Mittwoch, 24. Juni 2015

Verwirrende Lehre (Jochanan Trilse-Finkelstein)

… zu verwirrtem Handel waltet über die Kunst. Wer seinen Goethe genau kennt, muß jetzt stutzen: Hieß das bei Goethe nicht »über die Welt«? Ja, so heißt es im Wortsinne. Mit diesem Satz begründete der alte Dichter wenige Tage vor seinem Tod seine Furcht, seinen nun vollendeten »Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil« der Öffentlichkeit preiszugeben: Er versiegelt die Endfassung und hält sie geheim. Doch seine Mitarbeiter Eckermann und Riemer veröffentlichen diesen zweiten Teil noch im gleichen Jahr; uraufgeführt wurde er 1875 in Weimar unter der Regie von Otto Devrient. Ein Ereignis in doppelter Hinsicht: Ein Großwerk der Deutschen wurde öffentlich bekannt, und es gab einen Meilenstein in der Entwicklung des Regietheaters. Nun nutzt der US-amerikanische Regisseur Robert Wilson diesen Text zur Begründung seiner Inszenierung, einer angeblichen Gesamtinszenierung von »Faust I und II« im Berliner Ensemble – sie dauerte nicht ganz viereinhalb Stunden. Jeder, der seinen »Faust« halbwegs kennt, muß stutzen: Was ist denn da passiert? Ja, es ist etwas passiert! Ganz gewiß ist Goethes Werk kein theaterfreundliches Werk, es ist eine Weltdichtung in dramatischer Form. Kaum ein Regisseur seit Devrient ist ohne gravierende Striche ausgekommen, und stets war vieles verlorengegangen – so geschickt und gut auch immer. Soweit ich erinnere und nachlese, hat es nur ein einziger Regisseur bislang gewagt, den kompletten Text zu inszenieren: Peter Stein vor einigen Jahren in Berlin, und diese Aufführung hat über 20 Stunden an zwei Tagen gedauert, ungeheuer viel gekostet und war – trotz Bestbesetzung (Bruno Ganz als Faust) – wahrhaftig nicht kurzweilig oder gar anregend. Einziges Resultat: Als Experiment von Nutzen, für etliche »Kenner« eine gute Sache, in normaler Theaterpraxis unbrauchbar. Doch zwischen Devrient und Stein gab es zahlreiche Versuche, so – und gleich mehrfach – von Max Reinhardt, später von Gustaf Gründgens (1941/42 am Berliner Staatstheater und 1957/58 in Hamburg), er selbst jeweils als Regisseur und in seiner Paraderolle als Mephisto. Die Hamburger hab ich gesehen. Grandios. Allerdings wurde eine »Tragödie des Mephisto« gespielt. Hatte die der Dichter gemeint? Im Titel steht »Faust. Der Tragödie erster Teil – Der Tragödie zweiter Teil«. Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz/Adolf Dresen hatten jeweils das Gesamtwerk geplant, doch eine Inszenierung war nie zustande gekommen; bei Langhoff waren es mehr die ökonomischen und damit auch politischen (Besetzungs-) Fragen im geteilten Berliner Theater. Bei Dresen/Heinz verhinderte ungeschickte DDR-Kulturpolitik eine vermutlich grandiose Aufführung (Fred Düren als besetzter Faust). Nicht zu unterschlagen sind die Gesamtaufführungen im Deutschen Nationaltheater Weimar seit 1949 (Hans-Robert Bortfeldt), 1959/60 durch Karl Kayser (derselbe 1981/82 in Leipzig), später dreimal durch Fritz Bennewitz (1965/67, 1975/76, 1981/82). Hinzuzufügen ist, daß auch im Schillertheater mehrfach Faust zu sehen war, unter anderem von Ernst Schröder in Inszenierungen von Lietzau und Wälterlin. So hat sich in der Theaterpraxis weitgehend die Zweiteilung durchgesetzt. In Dresden hatte man es vor einigen Jahren mit drei Teilen versucht. Nun also »Faust« wie überhaupt (ausgenommen der frühe »Urfaust«) erstmalig Goethe am Berliner Ensemble in einer Inszenierung von Robert Wilson, der vor allem mit fantastischen Lichtwirkungen arbeitete, und dem Komponisten Herbert Grönemeyer, der eine sehr laute Bühnenmusik beigesteuert hat (am schönsten und besonders tiefwirkend die stillen Phasen). An und in der Inszenierung wurde mit nichts gespart – außer mit Goethes Texten. Man war eben an einem Abend damit fertig. (In Schwerin hatte vor etlichen Dezennien Christoph Schroth ebenfalls einen Gesamtfaust für einen Abend gemacht, mit vier Fausten und einem weiblichen – in der Tat großartigen – Mephisto: Da hatte es etwa fünfeinhalb Stunden gedauert. Der Erfolg war enorm. Im theaterarmen DDR-Norden war da etwas Einmaliges geboten worden, trotz aller Verluste am Stück – es war vor allem ein Publikums- und damit auch ein kulturpolitischer Erfolg. Da reisten aus der ganzen DDR Besucher an. Das hatte damals eine Motivation. Was für eine gab es aber hier? Ich fand keine außer dem Eindruck, daß sich ein bereits erfolgsverliebter, dabei ehrgeiziger Spielleiter mit einem extravaganten Unternehmen Aufmerksamkeit holen wollte. Die hat er gewiß, doch eher eine beschämend negative. Es war alles aufwendig gemacht bis zur lichtdurchfluteten Hochstapelei – sie stand für nichts, für Goethes »Faust« schon gar nicht. Das Licht und immer noch mehr Licht verdunkelte fast alles. Die Texte waren verwurstet, Kürzungen bis fast zur Unverständlichkeit. Jemand, der das Werk nicht gekannt hat, konnte eigentlich gar nichts verstehen außer sonderbaren Verwirrungen. Irgendwelche Mädchen oder Damen, die Margarete und Helena hießen, irritierten den Helden, von dessen Besonderheit als Weltenforscher man eigentlich gar nichts erfahren hat, gar nicht konnte. Vereinzelt kamen einem Goethe-Sätze bekannt vor, meist aus dem Zusammenhang gerissen. Da wurde dauernd geschrien, so daß man sich auf einige der wenigen stillen Szenen freute, um das Gehör ausruhen zu können, doch dabei störte meist diese unglaublich laute Musik. Eine Menge meist junger Leute rannte auf der Bühne umher, an einen Osterspaziergang war dabei nicht zu denken. Die Menschenrudelei ließ dabei die gewaltigen Unterschiede solcher Bürgerszenen zu den Walpurgisnächten kaum erkennen. Von einer »einzigen Welt«, die der Regisseur begreifen wollte, war nichts zu merken – alles disparat, zerrissen, chaotisch. Die jungen Darsteller, sehr engagiert, doch fürs Falsche, konnten einem leid tun. Die Textbehandlung war miserabel, von Goethes freilich meist schwierigen Versen – vom fünfhebigen Jambus über den jambischen Trimeter zum sechshebigen Alexandriner – war kaum etwas zu hören. Es klang alles so entsetzlich gleichlaut und eben gleich. Hier wurde mitunter Theater gespielt wie von Striese im »Raub der Sabinerinnen«. Daß es hier nun gar fünf Fauste gab, brachte dennoch kaum irgendeine Differenzierung, die früher große Darsteller – etwa Werner Krauß, Ernst Wilhelm Borchert, Will Quadflieg oder Ernst Busch, Wolfgang Heinz, Wolfgang Langhoff – allein herausspielten. Die Aufführung wäre eine einzige Katastrophe, wenn sie nicht eine, freilich gewaltige, Szene gerettet hätte: Die mit dem gierig-schönen Leoparden auf der Leinwand – eine Metapher für Raubtierkapitalismus der schlimmen Art – grandios! Wie das – solche Perle in einem Schutthaufen? Wie gesagt: Hier stimmte fast nichts. Und das einem Goethe – und das in diesem Haus? Ob der davor sitzende Dichter-Philosoph, einst Begründer des Ensembles und Ahnherr eines so revolutionären wie menschlichen, so denkklaren Theaters sich nicht für eine Weile fortgestohlen hat? Ich könnte es verstehen.

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