Mittwoch, 24. Juni 2015

Korrigieren Sie Ihr Urteil über den Kosovokrieg und die damit verbundene Einübung Deutschlands in Militäreinsätze

Verantwortlich: Albrecht Müller Vermutlich haben sich viele Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten einen kritischen Blick auf die gravierende sicherheitspolitische Zäsur von 1999 bewahrt. Aber selbst wenn man damals das Geschehen kritisch betrachtete, vergisst man schnell wichtige Einzelheiten. Deshalb ist der folgende Beitrag von Reinhard Lange[*] sehr hilfreich. Außerdem ist er relevant für die Einordnung des aktuellen Geschehens und dabei vor allem der vielen militärischen Interventionen. Der Autor spannt den Bogen von Bismarcks außenpolitischen Vorstellungen über die Entspannungspolitik Willy Brandts und die damit verbundene Einsicht in die Notwendigkeit gemeinsamer Sicherheitsstrukturen in Europa bis zum Sündenfall Kosovokrieg. In diesem Teil liefert er dann viele Fakten, die zu einer einigermaßen korrekten Beurteilung des Geschehens wichtig sind. Und eben aktuell. Albrecht Müller. Der Kosovokrieg der NATO Warum der Westen den Krieg wollte und wie deutsche Politik heute das außenpolitische Erbe Bismarcks verspielt. Von Reinhard Lange. Am 18. Januar 1871, kurz vor dem Ende des deutsch-französischen Krieges, schuf der preußische Ministerpräsident und Außenminister in Personalunion Otto von Bismarck mit der Proklamation des preußischen Königs zum ersten Deutschen Kaiser den deutschen Nationalstaat. Mit der Gründung des Kaiserreiches erfüllte er damit eine der Forderungen der Deutschen Revolution von 1848/49, welche schon einige Jahre zuvor August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in seine heute berühmten Worte fasste: “Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland!” Nach der Reichsgründung wurde Bismarck durch Wilhelm I. in den Fürstenstand erhoben und erster Kanzler des Deutschen Reichs. Nachdem Wilhelm II., der Enkel des ersten Deutschen Kaisers, 1888 den Thron bestiegen hatte, fühlte er sich durch Bismarck in seinem Gestaltungsspielraum eingeschränkt und entließ 1890 den ihm zu widerspenstig gewordenen ersten Reichskanzler. Zu diesem Zeitpunkt konnte das junge Kaiserreich auf knapp zwei Jahrzehnte friedlicher und wirtschaftlich erfolgreicher Entwicklung zurückblicken, zu der die zurückhaltende Außenpolitik Bismarcks nicht wenig beigetragen hatte. Das geeinte und wirtschaftlich erstarkte Deutschland veränderte die Kräfteverhältnisse auf dem europäischen Kontinent. Der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands wurde von den bisher dominierenden Mächten Großbritannien, Österreich, Russland, und Frankreich mit Argwohn beobachtet. Bismarck sah die daraus erwachsenden Risiken und versuchte über eine Politik des Ausgleichs die Balance zwischen den Mächten zu wahren und Allianzen gegen das junge Kaiserreich zu verhindern. Er wollte mit seiner Außenpolitik das Umfeld für die weitere positive Entwicklung des von ihm geschaffenen Deutschen Reiches sichern. Diese Voraussetzungen sah er nicht in der weiteren Expansion und Konfrontation sondern in der Bewahrung des Friedens. Legendär sein Kommentar zwei Jahre vor dem Ende seiner Kanzlerschaft an einen Verfechter kolonialer Expansionspolitik: “Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Frankreich liegt links, Russland liegt rechts, in der Mitte liegen wir. Das ist meine Karte von Afrika.” Wenn es ein außenpolitisches Vermächtnis von Bismarck gibt, dann wird das in seiner Arbeit als Reichskanzler für die Bewahrung eines strategischen Gleichgewichts zwischen den Mächten deutlich und in seinem Verzicht auf Drohungen in der Außenpolitik. Exemplarisch dazu hier Auszüge aus einer Rede, die Bismarck am 5. Dezember 1876 vor dem Reichstag hielt, um eine förmliche parlamentarische Anfrage eines Abgeordneten an die Regierung zu beantworten. Dieser Abgeordnete erwartete eine politische Reaktion der Reichsregierung auf veränderte Regelungen Russlands bei der Erhebung von Zöllen, die letztlich auf eine Erhöhung der russischen Importzölle hinausliefen, welche dem deutschen Export natürlich schaden würde. Bismarck wies diese Forderung strikt zurück und antwortete sowohl in der Sache als auch grundsätzlich. Er lehnte es ab, wegen seiner Meinung nach wirtschaftlich schädlicher aber legitimer Handlungen Russlands in eine Eskalationsspirale einzutreten und wirtschaftliche Ziele mit außenpolitischen Drohungen erreichen zu wollen. Er benutzte das Bild des Kutschers eines Wagens, dem man in einer für ihn ungünstigen Situation einen Stock zwischen die Räder schiebt, was im Moment vielleicht wirken würde, sich aber später, wenn der Kutscher sich daran erinnert, rächen würde. Er verwies auf die unkontrollierbaren Folgen einer solchen Politik und erklärte speziell zu Russland: “… so lange wir auf diesem Flecke stehen, wird es Ihnen nie gelingen, unser gutes und solides Verhältniß zu Russland irgendwie zu alterieren und in die erprobte hundertjährige Freundschaft, die zwischen beiden Regierungen besteht, einen Riß zu machen.” Im selben Atemzug erklärt er aber auch, dass sich die guten Beziehungen zu Russland nicht gegen England richten würden: “Wir haben mit England nicht minder wie mit Rußland die Tradition einer hundertjährigen guten Beziehung, …” Sein Bemühen um Ausgleich mit allen Mächten ist in der Rede fast mit Händen zu greifen. Zum Maßstab seiner Außenpolitik macht er die “deutschen Interessen” – eine friedliche Entwicklung des Reichs, für die er ein berechenbares und möglichst stabiles Umfeld schaffen wollte. Hinsichtlich etwas, was wir heute vielleicht Osterweiterung oder Ostexpansion oder auch Einmischung in fremde Angelegenheiten nennen würden formuliert er seine berühmten Sätze: “Ich habe gesagt: ich werde zu irgend welcher aktiven Betheiligung Deutschlands an diesen Dingen nicht rathen, so lange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur … die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers werth wäre. Ich habe ausdrücken wollen, daß wir mit dem Blute unserer Landsleute und unserer Soldaten sparsamer sein müßten als es für eine willkürliche Politik einzusetzen, zu der uns kein Interesse zwingt.” Nach der Beendigung der Kanzlerschaft Bismarcks prägte Kaiser Wilhelm II. die deutsche Außenpolitik. Er wollte Deutschland nicht nur wirtschaftlich sondern auch machtpolitisch Weltgeltung verschaffen. Entsprechend trat er auf. Das Ergebnis ist bekannt. Nach zwei Weltkriegen, vielen Millionen Toten und Gebietsverlusten Deutschlands gelang es erst in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einer deutschen Regierung unter dem Kanzler Willy Brandt, mit der neuen Entspannungs-/Ostpolitik und der dadurch ermöglichten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der Schlussakte von Helsinki (1975) an die Prinzipien der Außenpolitik des ersten deutschen Kanzlers anzuknüpfen, nämlich den Ausgleich mit allen wichtigen Mächten zu finden, auch mit dem damaligen Warschauer Pakt. Zwar hatte davor schon Adenauer einiges geleistet, indem es ihm zum Beispiel gelang, die “Erbfeindschaft” mit Frankreich zu beenden. Doch setzte Adenauer allein auf die Westintegration. Der inzwischen entstandene Kalte Krieg konnte aber nur entschärft werden durch Einbeziehung aller Akteure. Deshalb waren die Entspannungspolitik und die folgende KSZE – übrigens mit vollem Engagement des dann regierenden Bundeskanzlers Helmut Schmidt – Meilensteine auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa. Mit der Glasnost-Politik Gorbatschows und dem Ende des Warschauer Paktes entstanden neue Chancen für dauerhaften Frieden in Europa. Die Fotos von Kohl und Gorbatschow bei ihrem Treffen im Kaukasus im Juli 1990 dokumentieren die Atmosphäre nach dem Ende des Kalten Krieges. Brandt war schon tot und die Sowjetunion Geschichte, als aus der ursprünglich als einmalige Konferenz geplanten KSZE am 1. Januar 1995 mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine neue Institution hervor ging, welche die Gewährleistung der friedlichen Entwicklung in Europa zu ihrem Ziel hat und dabei alle europäischen Länder umfasst (außer dem Kosovo), ebenso die USA und Kanada sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Diese Organisation ist allerdings nur so stark, wie die Mitgliedsländer es zulassen. In ihr gilt Einstimmigkeit. Die OSZE als eine Organisation kollektiver Sicherheit stand von Anfang an in Konkurrenz zur deutlich stärker militärisch ausgerichteten und US-dominierten NATO (NATO-Oberbefehlshaber ist stets ein US-General oder Admiral). Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Schaffung der OSZE musste deshalb die Frage beantwortet werden, ob die NATO überhaupt noch gebraucht wird? Heute, gerade einmal 25 Jahre nach der Entstehung der Fotos, welche Kohl und Gorbatschow im Kaukasus im offenbar so vertrauten und entspannten Umgang miteinander zeigen, und 20 Jahre nach Gründung der OSZE sehen wir andere Bilder in den Medien: Die deutsche Verteidigungsministerin und der NATO-Generalsekretär posieren vor einem Panzer in Polen, wo gerade die “NATO-Speerspitze” den Einsatz gegen Russland trainiert. Und der Bundespräsident fordert eine neue deutsche Außenpolitik, ein Ende der Zurückhaltung und eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt, welche ausdrücklich militärisches Engagement mit einschließen solle. Ohne Ironie muss man feststellen, dass sie damit der Politik des deutschen Kaisers näher stehen, der Deutschland Weltgeltung verschaffen wollte als der zurückhaltenden und bewahrenden Außenpolitik des ersten Reichskanzlers. Der Wandel in den internationalen Beziehungen von der Kooperation zur Konfrontation, der insbesondere zu vermehrten Spannungen zwischen dem Westen und Russland führt, ist gegenwärtig offensichtlich. Zunehmend wird wieder der Begriff Kalter Krieg verwendet, um den aktuellen Zustand dieser Beziehungen zu beschreiben. Wenn gefragt wird, wann und warum denn der Umschlag von Annäherung und Entspannung zu Konfrontation erfolgte, wird meist reflexartig auf die jüngsten Ereignisse um die Krim verwiesen. Die Abtrennung der Krim von der Ukraine sei eine Annexion Russlands gewesen, mit der zum ersten Mal im Nachkriegseuropa Grenzen gewaltsam verändert und Völkerrecht gebrochen worden sei. In der so erzählten Geschichte gibt es ein böses Gespenst aus der Vergangenheit mit Namen Putin, welches plötzlich und unerwartet auf der europäischen Bühne randaliert und für seine Expansionsbestrebungen bereit ist, friedliche Völker mit Krieg zu überziehen. Mit dieser Argumentation wird dann eine Politik begründet, die vorzugsweise auf Sanktionen setzt sowie verbale und militärische Aufrüstung betreibt. Diese Politik bewirkt wieder Gegenreaktionen der anderen Seite und plötzlich befindet man sich in einer Spirale der Eskalation. Dabei ist das Ziel all der Maßnahmen des Westens bisher ganz offenkundig verfehlt worden. Henry Kissinger bezeichnet deshalb Sanktionen auch nicht als Strategie sondern Ausdruck eines Mangels an Strategie. Bismarck hätte ihm, würde er heute noch leben, sicher zugestimmt. Seine aktuelle Amtsnachfolgerin wird diese Erkenntnis möglicherweise erst gewinnen, wenn die Folgen der Sanktionen für Deutschland schmerzhaft spürbar werden. Im Kontrast zur landläufigen Erzählung von der Schuld des bösen Russen am neuen Kalten Krieg, ist die Büchse der Pandora, die die Übel von Separatismus und Krieg über Europa ausschüttete, aber nicht 2014 auf der Krim geöffnet worden, sondern schon 15 Jahre davor an einem Verhandlungstisch in Frankreich. Man kann sogar den Moment genau bestimmen. Es war der Augenblick, in dem der US-Amerikaner Christopher Hill ein paar Blatt bedruckten Papiers in einem Schloss bei Paris auf eben diesen Tisch legte. Mit der Übergabe dieser wenigen und scheinbar harmlosen Seiten eines Vertragsentwurfes wurden monatelange diplomatische Friedensbemühungen abrupt beendet, der Startschuss für einen unehrenhaften Krieg gegeben, der der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr werden sollte und die dauerhafte Präsens amerikanischer Truppen auf dem Balkan begründet. Die Öffentlichkeit erfuhr wenig davon, denn es war allen Beteiligten verboten, Kontakt zu Journalisten aufzunehmen. Was klingt, wie das wenig glaubhafte Drehbuch zu einem Spionage-Thriller hat wirklich stattgefunden und war der Auftakt des Kosovokrieges der NATO, für dessen Zustandekommen auch deutsche Politiker wichtige Vor- und Hilfsarbeit leisteten. Das wirkliche Ziel dieses Krieges nannte das State Departement (das amerikanische Außenministerium) erst zwei Jahre später auf einer Konferenz, an der hohe ausländische Diplomaten und Ministerpräsidenten teilnahmen. Einer der Teilnehmer dieser Konferenz, der CDU-Sicherheitspolitiker und seinerzeitige Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE Willy Wimmer, berichtete in einem inzwischen veröffentlichten Schreiben an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder: “Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von NATO-Überlegungen hinderlich. Dafür sei die amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter. Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem 2. Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.” Wimmer fasst dann am Ende des Briefes an Schröder die durch das State Department vermittelten Grundzüge der US-Außenpolitik in folgende Worte: “Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von 2 Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine ähnliche Entwicklung den Völkerbund traf, war der Zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden.” Für die Herbeiführung des Krieges gegen Jugoslawien nutzte die US-Politik geschickt die sich dort nach dem Tode Titos entwickelten Spannungen zwischen den Volksgruppen, insbesondere zwischen Serben und Albanern. Ohne die Unterstützung seitens der führenden deutschen Politiker dieser Zeit wie Fischer, Schröder und Scharping sowie einiger anderer europäischer Politiker hätten die USA dabei keinen Erfolg haben können. Die Frage nach den deutschen Interessen in diesem Konflikt wurde seinerzeit nicht diskutiert. Denn wenn man sie diskutiert hätte, hätte das Ergebnis lauten müssen, dass Deutschland an Frieden in Europa interessiert ist und der bestehende Bürgerkrieg im Kosovo durch Verhandlungen beendet werden müsse und nicht durch Krieg. Dafür gab es damals seit vier Jahren ein eigens für solche Fälle geschaffenes kollektives Instrument, nämlich die OSZE. Kurz zur Vorgeschichte des Konfliktes: Die vorwiegend von Albanern bewohnte serbische Provinz Kosovo genoss unter Tito Autonomiestatus. Dieser wurde 1989 durch eine Änderung der serbischen Verfassung beendet. Im darauf folgenden Jahr wurden auch das Regionalparlament sowie die Regionalregierung aufgelöst. Alle wirtschaftlichen, innenpolitischen und kulturellen Fragen der Provinz wurden seitdem in Belgrad entschieden. Der Fernsehsender Pristina wurde geschlossen und viele Albaner aus leitenden Funktionen entfernt. Das alles war töricht und musste zur Eskalation der Situation in den von Albanern bewohnten Gebieten Jugoslawiens führen, denn diese konnten nun erklären, dass die Serben an ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation Schuld trügen. Die Wiederherstellung der Autonomie des Kosovo war eine legitime Forderung der Albaner in dieser serbischen Provinz. Die Spannungen im Kosovo eskalierten zum Bürgerkrieg als die 1994 gegründete Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) im Jahre 1996 ihren bewaffneten Kampf aufnahm. Ihr Ziel war dabei von Anfang an die völlige Unabhängigkeit des Kosovo. Schon früh versuchten die USA, die die UCK, zunächst als Terroristen bezeichneten, Beziehungen zu ihr aufzunehmen, wie eine BBC-Dokumentation enthüllte. Später sollte die Kooperation noch so eng werden, dass US-Amerikaner UCK-Kämpfer ausbildeten und die UCK von der CIA spezielle Telefone erhielt, mit denen diese eine selbst gegenüber Verbündeten der USA abhörsichere Kommunikation über spezielle tieffliegende Satelliten der US-Army aufbauen konnten, wie der Spiegel berichtete. Der britische Guardian bezeichnete die UCK als Bastard-Armee der CIA. In diesem Bürgerkrieg standen sich auf der einen Seite reguläre Kräfte der Bundesrepublik Jugoslawien und serbische Paramilitärs und auf der anderen Seite die UCK gegenüber. Am 23. September 1998 forderte der UNO-Sicherheitsrat mit Resolution 1199 alle Konfliktparteien, Gruppierungen und Einzelpersonen zur sofortigen Waffenruhe auf. Von den Behörden der Bundesrepublik Jugoslawien und der Führung der Kosovo-Albaner verlangte er “sofortige Schritte zur Verbesserung der humanitären Lage und zur Abwendung der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe”. Und er forderte von beiden Seiten, “sofort in einen sinnvollen Dialog ohne Vorbedingungen und unter internationaler Beteiligung sowie nach einem klaren Zeitplan einzutreten, der zu einem Ende der Krise und zu einer politischen Verhandlungslösung der Kosovo-Frage führt.” Die Resolution verzichtete auf die Androhung von Gewalt. Am 11. Oktober 1998 drohten westliche Politiker mit dem Erlass einer Activation Order für die NATO, welche die NATO-Führung zu Luftschlägen gegen Jugoslawien autorisiert, Am 13. Oktober 1998 stimmte Serbien auch unter dem Druck der Kriegsdrohung der NATO der UN-Resolution 1199 zu, was einer Erklärung des Waffenstillstands gleich kam. Bemerkenswerterweise am selben Tag wurde die Activation Order vom NATO-Rat beschlossen mit dem angeblichen Ziel, die Diplomatie in ihren Friedensbemühungen zu unterstützen. NATO-Generalsekretär Javier Solana gab danach eine Pressekonferenz, auf der er Luftschläge der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien androhte, sollte diese die Forderungen der Resolution 1199 nicht schnell und vollständig erfüllen. Die andere Konfliktpartei im Bürgerkrieg erwähnte er nicht. Bereits drei Tage später stimmte der Deutsche Bundestag einem Luftwaffeneinsatz der Bundeswehr im Rahmen der NATO grundsätzlich zu. Begründet wurde das mit der Notwendigkeit der Abwehr einer “humanitären Katastrophe” im Kosovo. Diese humanitäre Katastrophe hat es jedoch bis zum Beginn der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien nicht gegeben. Dafür gibt es mit der OSZE-Mission im Kosovo sehr glaubwürdige Zeugen. Diese Kosovo Verification Mission wurde durch Vereinbarung zwischen der OSZE und der Bundesrepublik Jugoslawien am 16. Oktober 1998 ins Leben gerufen, also am selben Tag, an dem der Deutsche Bundestag seinen Vorratsbeschluss für einen Luftwaffeneinsatz in Jugoslawien fasste. Einen Tag zuvor, am 15. Oktober 1998 war bereits ein Vertrag zwischen Jugoslawien und der NATO geschlossen worden, der eine Überwachung des Kosovo aus der Luft durch NATO-Flugzeuge ermöglichte und laut UN-Sicherheitsratsbeschluss 1203 die Tätigkeit der OSZE ergänzen sollte. Die OSZE Kosovo Verification Mission legte ihre Erkenntnisse und Beobachtungen aus der Tätigkeit im Kosovo später in einem ausführlichen Bericht dar. Dieser beschreibt die Leiden der Zivilbevölkerung im Bürgerkrieg, auch Verbrechen für die zum Teil die eine und zum Teil die andere Bürgerkriegspartei verantwortlich waren, enthält aber für die Zeit vor dem Angriff der NATO keine Belege für eine humanitäre Katastrophe oder Massenvertreibungen von Albanern durch serbisches Militär oder andere serbische Gruppierungen. Henry Kissinger beschrieb im britischen Telegraph die Situation später so: “Die Serben mögen sich barbarisch verhalten haben in der Unterdrückung des UCK-Terrors. Aber 80 Prozent der Verletzungen des Waffenstillstands zwischen Oktober und Februar wurden von der UCK begangen. Es war an diesem Punkt kein Krieg um ethnischen Säuberungen. Wenn wir es richtig analysiert hätten, würden wir versucht haben, die Waffenruhe zu stärken und nicht die gesamte Schuld den Serben zu geben.” Leider hat der Telegraph das Interview inzwischen aus seinem Online-Angebot genommen. Aber der wesentliche Inhalt ist noch hier verfügbar. Führende deutsche Politiker stellten die Situation im Kosovo allerdings anders dar, als es sich aus dem OSZE-Bericht ergibt. Und die Medien folgten weitestgehend bereitwillig den offiziellen Darstellungen. Milosevic wurde dämonisiert und mit Hitler verglichen und einige angebliche Kriegsverbrechen der Serben frei erfunden. Einen gewissen Höhepunkt dieser Falschinformation markierte der von Verteidigungsminister Scharping behauptete sogenannte Hufeisenplan der Serben, die damit angeblich die Albaner des Kosovo in Form eines nach Albanien offenen Hufeisens militärisch umfassen und durch danach erfolgendes Zusammenziehen des Hufeisens ins Ausland vertreiben wollten. Das Kosovo wäre danach ethnisch gesäubert gewesen. Außenminister Fischer sprach am 12. April 1999 sogar vom Vorliegen gesicherter Erkenntnisse, “dass diese Operation unter dem Operationsnamen ,Podgova’ (Hufeisen) geplant war und dass sie am 26. Februar 1999 anlief.” Im Lagebericht der Bundeswehr vom 22. März 1999 heißt es dagegen: “Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen”. Diesen Fakt bestätigt auch der Ex-Bundeswehrgeneral Heinz Loquai: “In keinem Lagevortrag, weder des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungsministeriums, der Nato in Brüssel oder der OSZE in Wien ist vor dem 24. März (Angriff der NATO) von einer groß angelegten, systematischen und planmäßigen Vertreibung die Rede gewesen“ Da Loquai, ein langjähriger angesehener Mitarbeiter der OSZE, diese von den Behauptungen seines Verteidigungsministers abweichende Darstellung öffentlich machte und vor Fernsehkameras erklärte, dass der Hufeisenplan tatsächlich eine Erfindung aus dem Umfeld von Scharping war, wurde er durch diesen geschasst. Der Spiegel berichtete dann auch nach Kriegsbeginn, dass im Verteidigungsministerium das Finden von Belegen für serbische Kriegsverbrechen “oberste Priorität” gehabt hätte. Nur sei man trotz des Einsatzes von Hochtechnologie dabei nicht sehr erfolgreich. In dieser Atmosphäre waren andere Meinungen und ein realitätsnäheres Bild der Situation im Kosovo offenbar unerwünscht. Mit der Akzeptanz der UNO-Resolution 1199 am 23. September 1998 hatte das Milosevic-Regime in Belgrad auch Friedensverhandlungen mit den Vertretern der Albaner im Kosovo zugestimmt. Dabei handelte es sich um eine Initiative der schon seit dem Bosnienkrieg bestehenden Balkan Kontaktgruppe, bestehend aus Vertretern Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Italiens sowie aus Russland und den USA. Die Friedensverhandlungen fanden vom 6. Februar bis zum 23. Februar 1999 in Rambouillet und dann vom 15. bis 23. März 1999 in Paris statt. An den Verhandlungen nahmen neben der serbischen und der albanischen Delegation für die Balkan-Kontaktgruppe je ein Vertreter der USA, der EU und Russlands teil (Christopher Hill für USA, Wolfgang Petritsch für die EU, Boris Majorski für Russland). Die den Serben gegenüber sehr feindselige Atmosphäre der Verhandlungen hat der EU-Vertreter Petrisch in einem aufschlussreichen Spiegel-Interview vom 8. Februar 1999 beschrieben: “Da wird nicht mehr lange gepokert. 80 Prozent unserer Vorstellungen werden einfach durchgepeitscht. … Zwei Dinge sind definitiv verboten: Pressekontakte und vorzeitiges Abreisen. Alle bleiben interniert, in einem Konklave. Am Schluß wird es sicher hart auf hart kommen, und das Endergebnis wird wohl ein Diktat sein. Aber eines garantiere ich: Vor Ende April wird der Kosovo-Konflikt entweder formal gelöst sein, oder die Nato bombardiert.” Im Interview sprach Petritsch dann weiter von 30.000 bis 40.000 Mann Friedenstruppen, die nach einem erfolgreichen Abkommen im Kosovo stationiert werden sollen. Das sollten keine Nato-Truppen sein, sondern UNO-Truppen unter Beteiligung auch russischer Blauhelme. Es kam anders und das strikte Verbot von Pressekontakten erleichterte später die Legendenbildung. Mitte Februar war die serbische Verhandlungsdelegation in Rambouillet enthusiastisch. Zwar hatte die US-Außenministerin Madelaine Albright gleich zu Beginn der Verhandlungen eine Pressekonferenz gegeben, in der sie die US-Position darstellte, im Falle eines Abschlusses des Friedensvertrages 28.000 NATO-Soldaten im Kosovo stationieren zu wollen und für den Fall der Nichtunterzeichnung des Vertrages durch die Serben die Bombardierung Serbiens ankündigte, doch schien nun, zwei Wochen nach dieser Pressekonferenz, ein den NATO-Militäreinsatz vermeidender Abschluss des Friedensvertrages zum Greifen nahe. Man hatte bereits Einigung über etwa 70 % des Vertragswerkes erlangt. Pedrag Simic, der Berater des serbischen Verhandlungsführers verließ deshalb in guter Stimmung Rambouillet, weil er annahm, dass alles Wesentliche schon geregelt sei. Er berichtete später ausführlich in der Zeit über die dramatischen Ereignisse, die sich in Rambouillet kurz darauf und unmittelbar nach Ankunft der US-Außenministerin am Verhandlungsort abspielten. In der Erinnerung von Simic traf Albright am 19. Februar in Rambouillet ein. Am nächsten Tag präsentierte der US-Vertreter Christopher Hill den Serben einen fast völlig neuen Vertragsentwurf, von 82 Seiten waren 60 neu geschrieben. (Nach anderen Quellen war der Tag der Präsentation erst der 23. Februar. Für diesen Termin spricht, dass die Konferenz an eben diesem Tage für drei Wochen unterbrochen wurde.) Der Entwurf war nur von Hill und Petritsch abgezeichnet, also offenbar mit den Russen nicht abgestimmt. Und er wurde bis zum Ende der Verhandlungen nicht mehr geändert. Dieser Vertragsentwurf entsprach in Teilen mehr einem Besatzungsstatut für die Bundesrepublik Jugoslawien als einem Friedensvertrag für das Kosovo. So sollte sich NATO-Militär in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien, also in Serbien und Montenegro, frei bewegen können, dabei jede Unterstützung seitens der jugoslawischen Behörden genießen, Infrastruktureinrichtungen wie Straßen, Häfen und Flugplätze jederzeit kostenfrei nutzen können und gegen jedwede Strafverfolgung immun sein. Ein derartiger Text war unter keinen Umständen von den Serben akzeptierbar, die sich ja nicht im Krieg mit den USA oder der NATO befanden. Der vollständige Vertragstext wurde bis nach Kriegsbeginn geheim gehalten und erst nach einer Veröffentlichung der brisanten Vertragsteile am 6. April 1999 durch die taz der Öffentlichkeit bekannt. Aber da war es schon zu spät. Die Delegation der Kosovo-Albaner unterzeichnete den Entwurf am 23. März 1999. Die Serben unterschrieben nicht. Am 24. März 1999 begann die NATO mit der Bombardierung Serbiens, wie Madelaine Albright das angekündigt hatte. Ein Kunststück an Desinformation und gleichzeitig einen Beitrag zur Legendenbildung um den Kosovokrieg lieferte gleich am ersten Tage des Krieges Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Fernsehansprache an die Deutschen, indem er entgegen den Tatsachen behauptete, dass die jugoslawische Delegation in den Friedensverhandlungen “selbst minimale Zugeständnisse abgelehnt” hätte. Diese Falschbehauptung Schröders erreichte über die diversen Medien fast jeden Deutschen. Die Wahrheit dagegen, die nur wenige Wochen später Henry Kissinger aussprach, wurde von den Medien kaum mehr beachtet. Kissinger nannte den Vertrag von Rambouillet eine “Provokation”, einen “Vorwand, um mit den Bombardierungen zu beginnen”. “Rambouillet ist kein Dokument, das ein Serbe mit Verstand hätte akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen.” Die Folgen des Kosovokrieges der NATO sind weit reichend. Das Kosovo erklärte sich 2008 für unabhängig von Serbien. Heute steckt das nicht einmal von allen EU-Staaten anerkannte Land in einem Sumpf aus Korruption und Armut. Eine Rechtsstaatlichkeitsmission der EU (EULEX) kann als gescheitert betrachtet werden. Die EU spielt trotz der gleich nach dem Krieg eingeführten D-Mark (heute Euro) als offizielles Zahlungsmittel im Kosovo eher eine untergeordnete Rolle. Stärkeren politischen Einfluss hat der jeweilige amerikanischen Botschafter in Pristina, berichtet der in Balkanfragen stets gut informierte österreichische Standard. Während Brüssel aktuell eher hilflos versucht das Kosovo und Serbien näher an die EU heranzuführen, unterhalten die USA schon seit 1999 mit Camp Bondsteel ihren größten europäischen Stützpunkt im Kosovo. Sie haben damit ihr Ziel erreicht, welches sie ohne den Krieg schwerlich hätten erreichen können, und kontrollieren vom dort aus die gesamte Region, wofür immer die Stationierung von Bodentruppen notwendig ist. Schiffe und Flugzeuge allein reichen dafür nicht aus. Eine der schwerwiegendsten Folgen des Kosovokrieges und der nachfolgenden Unabhängigkeitserklärung der serbischen Provinz ist jedoch, dass auch andere Regionen dem Beispiel des Kosovo folgen wollen. Man kann auch die Ereignisse um die Loslösung der Krim aus der Ukraine schwerlich ganz ohne den Präzedenzfall Kosovo verstehen. Ein Nutzen aus den Ergebnissen des Kosovokrieges für Deutschland dagegen lässt sich nicht erkennen. Wirtschaftlich ist das kleine Land mit nur etwa 2 Millionen Einwohnern trotz etlicher Bodenschätze wenig interessant. Die GIZ stellt dazu fest: “Das ökonomische Wachstum nach 1999 ist hauptsächlich auf die internationalen Hilfeleistungen, die Entwicklung des öffentlichen Sektors sowie auf Geldzahlungen von den im Ausland lebenden Kosovaren zurückzuführen.” Deutschland hat im Verbund mit der NATO den Kosovokrieg geführt, obwohl das völkerrechtswidrige Handeln der Regierung Schröder voll bewusst war. Heute treten im Zusammenhang mit den Ereignissen um die Ukraine wieder deutsche Politiker auf, berufen sich auf Völkerrecht und euroatlantische Werte und setzen auf Sanktionen sowie eine Stärkung und Ausrichtung der westlichen Militärallianz gegen Russland, statt das für die friedliche Konfliktlösung geschaffene Instrument der OSZE zu stärken und aufzuwerten. Ein absehbarer Nutzen dieser geschichtsvergessenen Politik ist für Deutschland nicht erkennbar, der voraussehbare und zum Teil schon eingetretene Schaden dagegen groß. Man fragt sich, ob deutsche Politiker lernunfähig sind oder es ihnen einfach an Mumm fehlt, genuine deutsche Interessen auch gegenüber dem mächtigen Verbündeten zu behaupten, und wünscht sich einen Kanzler Bismarck zurück. [«*] Reinhard Lange (56) ist Unternehmensberater – mit dem Balkan als Tätigkeitsschwerpunkt. Der Autor würde übrigens im Sinne seines Artikels gerne die Kinderhymne von Bert Brecht zur deutschen Nationalhymne erklären. Den Austausch der Nationalhymne schaffen die NachDenkSeiten nicht, aber als Schlussstrich unter Langes Artikel Brechts Kinderhymne wiederzugeben, das schaffen wir und das machen wir gerne: Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, daß ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land. Daß die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin, sondern ihre Hände reichen uns wie andern Völkern hin. Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein. Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s. Und das liebste mag’s uns scheinen so wie andern Völkern ihrs.

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