen Wertformanalyse treffend auf den Punkt. Warentauschende Gesellschaften sind demnach Gesellschaften, in denen abstraktifizierende Prinzipien – etwa das Äquivalenzprinzip – dominant sind. Durch diese Prinzipien werden die gesellschaftlichen Subjekte zu Objekten der wirtschaftlichen und schließlich, das konnte Lukács verdeutlichen, der gesellschaftlichen Entwicklung insgesamt. Denn je weiter die Warenproduktion in bis dato nicht betroffene Bereiche einsickert, desto umfassender wird das System der verdinglichten Lebensformen. Gerade aber die auf Unwissenheit ruhende Verwendung der Rationalität der Warenproduktion, erinnert sei hier an Marx' abkürzende Formulierung »sie tun es, aber sie wissen es nicht«, verbietet es schließlich, sich verstehend auf das Wissen der Subjekte einzulassen. Damit soll in keiner Weise in Abrede gestellt werden, dass sich Entfremdung im Bewusstsein der Individuen niederschlägt. Dieser Niederschlag, zum Beispiel das Gefühl des erwähnten Wissenschaftlers und Familienvaters, kann aber nur als Aufforderung begriffen werden, die Verhältnisse in denen er handelt, dies »strukturelle Ganze«(31) näher zu analysieren. Insgesamt konnte bis hierher gezeigt werden, wie dem Handeln ein gesellschaftlich-unbewusstes Prinzip zugrunde liegt, das, obschon angewandt, nicht erkannt wird. Und wie schließlich so die vermeintlichen Subjekte sich ihrer Subjektivität berauben.
Die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nimmt nun einerseits den sprachkritischen Strang Hegels wieder auf, verknüpft diesen mit den wertkritischen Überlegungen Marx' und Lukács' und betrachtet diese im Rahmen des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Das ermöglicht ihnen schließlich eine verdinglichungskritische Betrachtung des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, von geistiger und körperlicher Welterschließung insgesamt. Der Ausgang des Menschen aus Natur, dem der Verdinglichungsprozess immanent ist, entfernt die Menschen von dem, was sie zu beherrschen suchen, entfernt sie damit auch von sich selbst.
Damit aber legen Adorno und Horkheimer gerade kein Programm vor, das es ihnen erlaubt ihre Hände zynisch-realistisch in den Schoß zu legen. Vielmehr sehen sie den eigentümlichen Konnex von Vergesellschaftung und Verdinglichung durch eine notwendig falsche Form von Praxis begründet. Alle Verdinglichung hat nur solange statt, wie Praxis aus der Not heraus einzig und allein auf brüske Naturbeherrschung zielt. Damit schließen sie unmittelbar an Marx an. »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört. […] Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden«.(32)
Für Adorno und Horkheimer gilt, was für eine kritische Theorie von Verdinglichung insgesamt gilt, sie interpretieren die historische Fatalität getreu der vierten Feuerbachthese von Marx aus der »Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen«(33) des gesellschaftlichen Umgangs mit den Gegenständen der Natur. Im Begreifen dieser Praxis liegt bereits ihre Veränderung – Emanzipation – verborgen. Anmerkungen
(1) Georges Labica, »Entfremdung«, in: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Berlin 1984, 300.
(2) Gemeint sind hier zum einen die Studie von Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretischen Studie, Frankfurt am Main 2005 und zum anderen die Veröffentlichung von Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main 2006.
(3) Jean-Jacques Rousseau, »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit der Menschen«, in: ders., Sozialphilosophische und politische Schriften, München 1981, 123.
(4) Jaeggi, Entfremdung.
(5) Ebd., 15.
(6) Ebd., 68; Hervorhebung im Original.
(7) Ebd., 72.
(8) Ebd., 183.
(9) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1997, 274.
(10) In dankbarer Offenheit macht er keinen Unterschied zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft.
(11) Theodor W. Adorno, »Zu Subjekt und Objekt«, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1970, 152.
(12) Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Leipzig, Wien, Zürich 1926, 322.
(13) Theodor W. Adorno, »Veblens Angriff auf die Kultur«. in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, 61.
(14) Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1995, 19.
(15) Ebd., 46
(16) In aller Kürze sei hier auf einige wenige Aspekte der Philosophie Hegels eingegangen. Ausführlicher hierzu vgl. Christoph Demmerling, Sprache und Verdinglichung. Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1994.
(17) Über die Quellen und die Entwicklung der Marxschen Beschäftigung mit dem Entfremdungsphänomen informiert unter anderem Christian Schmidt, »Entfremdung und die Reproduktion der Unvernunft«, in: Marx-Engels-Jahrbuch, 2005.
(18) MEW 3, 43; Hervorhebung im Original.
(19) Joachim Israel, Der Begriff der Entfremdung. Zur Verdinglichung des Menschen in der bürokratischen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg, 1985, 90; Hervorh. D.L.
(20) MEW 23, 52.
(21) MEW 23, 86; Hervorh. D.L.
(22) Ebd. 87.
(23) Ebd. 23, 95/96.
(24) Ebd., 107.
(25) Ausführlicher hierzu etwa Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2004.
(26) MEW 23, 88.
(27) MEW 3, 34.
(28) Freilich ist bis hierher vom »modernen Kapitalismus« nur indirekt das Wort gewesen. Zu den spezifischen Formen von Entfremdung im nationalökonomischen Zustand vgl. Alfred Oppolzer, »Entfremdung«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 3, Berlin 1997.
(29) Georg Lukács, »Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats«, in: ders., Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über Marxistische Dialektik, Amsterdam 1968, 96.
(30) Vgl. die mit Vorbehalt zu lesende Kritik von Rahel Jaeggi, »Verdinglichung – ein aktueller Begriff?«, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 1998/99, 68ff.
(31) Eberhard Braun, Verkehrung statt Verdinglichung – Marxens Wertformanalyse mit Blick auf Geschichte und Klassenbewußtsein kritisch betrachtet, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, 2000, 57.
(32) MEW 25, 828.
(33) MEW 3, 6
== DIRK LEHMANN==
Der Autor ist Soziologe und lebt in Bielefeld.
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