Donnerstag, 3. Dezember 2015

Schwarzfahr-Prozess in Gießen: Angeklagter dreht den Spieß um und stellt Strafanzeige gegen Staatsanwaltschaft wegen Verfolgung Unschuldiger


Der Prozess um die Frage, ob offen gekennzeichnetes Schwarzfahren eine Straftat ist, geht weiter. Der zweite Verhandlungstag konnte nur die Geschehnisse einer fahrscheinlosen Fahrt aufklären. Die Zugbegleiterin beschrieb die Abläufe dort als „Demonstration“. Es sei klar erkennbar gewesen, dass die Beteiligten keine Fahrkarten gehabt hätten. Da der Richter dem Angeklagten fortlaufend das Recht entzog, eigene Ausführungen zu machen, stellte der einen Befangenheitsantrag. So musste der Prozess unterbrochen werden. Fortsetzungstermin ist der 18.12. um 10.30 Uhr im Amtsgericht Gießen.
 
„In diesem ganzen Verfahren gibt es nur eine Straftat: Die der Staatsanwaltschaft, mich zu verfolgen“, schimpfte der Angeklagte am Ende der Verhandlung am Montag, den 30.11.2015 im Amtsgericht Gießen. Zuvor hatte eine ehemalige Zugbegleiterin ihre Sicht der Geschehnisse am 2. März 2015 auf der Strecke von Kempten über Buchloe nach München geschildert. Es habe eine Gruppe eine Demonstration im Zug abgehalten. Diese seien mit Schildern und Buttons als fahrscheinlos gekennzeichnet gewesen und hätten zudem an alle Fahrgäste Flugblätter verteilt, auf denen ebenfalls zu lesen war, dass die Gruppe ohne Fahrschein unterwegs war. Hauptinhalt des Flugblattes sei allerdings die Forderung danach gewesen, dass Busse und Bahnen für alle Menschen und ohne Fahrkarte benutzbar gemacht werden sollten. Die Zeugin äußerte sogar Sympathie für diese Forderung.
Ähnliche Angaben zu den Abläufen hatte die Zugbegleiterin auch schon in einem schriftlichen Bericht gemacht, der als einziges Beweismittel in den Gerichtsakten zu finden war. Ein offen erkennbares Fahren ohne Fahrschein aber ist keine „Erschleichung von Leistungen“, wie der Strafparagraph lautet. Dennoch beantragte die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl und behauptete dort wider besseren Wissens, die Aktivist_innen „benutzten den äußeren Umständen nach als zahlungswilliger Fahrgast“ den Zug am 2. März. Diese Lüge war notwendig, um ein strafbares Verhalten behaupten zu können – weil die von der Zugbegleiterin beschriebene Demonstration mit klar erkennbarer Kennzeichnung des Schwarzfahrens eben nicht strafbar wäre. Die Strafverfolgung und die belastende Lüge seien derart verfälschend, dass die Straftatbestände der „Verfolgung Unschuldiger“ und der „falschen Verdächtigung“ erfüllt sind – so der Angeklagte, der nun die ihn verfolgende Behörde also selbst anzeigt. Es sei zudem nicht das erste Mal, dass die Gießener Staatsanwaltschaft mit Lügen und Erfindungen gegen ihn vorgehe, fügte er in der Strafanzeige hinzu.
 
Ob die Staatsanwaltschaft Gießen allerdings ein Ermittlungsverfahren startet, darf bezweifelt werden. Immerhin müsste sie gegen sich selbst ermitteln. Offen ist die Frage, ob sie trotz der Entlarvung der Lüge, die einzige Grundlage des Strafbefehlsentwurfs war, weiter auf eine Verurteilung bestehen wird. Der nächste Verhandlungstermin im Verfahren wegen vermeintlichen Schwarzfahrens ist Freitag, 18.12., um 9.30 Uhr im Amtsgericht Gießen.
 
Weitere Informationen:

Hinweis:
In den kommenden Wochen finden in der Projektwerkstatt Saasen Seminare für politisch Aktive und Interessierte statt, darunter auch zum Thema Nulltarif und Aktionsschwarzfahren. Alle Termine finden sich unter www.projektwerkstatt.de/termine.
Drei Themen passen besonders gut zur Frage des oben beschriebenen Strafprozesses:
  • 18.-20.12. in der Projektwerkstatt: Sich einmischen – Akten und Pläne studieren, mitreden und protestieren vor Ort
    Kreativer und widerständiger Protest ist gut. Das dürfte inkompatibel sein mit dem Versuch, sich ständig mit den Herrschenden und Privilegierten zu verbinden, um kleine Vorteile zu ergattern, aber damit das Ganze selbst zu unterstützen. Es bedeutet aber nicht, zu den Strukturen des herrschenden Systems ohnmächtigen Abstand zu halten. Ganz im Gegenteil: In den Kochtöpfen der Macht herumrühren, genau hinzugucken, Interessen zu demaskieren, Vorhaben frühzeitig und genau zu kennen, verbessert die Handlungsmöglichkeiten. Darum soll es gehen: Die vorhandenen Beteiligungs- und Handlungsmöglichkeiten im Rahmen des bestehenden Systems kennenzulernen, um sie – neben der direkten Aktion – optimal nutzen zu können, z.B. Akteneinsichtsrecht, Verwaltungsklagen gegen Planungen und Behördenentscheidungen, Bürger_innenbeteiligung bei Bauvorhaben, nach Immissionsschutzrecht usw. ++ Infoseiten zum Thema: www.projektwerkstatt.de/einmischen

  • 8.-10.1.2016 in der Projektwerkstatt: Direct-Action-Training (das ist ein neuer Termin, ursprünglich war es für 21.-23.12. geplant)
    Du findest, in der Welt läuft einiges verkehrt? Und fühlst Dich ohnmächtig, weil Du oft nicht weißt, wie das Bessere gelingen oder durchgesetzt werden kann? Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen in Zwangsanstalten, Diskriminierung und Ausbeutung - so vieles passiert täglich, aber kaum etwas hilft dagegen? Dann könnte dieses Direct-Action-Training (wahlweise: Workshop) helfen. Denn ganz so ohnmächtig, wie es scheint, sind wir nicht. Im Gegenteil: Es gibt viele Aktionsformen, die wir kennenlernen und üben können, um uns wirksamer wehren zu können, um lauter und deutlicher unsere Stimme zu erheben oder uns politisch einzumischen: Kommunikationsguerilla, verstecktes Theater, gezielte Blockaden oder Besetzungen, intelligente Störung von Abläufen und vieles mehr schaffen Aufmerksamkeit und bieten Platz für eigene Forderungen und Visionen. Wir werden konkrete Aktionsideen besprechen, den rechtlichen Rahmen durchleuchten und einiges ausprobieren. ++ Schon mal informieren? www.direct-action.de.vu

  • 22. bis 24.1. in der Projektwerkstatt: Seminar "Freie Fahrt für alle!"
    (Umwelt- und menschenfreundliche Verkehrssysteme, Nulltarif und Aktionsschwarzfahren)
    Wie sieht Mobilität heute aus - und wie wäre es, wenn nicht Herrschafts- oder Kapitalinteressen alles prägen würden? Welche gesellschaftlichen Folgen haben Autoverkehr, Regionalplanung, Supermärkte auf der grünen Wiese, lange Anfahrtswege zum Arbeitsplatz, weltweiter Produkte- und Rohstoffverkehr und so vieles mehr? Wie lässt sich Fuß-, Rad- und öffentlicher Verkehr fördern? Vor- und Nachteile des Nulltarifs (keine Fahrkarten mehr). Welche Rolle kann das Aktionsschwarzfahren spielen?

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