Freitag, 16. November 2018

Britische Regierungschefin will »Brexit«-Vertrag durchs Parlament bringen. Mehrere Minister zurückgetreten. Misstrauensantrag gegen May geplant

Chaostage in London


Von Christian Bunke, Manchester
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An Rückhalt verloren: Die britische Premierministerin Theresa May am 18. Oktober beim EU-Gipfel in Brüssel
Es gibt in Großbritannien keine parlamentarische Mehrheit für den Entwurf eines Abkommens zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Nur einen Tag nach seinem Erscheinen ist das 500seitige Dokument damit bereits wieder obsolet. Mehr als drei Stunden versuchte Premierministerin Theresa May am Donnerstag, den Entwurf im Londoner Unterhaus zu verteidigen. Nur wenige Abgeordnete stellten sich in ihren Redebeiträgen hinter das Abkommen. Die überwiegende Mehrheit der Parlamentarier – einschließlich der regierenden Tories – ließ daran kein gutes Haar.
Die Tolerierung des Kabinetts durch die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) ist Geschichte – die Regierungsmehrheit somit auch. Die DUP kündigte an, auf jeden Fall gegen den Vertragsentwurf zu stimmen. Sie sieht durch das Abkommen die Einheit Großbritanniens gefährdet.
Währenddessen droht der Premierministerin ein Misstrauensantrag aus den eigenen Reihen. 48 Abgeordnete müssen dafür eine Stellungnahme an den Fraktionsvorsitzenden der Tories abgeben. Zu jW-Redaktionsschluss war noch offen, ob diese Zahl zustande kommt. Sechs Regierungsmitglieder sind jedoch im Lauf des Tages zurückgetreten, darunter »Brexit«-Minister Dominic Raab. Weitere Rücktritte könnten folgen.
Auch die Scottish National Party (SNP) hat ihre Unterhausabgeordneten angewiesen, gegen den Vertragsentwurf zu stimmen. »Das vorgeschlagene Abkommen bringt Schottland einen schwerwiegenden Wettbewerbsnachteil gegenüber Nordirland ein«, erklärte die Parteivorsitzende Nicola Sturgeon vor dem schottischen Regionalparlament am Donnerstag nachmittag.
Der vorgeschlagene Vertragstext sieht eine »Übergangsperiode« mindestens bis zum Jahr 2020 vor. Während dieser Zeit sollen neue Handels- und Kooperationsverträge zwischen Großbritannien und der EU ausgehandelt werden. Sollte diese Frist nicht reichen, kann sie immer wieder verschoben werden.
Für die Dauer der Übergangsperiode bleibt Großbritannien in einer Zollunion mit der EU und im gemeinsamen Binnenmarkt, verliert aber alle politischen Mitgestaltungsmöglichkeiten. Sollte die Übergangsperiode nicht verlängert werden, obwohl insbesondere in der irischen Grenzfrage noch Probleme offenstehen, tritt eine Sonderregelung in Kraft. Diese sieht vor, dass Nordirland zum Teil einer Zollunion mit der EU wird.
Diese Zollunion kann nur aufgelöst werden, wenn sowohl Großbritannien als auch die EU dem zustimmen. Etwaige Konflikte sollen letztinstanzlich durch den Europäischen Gerichtshof entschieden werden. Für Schottland ist eine solche Zollunion nicht vorgesehen, deshalb der Widerspruch der SNP.
Der »Scheidungsvertrag« greift tief in die nationale Souveränität Großbritanniens ein. Das gilt auch für Gestaltungsfreiheiten in der Wirtschaftspolitik. So wies Labour-Parteichef Jeremy Corbyn in der Unterhausdebatte darauf hin, dass im Vertragsrecht Möglichkeiten staatlicher Hilfen für in Schwierigkeiten geratene Industrien eingeschränkt werden. Labour wird gegen den Vertrag stimmen.
Nur die Vertreter der Großbanken und internationaler Konzerne zeigten sich am Donnerstag vorsichtig zufrieden mit dem Verhandlungsergebnis. Die Übergangsperiode sei ein wichtiger Schritt vorwärts, es gebe aber noch viele Unsicherheiten, so die Generaldirektorin des Unternehmerverbandes CBI in einer Mitteilung. Die lange schwelende britische Staatskrise ist nun eskaliert. Das wird auch an der EU nicht spurlos vorübergehen.

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