Mittwoch, 3. Juni 2015
Die Grünen: Moralbemäntelte Geopolitik
IMI-Standpunkt 2015/021
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 29. Mai 2015
Es waren nicht zuletzt Grüne Spitzenpolitiker wie Marieluise Beck, Rebecca Harms, Franziska Brantner, Ralf Fücks oder Manuel Sarrazin, die sich buchstäblich an vorderster Front für den Umsturz in der Ukraine engagierten. Per Assoziationsabkommen sollte das Land in den Genuss von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten kommen, so ihr Credo. Und hierfür war ihnen buchstäblich jedes Mittel recht: So wurden die sog. Maidan-Proteste enthusiastisch unterstützt, die dann dazu führten, dass der gewählte pro-russische Präsident Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 unter Gewaltandrohung aus dem Land gejagt wurde (landläufig wird so etwas als Putsch bezeichnet). Und weil der Machtwechsel ohne rechtsradikale Schlägerbanden nicht möglich gewesen wäre, wurden auch beide Augen zugedrückt, als diese dann für ihre „Verdienste“ mit hohen Ministerposten in der „Übergangsregierung“ belohnt wurden.
Im August 2014 unterschrieben u.a. die oben genannten Grünen-Politiker dann einen offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel, in dem sie faktisch einen verschärften Konfrontationskurs gegenüber Russland forderten: „Wird Europa zusehen, wie ein Staat zerstört wird, der sich für die europäischen Werte entschieden hat? Werden wir hinnehmen, dass die russische Führung die europäische Friedensordnung aus den Angeln hebt? […] Die Bundesregierung hat bisher hartnäckig vermieden, von einem Krieg Russlands gegen die Ukraine zu sprechen. Jede realistische Politik beginnt aber damit, die Dinge beim Namen zu nennen. Die EU darf keinen Zweifel daran lassen, dass die Aggression gegen einen Staat, mit dem sie ein Assoziationsabkommen geschlossen hat, einen hohen politischen und ökonomischen Preis kosten wird. Die Sanktionen gegen Russland müssen ausgeweitet, die Unterstützung für die Ukraine auf allen Ebenen verstärkt werden.“
Realitätscheck
Also nennen wir die Dinge beim Namen: Etwa, dass der Eskalation eine jahrzehntelange anti-russische NATO-Einkreisungspolitik vorausging (unter Bruch früherer Zusagen, dies zu unterlassen); dass das Assoziationsabkommen mit der Ukraine keineswegs altruistisch motiviert ist, sondern auf die periphere Eingliederung des Landes in die EU-Einflusssphäre abzielt; dass vor allem Deutschland und die USA seit Jahren oppositionelle Kräfte aufgebaut und gestärkt haben, die dann für die Machtübernahme bereitstanden; und dass die Faschisten mitnichten von der Bildfläche verschwunden sind, sondern im Gegenteil zu einer wesentlichen eigenständigen Kraft im Bürgerkrieg geworden sind; kurzum, dass es in der Ukraine um alles Mögliche ging und geht, aber bestimmt nicht um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss nicht einmal über den Grünen Tellerrand hinausgeblickt werden. So schrieb der Grüne Übervater und Ex-Außenminister Joschka Fischer in seinem Buch „Scheitert Europa?“ im Jahr 2014, dass es Deutschland und der EU in Osteuropa um knallharte geopolitische Interessen geht – und eine Konfrontation mit Russland wird dabei augenscheinlich billigend in Kauf genommen: „Die EU wird begreifen müssen, dass sie in ihrer östlichen und südlichen Nachbarschaft nicht in einem interessefreien Raum handelt, sondern dass sie dort mit widerstreitenden Interessen anderer Mächte, ja mit Rivalen konfrontiert wird […]. Die Erweiterungspolitik der EU […] ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Sicherheit der Europäischen Union, ja ihre entscheidende Machtprojektion nach außen in ihre geopolitische Nachbarschaft. […] Wladimir Putin hat die Weichen in Richtung Konfrontation gestellt und damit nicht nur eine Krise ausgelöst, die länger anhalten wird, sondern auch die tiefe Sinnkrise der NATO beendet […] aus einem Partner [ist] erneut ein Rivale geworden…“ (S. 122f.)
Manuel Sarrazin auf Konfrontationskurs
Ganz ähnlich wie Fischer argumentierte nun auch Manuel Sarrazin, Abgeordneter aus Hamburg und europapolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion. In einem Papier vom 20. Mai 2015 plädiert er für eine engagierte Eindämmungspolitik Russlands, das in die Schranken gewiesen werden müsse. Gleichzeitig sei es erforderlich, die eigenen Interessen in der Region engagiert durchzusetzen: „Die russische Politik in der Nachbarschaft macht es für die EU notwendig, sich für eine klare eigene Strategie in der Region und damit gegenüber Russland zu entscheiden. […] Deswegen muss sich die EU nach über zehn Jahren Nachbarschaftspolitik jetzt endlich zu den eigenen strategischen Interessen in der Region offen bekennen und diese auch den Partnern und Russland gegenüber klarstellen. Andernfalls verspielt sie früher oder später die Möglichkeit, stabilisierend Einfluss auf die Region nehmen zu können. Es bedarf eines klaren Bekenntnisses, das die EU in Zukunft nachhaltig und strategisch in die Region investieren wird und damit auch die frühere Politik eines ‚Russia First‘ ausdrücklich beendet. […] Deswegen muss die EU, wenn Russland das strategische Bekenntnis der EU als Bedrohung seiner im Kern illegitimen Ansprüche auffasst, bereit sein, mit allen Mitteln ihrer ‚soft power‘ auch in eine Konfrontation mit Russland zu gehen.“
In diesem Zusammenhang hält Sarrazin insbesondere die jüngste Ablehnung einer EU-Beitrittsperspektive für Georgien, Moldawien und die Ukraine auf dem Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft am 21./22. Mai 2015 für einen schweren Fehler. Tatsächlich war die dortige Ansage von Bundeskanzlerin Angela Merkels mehr als deutlich: „Die ‚Östliche Partnerschaft‘ sei ausdrücklich ‚kein Instrument der Erweiterungspolitik‘, sagte Merkel in ihrer Regierungserklärung. Das war vor allem für Ukrainer und Georgier eine bittere Pille. Die Regierungen beider Länder hatten sich vor dem Gipfel ein Signal gewünscht, das ihren Ländern Hoffnung machen würde auf eine EU-Mitgliedschaft.“ (Spiegel Online, 21.05.2015)
In Abgrenzung dazu plädiert Sarrazin für eine „wertegebundene Interessenpolitik“, die es notwendig mache, den assoziierten Ländern eine Beitrittsperspektive einzuräumen. Es sei falsch, so Sarrazin weiter, dass dies aus Rücksicht auf Russland unterlassen werde: „Dafür muss die EU unmissverständlich betonen, dass sie ihre Politik weiterhin an dieser Prämisse [der „wertegebundenen Interessenpolitik“] ausrichten wird. Hierzu gehört unbedingt auch, dass die freie Entscheidung der souveränen östlichen Nachbarstaaten der EU auch nicht dadurch eingeschränkt werden darf, dass die EU diesen Ländern unter Rücksicht auf zweifelhafte russische Interessen eine Beitrittsperspektive verwehrt, wenn sie sich frei und demokratisch für diesen Weg entscheiden wollen. […] Es war ein folgenschwerer Fehler, die Nachbarschaftspolitik 2004 ohne eine klare Aussage zu einer künftigen Beitrittsperspektive der Nachbarschaft gestartet zu haben.“
Falsche Rücksichtnahme?
In der Tat wurde eine Beitrittsperspektive schon 2003 im Kommissionspapier „Größeres Europa“, das die „Europäische Nachbarschaftspolitik“ auf den Weg brachte, mit folgendem Satz faktisch ausgeschlossen: “Die durch Nähe und Nachbarschaft aufgeworfenen praktischen Fragen sind getrennt von der Frage der Aussicht auf einen EU-Beitritt zu beantworten.” Was Sarrazin aber entweder nicht realisiert (oder verschweigt) ist, dass hierfür damals wie heute nicht die „falsche Rücksichtnahme auf Moskau“ verantwortlich ist, sondern die Interessen der EU-Großmächte. Kurz zusammengefasst gelang es ihnen mit dem EU-Verfassungsvertrag von 2003 (faktisch der spätere und heute geltende Vertrag von Lissabon) eine Neuverteilung der Stimmgewichtung durchzusetzen. Die nach einer Übergangsfrist seit November 2014 geltende Regelung berücksichtigt nun die Bevölkerungsgröße weit stärker als zuvor, was eine dramatische Verschiebung der Einflussmöglichkeiten im wichtigsten EU-Gremium, dem Rat der Staats- und Regierungschefs, zur Folge hat. Andreas Wehr beschrieb die Auswirkungen folgendermaßen: „Dadurch verschieben sich die Gewichte in der EU erheblich, denn durch die Einführung des Kriteriums der Bevölkerungsgröße verlieren nicht weniger als 23 der 28 Mitgliedsländer an Einfluss in der Union. Relativ gewinnen die großen Staaten Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Rumänien dazu. Der eigentliche Gewinner ist aber das mit Abstand bevölkerungsreichste Land der Union: die Bundesrepublik Deutschland. […] Das neue Abstimmungsverfahren ist ein weiterer Schritt der EU weg von einer Gemeinschaft souveräner und gleichberechtigter Staaten hin zu einer hierarchisch strukturierten Union mit dem Hegemon Deutschland an der Spitze.“ (junge Welt, 01.11.2014)
Aufgrund dieser Konstellation, bei der ein Beitritt weiterer Länder, insbesondere wenn sie eine große Bevölkerung aufweisen, den Machtzuwachs der großen EU-Staaten wieder konterkarieren würde, steht eine neue Erweiterungsrunde nicht ernsthaft zur Debatte. Russland oder die Ukraine-Krise haben damit nichts zu tun und ändern daran auch nichts.
Balken im Auge
Für Sarrazin ist ausschließlich Russland für die Eskalation des Konfliktes verantwortlich, eine westliche Verantwortung sieht er in keiner Weise. Wie Uli Cremer und Sava Stomporowski von der Grünen Friedensinitiative ausführen, ist das jedoch eine Position, die alles andere als hilfreich ist, um den Konflikt beilegen zu können: „Die Sarrazinsche Lösung ist denkbar einfach: »Ohne dass Putin gezwungen wird, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen und seine Unterstützung für die Separatisten einzustellen, wird eine dauerhafte friedliche Lösung schwierig werden.« Der Ukraine-Konflikt wird sicherlich nicht dadurch gelöst, dass nur die eine Seite die Minsker Vereinbarungen umsetzt. Diese waren schließlich keine bedingungslose Kapitulation Moskaus, sondern fordern allen Konfliktbeteiligten etwas ab. Frieden wird es in der Ukraine nur geben, wenn die externen Sponsoren, insbesondere Russland sowie die USA und die EU ihre jeweilige Klientel an die Kandare nehmen statt sie weiter aufzurüsten und in die Lage zu versetzen, den Krieg fortzuführen. In diesem Sinne ist die Ermahnung Manuel Sarrazins an Putin, er möge auf die Separatisten einwirken, damit diese Minsk-II einhielten, wenig zielführend. Eher mag die Bibel weiterhelfen: »Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?« (Matthaeus 7:3) Auch der Westen und seine Verbündeten in Kiew müssen liefern: Was ist mit den ausländischen Kämpfern und Militärberatern auf dieser Seite? Auch diese müssen abgezogen werden.“
Für Sarrazin liegt das Problem allein darin, dass die EU zwar bereit ist, „assoziierungswilligen Staaten“ selbstlos Hilfe zu gewähren, dies aber von Russland und seinem „neo-imperialen Hegemonieanspruch in der Region“ torpediert werde. Geflissentlich werden dabei die wirtschaftlichen und geopolitischen EU-Interessen ausgeblendet, die Joachim Becker, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, folgendermaßen beschreibt: „Das Assoziationsabkommen zwischen der EU und der Ukraine schreibt sich in eine doppelte Logik ein. Einerseits ist das Abkommen Ausdruck einer allgemein außenorientierten Wirtschaftsstrategie der EU. Da die inneren Absatzmöglichkeiten durch die Austeritätspolitik eingeschnürt werden, wird das Heil im Waren- und Kapitalexport gesucht. Im Dienst dieser Expansion stehen Freihandelsabkommen, im Fall der europäischen und Mittelmeerperipherie auch der Versuch der Übertragung von EU-Normen. Insofern sind die Assoziationsabkommen Ausdruck einer EU-Politik der untergeordneten Teilintegration der umgebenden Peripherie. Andererseits haben die östliche Partnerschaftspolitik und die Abkommen mit post-sowjetischen Staaten eine geopolitische Komponente und sind auf die Zurückdrängung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum gerichtet.“
Obwohl Sarrazin nassforsch fordert, die EU müsse sich zu den „eigenen strategischen Interessen in der Region offen bekennen“, ist von solchen Motiven nicht die Rede. Stattdessen reitet er (und viele andere) auf dem hohen Ross von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten daher, die er anscheinend als handlungsleitende Motive der europäischen Außenpolitik versteht. Damit verkennt er nicht nur die Realität, er kommt auch überhaupt nicht auf die Idee, das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen, wodurch Sarrazin sogar noch hinter Hardliner wie Christian Hacke zurückfällt. Der ist wenigstens in der Lage, die Dinge beim Namen zu nennen (und dann die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen): „[M]oralische Entrüstung ist kein Ersatz für eine selbstkritische Bestandsaufnahme westlicher Europa- und Russlandpolitik. Internationale Politik, auch die europäische, folgt letztlich nicht moralisierenden Aufwallungen, sondern in der Regel den ehernen Gesetzen von Macht, Prestige, Einfluss und Interesse.“
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