Dossier
“Es geht jetzt auch um die gesellschaftlichen Abwehrkräfte. Mit jeder Verschärfung der Ausgangsregeln, die die Politik in diesen Tagen beschließt, wird eine Zahl immer wichtiger, die mit darüber entscheidet, wie schwer es für jeden Einzelnen wird: Die Quadratmeterzahl. Je größer die eigene Wohnung, desto eher lässt es sich dort auf Dauer aushalten. (…) Die Schwächeren tragen die größere Last und das größere Risiko. Das gilt für beide Bevölkerungsteile: für jene, die nicht mehr normal arbeiten können, und für jene, die jetzt erst recht arbeiten müssen. Je weniger die ungleiche Verteilung des Leids abgefedert wird durch Politik und private Solidarität und je länger die Ausnahmezustands dauert desto eher kann daraus gesellschaftlicher Sprengstoff werden. (…) Selbst bei den Kurzarbeitern gibt es Unterschiede: Wer bei VW oder BMW beschäftigt ist, wo man eh schon besser verdient, bekommt bis zu 90 Prozent des Lohns, weil die IG Metall aufstockt. Andere in Unternehmen ohne Tarifbindung bekommen nur 60 bis 67 Prozent. (…) Ungleich sind auch die Voraussetzungen für die Schüler. E-Learning geht leichter, wenn man Tablet, Computer und am besten noch Eltern hat, die bei den Aufgaben helfen können. Aber was ist beispielsweise mit jenen, die sich nicht mit ihren Eltern aufs Abitur vorbereiten können, die dafür in Bibliotheken oder zu Mitschülern gehen würden? Sie sind nun abgeschnitten…” Artikel von Lenz Jacobsen und Parvin Sadigh vom 21. März 2020 in der Zeit online . Siehe dazu:
- Klasse Virus – Während in Fleischfabriken Hunderte erkranken, bleiben Privilegierte in Freibädern unter sich: Corona legt Milieugrenzen brutal offen
“… Wer ins Freibad will, muss sich das Ticket jetzt Tage vorher kaufen – online. Mit Kreditkarte, oder per Paypal. Das Prinzenbad in Berlin-Kreuzberg galt immer als Treffpunkt aller Milieus. Jetzt nicht mehr. Jetzt schwimmen hier an einem Sommertag nur noch: weiße Körper. Coronafrei. Dabei kam das Virus in Deutschland einmal genau über diese Einfallstür. Es befiel weiße Akademikerkörper, die im Februar natürlich nicht schwammen, sondern Ski fuhren, in Ischgl. Jetzt vollzieht Corona eine Klassenwanderung. Wenn der R-Wert in Deutschland über zwei liegt, dann löst das nur deshalb keine Panik aus, weil der Infektionsausbruch stark begrenzt ist. Auf einen Häuserblock in Berlin-Neukölln, zwei Häuser in Göttingen, die Mitarbeiter von Tönnies. Noch relevanter als die lokale Begrenzung scheint die soziale. Die Träger des Virus haben derart wenig Kontakt zu anderen Milieus, dass diese sich kaum vor einer Ansteckung sorgen müssen. (…) Brutalität an prekären Körpern ist keine Erfindung der Pandemie. Im Gegenteil: Weil insbesondere das viel reisende bürgerliche Milieu als erstes von dem Virus betroffen war, ist die Identifizierung mit Opfern von Covid-19 hoch. Noch. Denn die Sprache verschiebt sich. Von Familienfeiern zum Ende des Ramadan ist die Rede, von Wochenendausflügen nach Rumänien. Alles Begriffe, die eines anzeigen sollen: Es sind die anderen, die sich anstecken, weil sie anders sind. Weil sie Rumänen sind, halten sie sich nicht an Regeln. Weil sie Muslime sind, leben sie in Großfamilien eng zusammen. Diese Form der Kulturalisierung der Ansteckungswege ist für die verantwortliche Politik gemütlich, denn was, wenn es gar nicht an den Menschen läge? Sondern an ihren Wohn-, Lebens-, und Arbeitsverhältnissen? Was, wenn Politik es ändern könnte, dass Fleischarbeiter tausendfach krank werden, dass Hartz-IV-Beziehende früher sterben? Wenn Politik für Leben und Tod der Bevölkerung verantwortlich wäre? Was, wenn die Körper von Tönnies-Arbeitern ebenso betrauerbar werden wie jene von Ischgl-Skifahrenden? Doch das sind sie nicht. Sie sind die anderen…” Artikel von Elsa Koester vom 26. Juni 2020 bei ‘Der Freitag’ Ausgabe 26/2020 - Ein Virus spaltet die Gesellschaft
“Die Corona-Pandemie trifft arme und benachteiligte Menschen besonders hart: Sie haben ein höheres Risiko, schwer zu erkranken – und sie leiden stärker unter den Folgen der Krise. (…) Nun aber wird immer deutlicher sichtbar, dass die Krise sehr wohl eine soziale Dimension hat. Besonders eindrucksvoll zeigen das die jüngsten großen Ausbrüche. Die Tönnies-Fleischfabrik in Gütersloh, die Wohnblöcke in Berlin-Neukölln: Hotspots entstehen dort, wo Menschen unter schwierigen Bedingungen wohnen und arbeiten. Wo große Familien in kleinen Wohnungen leben, wo Schlachthofarbeiter zu nah nebeneinander am Zerlegeband stehen und in Gruppenunterkünften schlafen. Hinzu kommt die enge, feuchte und kühle Umgebung im Schlachthof, die das Risiko einer Ansteckung möglicherweise erhöht. Neu ist all das natürlich nicht. Es ist bekannt, dass Menschen mit geringem sozio-ökonomischen Status stärker und häufiger erkranken. (…) Für Deutschland liefern erste Untersuchungen deutliche Hinweise, dass auch hierzulande die Gesundheit armer Menschen unter der Pandemie besonders leidet. (…) Um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie methodisch zu untersuchen, hat sich das Kompetenznetz Public Health zu Covid-19 gegründet, ein Zusammenschluss von mehr als 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. In einer ersten Stellungnahme schreiben sie, es sei davon auszugehen, dass sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen häufiger mit dem Virus in Kontakt kämen, häufiger schwer erkrankten und dass sie verstärkt unter dem Infektionsschutz litten – etwa durch Arbeitslosigkeit, Isolation oder fehlende Bildungsmöglichkeiten…” Artikel von Felix Hütten, München, und Henrike Roßbach, Berlin, vom 20. Juni 2020 in der Süddeutschen Zeitung online - [“Risikofaktor Arbeitslosigkeit”] Wissenschaftliche Analyse: Corona trifft sozial Benachteiligte härter
“Sozial benachteiligte Menschen haben ein deutlich höheres Risiko, wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Das zeigt eine Analyse der Uniklinik Düsseldorf und der Krankenkasse AOK, die das ARD-Mittagsmagazin initiiert hat. (…) Seit einigen Wochen kommen immer weniger Verdachtsfälle ins Klinikum nach Darmstadt. Und die, die kommen, sind vielfach andere Patienten als früher, sagt [Oberarzt Cihan] Celik. Zu Beginn der Pandemie sei die Zusammensetzung der Patienten für eine Lungenstation sehr untypisch gewesen: Studenten, Geschäftsreisende oder Urlaubsrückkehrer. Doch das habe sich verändert. Die Patienten kommen zunehmend aus einkommensschwachen Verhältnissen. Schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, wenig Platz zum Wohnen. All das erhöhe das Infektionsrisiko, sagt Celik. (…) Eine gemeinsame Analyse des Instituts für Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Düsseldorf und der AOK Rheinland/Hamburg belegt nun: Bei sozial benachteiligten Menschen ist das Risiko, aufgrund von Covid-19 ins Krankenhaus zu kommen, deutlich erhöht. Demnach liegt das Risiko für ALG-II-Empfänger im Vergleich zu erwerbstätig Versicherten um 84,1 Prozent höher, für ALG-I-Empfänger um 17,5 Prozent. Für die Analyse haben die Forschenden die Daten von knapp 1,3 Millionen Versicherten daraufhin untersucht, ob Menschen in Arbeitslosigkeit (ALG I und ALG II) häufiger mit einer Corona-Infektion in einem Krankenhaus behandelt werden mussten als erwerbstätige Versicherte (Untersuchungszeitraum 01. Januar bis 04. Juni 2020). (…) Forscher Dragano von der Uniklinik Düsseldorf kritisiert dagegen, das erhöhte Risiko sei bisher nicht ausreichend beachtet worden. Um sozial benachteiligte Menschen gezielt vor dem erhöhten Risiko zu schützen, fordert er ein umfassendes Konzept, das neben dem Gesundheitssystem auch die Sozial- und Bildungspolitik mit einschließt. (…) Für Celik besteht auch ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Infektionsgefahr und sozialem Status: “Angefangen bei der Art der Arbeit, die man macht, ob man stärker exponiert ist, ob man etwa kein Homeoffice machen konnte, sondern weiter an der Supermarktkasse oder im öffentlichen Nahverkehr arbeiten musste. Das betrifft natürlich eher niedrig bezahlte Jobs stärker”, sagt der Oberarzt.” Bericht von Stefanie Delfs und Kaveh Kooroshy vom 15. Juni 2020 beim ARD-Mittagsmagazin und die Pressemitteilung des Instituts für Medizinische Soziologie der Uniklinik Düsseldorf zur Studie “Risikofaktor Arbeitslosigkeit” - Coronakrise: Risikofaktor Ungleichheit / Die Coronakrise sorgt für eine weiter wachsende Konzentration bei Vermögen und Einkommen
- Coronakrise: Risikofaktor Ungleichheit“Hohes Alter, Vorerkrankungen – damit steigt bekanntermaßen das Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Doch weltweit könnte es noch einen weiteren Gefahrenherd geben. Mehr als 1,8 Millionen Infizierte in den USA, mehr als eine halbe Million in Brasilien, eine gute Viertelmillion in Großbritannien: In vielen Teilen der Welt sind die Covid-19-Fallzahlen in jenen Ländern am höchsten, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich am größten ist. Nach Recherchen des SPIEGEL zeichnet sich damit immer deutlicher ein weiterer Risikofaktor für die Ausbreitung der Pandemie ab: soziale Ungleichheit. Ein Team von SPIEGEL-Dokumentaren hat in den vergangenen Wochen den Zusammenhang zwischen dem Arm-Reich-Gefälle einzelner Länder und den dortigen Covid-19-Fallzahlen untersucht – mit zum Teil verblüffenden Ergebnissen. (…) Überraschend sei der Zusammenhang nicht, sagt der britische Gesundheitswissenschaftler Richard Wilkinson dem SPIEGEL. In seinem Buch “The Spirit Level” hätten er und seine Kollegin Kate Pickett bereits vor zehn Jahren festgestellt, dass ungleiche Gesellschaften ungesunde Gesellschaften seien. Je ungleicher Einkommen und Vermögen verteilt seien, desto heftiger litten die Menschen in betroffenen Gesellschaften – quer durch alle Schichten – an Problemen wie Depression, Drogenabhängigkeit und hohen Suizidraten. Auch seien in den entsprechenden Ländern sehr viel mehr Menschen übergewichtig und durch Atemwegserkrankungen geschwächt – Risikofaktoren, die in der jetzigen Pandemie eine entscheidende Rolle spielen. (…) In der Pandemie hat die Ungleichheit fatale Folgen: Sowohl in den USA als auch in Großbritannien starben in den vergangenen Monaten bei Weitem mehr People of Color an Covid-19 als Weiße.” Artikel von Jörg Schindler, London, vom 03.06.2020 beim Spiegel online
- Verschärfte soziale Ungleichheit. Die Coronakrise sorgt für eine weiter wachsende Konzentration bei Vermögen und Einkommen“Corona macht den Unterschied bei Einkommen und Vermögen in Deutschland. Der Lockdown und die Verunsicherung über die Entwicklung der Pandemie hinterlassen längst ihre Spuren. (…) Für soziale Unwucht sorgen weiterhin Immobilien. Eigentümer profitieren, zumindest in den Städten und in günstigen Lagen auf dem Land, schon seit einiger Zeit von enormen Wertzuwächsen. So sind die Preise für Wohnimmobilien seit 2010 laut Bundesbank um rund 70 Prozent gestiegen, in Großstädten sogar um mehr als 100 Prozent. Insgesamt bleibt der Kreis der Wohlhabenden überschaubar. Nach der Bafin-Umfrage sparen lediglich elf Prozent der Befragten 500 Euro im Monat oder mehr. Ganz unten auf der Skala finden sich dagegen 15 Prozent, die gar nicht sparen. Fast alle, weil sie zu wenig Geld dafür haben. Corona verschärft solche langfristigen Trends noch, wie eine Studie der Postbank, deren Kunden meist aus der Mittelschicht kommen, jetzt ergab. (…) Die soziale Unwucht beginnt bereits beim Einkommen. Mehrere Millionen Menschen sind in Kurzarbeit. Vor allem Beschäftigte in Klein- und Mittelbetrieben müssen mit 60 Prozent (mit Kind: 67 Prozent) des Nettolohns auskommen. Die von der Bundesregierung beschlossene Erhöhung auf 70/77 Prozent wird erst ab dem vierten Monat greifen. Zahlreiche Großkonzerne hingegen stocken das Kurzarbeitergeld ihrer ohnehin überdurchschnittlich bezahlten Beschäftigten auf 100 Prozent auf. Ganzen mittelständisch geprägten Berufszweigen wie der Gastronomie, den Volkshochschulen oder dem Friseurhandwerk brachen im Lockdown komplett die Einnahmen weg. Millionen Kinder müssen wegen Schließung der Kindertagesstätten und Schulen von ihren oft berufstätigen Eltern betreut werden, was offenbar häufig mit herben Einkommensverlusten verbunden ist. Laut der Postbank-Studie traf die Krise Familien finanziell besonders hart. (…) Corona vergrößert zugleich die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern. Schätzungsweise doppelt so viele Frauen haben ihre Arbeitszeit reduziert, um die Kinderbetreuung zu gewährleisten. »Da die ökonomischen Folgen der Krise noch lange spürbar sein werden, wird eine Rückkehr zur vorherigen Arbeitszeit wahrscheinlich nicht für alle möglich sein«, befürchtet der DGB. Frauen mit geringerem Einkommen werden davon noch stärker getroffen als alle anderen…” Artikel von Hermannus Pfeiffer vom 02.06.2020 im ND online
- Covid-19-Arzt im Interview: „Es gibt eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit“
“… zum anderen kommen bei uns auf der Normalstation sozial komplexe Umstände dazu. Wohnungslosigkeit zum Beispiel oder andere Situationen, in denen keine Heimisolation möglich ist. Wir haben einen Lkw-Fahrer behandelt, der in seinem Führerhaus wohnt. Insgesamt sehen wir nach zwei Monaten Behandlung von Covid-19-Patienten, dass es eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit gibt. Gerade Patienten, die zu Minderheiten gehören und sozial schwach sind, sind bei der Morbidität und der Mortalität am stärksten betroffen. Sie werden also verhältnismäßig öfter krank und sterben öfter an der Krankheit. Das haben Studien in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Norwegen gezeigt und das sieht man auch im Mikrokosmos Krankenhaus. [Woran liegt das?] Viele sozioökonomische Faktoren tragen dazu bei, ob man diese Krankheit bekommt und wie schwer sie verläuft. Fettleibigkeit kann zu einem schweren Verlauf führen, das ist vor allem in sozial schwachen Schichten ein Problem, genau wie ein Mangel an gesundheitlicher Aufklärung, an gesunder Ernährung, an Sport. Symptome werden außerdem oft erst später erkannt oder ernst genommen. Ärmere Menschen sind weniger gut an Ärzte angebunden, Migranten können teilweise ihre Beschwerden nicht so gut auf Deutsch schildern. Die Menschen leben auf engerem Raum und arbeiten in Berufen, in denen sie vielen Kontakten ausgesetzt sind. Armut macht krank, das ist bei vielen Krankheiten ein Problem…” Interview von Sebastian Eder mit Cihan Çelik vom 17.05.2020 in der FAZ online - Warum die Coronakrise Ungleichheit verstärkt: Die Krise trifft Geringverdiener hart, von denen viele ihren Job verlieren. Auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nimmt zu
“… Wie weit die Kluft in der Gesellschaft auseinandergeht, zeichnen Forscher der Universität Mannheim nach. Sie befragen jede Woche 3500 Menschen dazu, wie sich ihr Leben durch die Pandemie verändert. Ein erstes Ergebnis: Je niedriger der Schulabschluss, desto seltener können Angestellte ins Homeoffice wechseln. So haben zuletzt 40 Prozent der Deutschen mit einem hohen Schulabschluss von Zuhause aus gearbeitet, während das unter denjenigen mit einem niedrigen Abschluss gerade einmal sechs Prozent möglich war. Das lege den Schluss nahe, dass die Coronakrise die soziale Ungleichheit im Land weiter verstärkt, schreiben die Forscher. Folgen hat das sowohl für die Gesundheit als auch für die finanzielle Situation der Menschen. „Die Risiken der Pandemie sind ungleich verteilt“, schreiben die Wissenschaftler. „Untere Einkommensgruppen haben aufgrund ihrer Arbeit vor Ort vermutlich ein größeres Risiko sich mit dem Coronavirus anzustecken.“ (…) Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell spricht deshalb von einer „Hierarchie der Not“. Verstärkt wird diese dadurch, dass gerade in den Branchen, die besonders unter dem Shutdown leiden, die Löhne sehr niedrig sind: in der Gastronomie oder im Einzelhandel. (…) Wie groß das Problem ist, zeigen Zahlen, die das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) für Schleswig-Holstein erhoben hat. Dort arbeiten 240 000 Menschen in Betrieben, die vom Shutdown betroffen sind – 80 000 von ihnen sind Geringverdiener. Dramatisch ist dabei die Lage der Minijobber, also jener, die nur auf 450-Euro-Basis arbeiten. Denn Unternehmen können sie gar nicht erst in Kurzarbeit schicken, sodass oft nur die Kündigung bleibt. „Gerade Geringverdienern droht der Stellenverlust und damit der Wegfall ihres Einkommens“, sagt IfW-Experte Klaus Schrader. (…) Dabei gibt es auch bei der Kurzarbeit Unterschiede: Während Industriebetriebe das Kurzarbeitergeld nämlich meist freiwillig aufstocken, ist das vielen Dienstleistern nicht möglich. Sie sind schon froh, wenn sie die Jobs erhalten können, die Mitarbeiter nicht entlassen müssen. Auch das trifft vor allem Geringverdiener. (…) Verlässliche Zahlen, ob die Coronakrise die Ungleichheit bei den Vermögen vergrößert, wird es erst in der Rückschau in ein paar Jahren geben. (…) Miriam Rehm, die an der Universität Duisburg-Essen zur Ungleichheit forscht, glaubt zudem, dass der Crash am Aktienmarkt nur wenig Auswirkungen auf das Gesamtbild haben dürfte. „Entscheidend ist die Höhe der Ungleichheit bei den Vermögen“, sagt sie. „In Deutschland sind die Vermögen so ungleich verteilt, dass die Krise die Vermögen der Reichsten extrem stark treffen müsste, um die Vermögensungleichheit nachhaltig zu reduzieren.“ (…) Gleichzeitig aber haben sich für viele Menschen die Lebensumstände verändert. Rehm sieht dabei vor allem die Frauen im Nachteil, die zusätzlich zum Job nun vielfach auch noch die Kinderbetreuung und das Homeschooling übernehmen. (…) Ebenso groß sind die Unterschiede bei den Unternehmern. Während die einen auf Hilfskredite angewiesen sind, machen andere das große Geschäft. Ein Extrem-Beispiel ist dabei Jeff Bezos, Chef des Onlineversandhändlers Amazon: Er ist durch die Coronakrise seit Jahresbeginn um 23,6 Milliarden Dollar reicher geworden. (…) DIW-Forscher Stefan Bach regt deshalb eine einmalige Vermögensabgabe an. Dabei würde einmal festgestellt, wer wie viel leisten muss – abbezahlen könnten die Vermögenden sie dann über einen längeren Zeitraum. „Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man mit einer solchen Vermögensabgabe gute Erfahrungen gemacht“, sagt Bach. Er schlägt vor, dass diese Abgabe das reichste Prozent der Deutschen zahlen sollte…” Artikel von Carla Neuhaus vom 10. Mai 2020 beim Tagesspiegel online - Die Krise rückt die Klassengesellschaft in den Fokus. Expert*innen und Beamt*innen machen die Ideologie unsichtbar. Aber die Verantwortung trägt die Politik
“In Not erkennt man seine Freunde, sagt das Sprichwort. Ein Ausdruck, der davon ausgeht, dass wir erst in der Not wissen, wes Geistes Kind jemand wirklich ist. In guten Zeiten ist es leicht, Freund zu sein, aber in schlechten Zeiten trennt sich die Spreu vom Weizen. Das kann natürlich leicht auf die gesellschaftliche Ebene übertragen werden: In der Krise wird das System auf die Probe gestellt. Das heißt, wenn es nicht in Bewegung ist, dann sehen wir am deutlichsten die wahre Natur der Gesellschaft; welche Werte vor anderen geschützt werden und wessen Interessen an erste Stelle gesetzt werden. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass dies vielleicht vor allem ein systemkritischer, sozialistischer Blick auf die Gesellschaft ist. Für ein allgemeineres politisches Bewusstsein ist die Ausnahme einfach nur eine Ausnahme. Deshalb schreit die Rechte derzeit mit einer Stimme: „Wenn die Krise vorbei ist, wird alles wieder so weitergehen wie vorher!“ Die meisten Menschen denken in erster Linie daran, wie schön es wäre, Menschen wiederzusehen und das Leben wieder aufzunehmen. Politisch bedeutet es etwas völlig anderes, dass wir alles, was wir jetzt lernen, ebenso schnell wieder vergessen sollen. Alle Maßnahmen, die notwendig sind, um auf die Krise zu reagieren, sollen so schnell wie möglich aufgehoben werden, und alles soll zu der Ordnung zurückkehren, die vorher bestand. Das sind natürlich zwei völlig unterschiedliche Dinge, aber überall und immer werden sie zu einem zusammengebacken. Das nennt man Ideologie. Am stärksten wirkt die Ideologie, wenn sie überhaupt nicht erwähnt wird, in angeblich unpolitischer Rhetorik. Wie bei der Veröffentlichung von Zahlen, die zeigen, wie stark überrepräsentiert im Ausland geborene Menschen unter den Corona-Infizierten in offiziellen Statistiken sind, und der Antwort der Gesundheitsbehörde, man könne die betroffenen Gruppen nicht mit Informationen erreichen. Wie amtlich und unpolitisch das klingt! Das schafft Platz für wilde Spekulationen über „kulturelle Besonderheiten“, „geringes Vertrauen in den Staat“, „mangelnde Fähigkeit, sich Wissen anzueignen“, „Familienstrukturen, die von der schwedischen Norm abweichen“. Alles klingt so objektiv und unideologisch, dass wir Stopp rufen und das Band zurückspulen müssen, um Zeit zu haben darüber nachzudenken, was wirklich gesagt wird…” Leitartikel aus der schwedischen Zeitung “Internationalen” am 16. April 2020, dokumentiert in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020)(Übersetzung aus dem Schwedischen: Björn Mertens) - [HBS] Drei Monate durchhalten – Pandemie vergrößert Ungleichheiten
“Die Corona-Krise in Deutschland macht sehr deutlich, wie unterschiedlich Beschäftigte in beruflich und wirtschaftlich schwierigen Situationen abgesichert sind oder auf unterstützende Regeln vertrauen können. Das gilt beispielsweise bei der Höhe des Kurzarbeitergeldes oder der Organisation von mobiler Arbeit und Homeoffice. Durch die Pandemie können sich bestehende Ungleichheiten am deutschen Arbeitsmarkt verschärfen – etwa zwischen höher und niedriger bezahlten Beschäftigtengruppen, aber auch zwischen den Geschlechtern. Generell sind Beschäftigte mit niedrigeren Einkommen, in Betrieben ohne Tarifvertrag oder Betriebsrat sowie Frauen derzeit überproportional belastet. Das zeigen erste Ergebnisse einer neuen Online-Befragung, für die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung 7.677 Erwerbstätige interviewt wurden. Die von Kantar Deutschland durchgeführte Befragung bildet die Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab. 94 Prozent der Befragten unterstützen die Forderung nach besserer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in „systemrelevanten“ Berufen wie Pflege oder Einzelhandel. „Bestimmte gesellschaftliche Gruppen sind vor den Auswirkungen der Krise schlechter geschützt als andere. Das kann langfristig negative Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft haben“, warnt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch. Die Soziologin an der Universität Paderborn und designierte Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat die neue Befragung ausgewertet. 74 Prozent der Befragten äußern Sorgen um den sozialen Zusammenhalt in Deutschland, 70 Prozent sorgen sich um ihre eigene wirtschaftliche Situation. Diese Sorgen sind in den unteren Einkommensgruppen stärker ausgeprägt. (…) 14 Prozent der zwischen dem 3. und dem 14. April Befragten in abhängiger Beschäftigung gaben an, momentan in Kurzarbeit zu sein. Rechnet man diese Zahl auf die Gesamtzahl der Beschäftigten hoch, entspräche dies ca. 4 Millionen Beschäftigter, die momentan in Kurzarbeit sind. Beschäftigte in niedrigeren Einkommensgruppen sind häufiger in Kurzarbeit als Arbeitnehmer mit höherem Einkommen, zeigt die Auswertung der Befragungsdaten durch Bettina Kohlrausch. Von den Befragten in Kurzarbeit erklärt rund ein Drittel (32 Prozent), dass ihr Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld aufstocke, gut die Hälfte (52 Prozent) berichtet hingegen, es gebe in ihrem Betrieb keine Aufstockung, der Rest konnte das (noch) nicht sagen. Personen, die in einem Unternehmen mit Tarifvertrag arbeiten, erhalten nach der Umfrage mehr als doppelt so häufig (45 Prozent) eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes wie Personen, die nicht nach einem Tarifvertrag bezahlt werden (19 Prozent). Eine aktuelle Übersicht des WSI zeigt, dass die DGB-Gewerkschaften derzeit in knapp zwei Dutzend Branchen und Großbetrieben tarifvertraglich Aufstockungszahlungen vereinbart haben…” HBS-Pressemitteilung vom 21.04.2020 , siehe zum Hintergrund auch unser Dossier: Wenn Arbeitgeber nach mehr Staat rufen: Mit Kurzarbeit wertvolle Arbeitskräfte in viralen Zeiten hamstern und die Unternehmen auch bei den Sozialbeiträgen entlasten? - Das dünne Eis: Die Corona-Krise zeigt, dass die meisten Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft von der Hand in den Mund leben
“… So kennen wir die Gewerkschaft: Selbstverständlich geht das mit der Kurzarbeit in Ordnung – bei der Alternative Entlassung. Wenn die Unternehmen weniger Geschäfte machen, müssen die Arbeitnehmer halt die Gürtel enger schnallen. Sie dürfen froh sein, dass ihnen noch nicht gekündigt wird. Dieser Zusammenhang, diese Abhängigkeit der Existenz der Gewerkschaftsmitglieder von der Firmenbilanz ist doch klar wie Kloßbrühe. Wer daran zweifelt, versteht nichts von “Wirtschaft”, da gibt es keinen Dissens zwischen Unternehmern und Vertretern der Arbeiterinteressen. Menschen zu bezahlen, die weniger oder sogar keinen Gewinn erwirtschaften, geht nun einmal nicht. Leistung in der Marktwirtschaft wird nur dann entlohnt, wenn sie sich lohnt – für den Arbeitgeber. (…) Die Frage nach einem Einkommen, das dem abhängig Beschäftigten eine komfortable Existenz sichert, kommt in diesem Verhältnis nicht vor. Logisch: Ein Arbeitnehmer kann sich weder seinen Job einteilen noch gut davon leben. Was er zu leisten hat, bestimmt die Firma. Und wie viel Geld er dafür bekommt, ist Gegenstand ständiger Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber – ob mit oder ohne Gewerkschaft. Denn für den Betrieb sind die Personal-Ausgaben Abzug vom Gewinn. Je geringer sie ausfallen, desto besser sieht die Bilanz aus. Das steht natürlich unmittelbar im Gegensatz zum Interesse des Arbeitnehmers an einem auskömmlichen Gehalt. Aber was heißt schon “auskömmlich”? In normalen Zeiten kämpfen sie schon damit, die alltäglichen und notwendigen Ausgaben zu finanzieren. Diese Kosten laufen selbstverständlich weiter auch bei einem Kurzarbeitergeld von nur noch 60 bzw. 67 Prozent des Gehalts. Entsprechend ungemütlich wird die Lage, von Tag zu Tag mehr. (…) Wie dünn dieses Eis ist, auf dem der normal abhängig Beschäftigte in Deutschland wandelt, zeigt sich deshalb nicht erst seit der wegen der Corona-Pandemie verordneten wirtschaftlichen Auszeit. Monat für Monat müssen die Arbeitnehmer hoffen, ihr Gehalt zu bekommen – sonst ist ihre ökonomische Lage in kürzester Zeit prekär. Rücklagen können sie kaum bilden, laufende Kredite und Mieten sowie natürlich alle anderen notwendigen Ausgaben für die Lebenshaltung müssen bezahlt werden. (…) Auf die verschärfte Notlage der Arbeitnehmer wegen “Corona” weist die IG Metall zu Recht hin. Nur was folgt für sie daraus? Es sollten beim Kurzarbeitergeld schon 80 Prozent des letzten Nettolohns sein. Wie sie errechnet hat, dass dieser Prozentsatz zum Leben reicht, bleibt rätselhaft. Die Vermutung liegt nahe: eher gar nicht. Denn sie begründet die “Forderung” mit der Ungerechtigkeit, dass die Unternehmen auch die Sozialbeiträge ihrer Beschäftigten erstattet bekommen. Also nicht: Unsere Mitglieder brauchen mindestens die 80 Prozent, um ihre Kosten bezahlen zu können! Sondern: Die paar Euros mehr sind nur zu gerecht! Und das ist leider etwas anderes, als das materielle Interesse von Arbeitnehmern an einer nicht unmittelbar gefährdeten Existenz gegen die Seite der Arbeitgeber durchzusetzen. So bleibt es bei dieser folgenlosen Beschwerde und der Wohltätigkeit einzelner Unternehmen vorbehalten, das Kurzarbeitergeld aufzustocken. (…) Angesichts der katastrophalen Wirkungen des gesellschaftlichen “Lockdowns” binnen relativ kurzer Zeit erscheint die Situation davor seltsam rosig. Doch da sollte man sich nicht täuschen: Die grundsätzliche Armut der besitzlosen Menschen und ihre damit ständig prekäre Lage gibt es, seit es Marktwirtschaft gibt. “Corona” macht für sie alles nur noch viel schlimmer.” Beitrag von Björn Hendrig vom 12. April 2020 bei Telepolis - Wie durch ein Brennglas – Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse vor und während der COVID-19-Pandemie
“… Die COVID-19-Pandemie führt derzeit die grundlegende Verletzbarkeit und Unsicherheit allen Lebens vor Augen. (…) Prekäre Beschäftigung (und mehr noch Arbeitslosigkeit) haben aber nicht nur große ökonomische Ungleichheitsfolgen, zumal sie in der Regel mit geringen Einkommen verbunden sind, sondern bringen auch Anerkennungsdefizite in weiteren Bereichen mit sich. Prekäre Beschäftigung wirkt sich auch auf das Soziale aus: „Es löchert die Gesellschaft von innen raus auf“, so eine unserer Befragten. Prekarisierung betraf darüber hinaus auch schon vor COVID-19 das gesamte Leben: Soziale Beziehungen, Familie, Freundschaften, Paarbeziehungen, Liebe können prekär werden, die Sorge für sich und andere, die Gesundheit, soziale Teilhabe, Wohnraum, Sinn, die Zukunftsperspektiven und anderes mehr. Doch wie hängen Nahbeziehungen, Sorge und das gesamte Leben mit Ungleichheiten, Prekarität und Anerkennung zusammen? (…)Unsere Gesellschaft ist strukturell hetero- und paarnormativ. Das Leben in einer (heterosexuellen) Paarbeziehung wird gesellschaftlich als das ‚richtige‘ und ‚glückliche Leben‘ vermittelt. Wie unsere Forschung zeigt, konnten für manche der Befragten Anerkennungsdefizite aus einer prekären Beschäftigung im Paar teilweise aufgefangen werden und traten so etwas in den Hintergrund. Oft bergen heterosexuelle Paarbeziehungen aber große Geschlechterungleichheiten und ungleiche Arbeitsteilungen. Sorgearbeit wird in der Regel Frauen zugewiesen, ist unsichtbar und wird kaum anerkannt. Viele der befragten Frauen litten emotional und körperlich unter der Mehrfachbelastung aus prekärer Beschäftigung, der nahezu alleinigen Sorgeverantwortung und der Hausarbeit. Im Paar entstanden Konflikte, und mehrere Frauen waren wegen Depression, Erschöpfung und Burn-out in Behandlung. Wer nicht in einer Paarbeziehung lebt, ist zwar von Geschlechterungleichheiten im Paar kaum betroffen. Allerdings hat ein Leben ohne Partner*in in einer paarnormativen Gesellschaft oft große Ungleichheitsfolgen, vor allem, wenn Kinder im Spiel sind. Alleinerziehende etwa haben das höchste Armutsrisiko. In unserer Studie deuteten es einige der Befragten als ihr Scheitern, dass sie keine Partnerschaft etablieren und keine Familie gründen konnten. Andere wiederum fanden zur romantischen Liebesbeziehung ansatzweise alternative Anerkennungs- und Sinnquellen, etwa in Freundschaften oder einer Orientierung an Familie und Kindern. Was wir aber nicht fanden, waren zur Erwerbsarbeit alternative Anerkennungsquellen. Während (die befragten) Frauen weiterhin die Hauptverantwortung für Sorge und Haushalt trugen, wurde von Männern – im Paar, in der Erwerbssphäre, sozialstaatlich – weiter erwartet, dass sie die Rolle des Familienernährers ausfüllen. Auch wenn Väter sich stärker um ihre Kinder kümmern wollten, erhielten sie dafür auf den verschiedenen Ebenen nur sehr begrenzt Anerkennung. Für sie bestehen ähnliche Vereinbarkeitskonflikte und Hürden wie für Mütter; alleinerziehende Väter stießen angesichts ihrer Sorgeorientierung etwa bei der an Vollzeit orientierten Arbeitsvermittlung auf größere Schwierigkeiten. (…) Wie durch ein Brennglas verschärfen sich also derzeit Ungleichheiten, die auch schon vor der Pandemie bekannt waren, und neue entstehen. Wir sollten ihnen mit umfassenden Politiken der Ent_Prekarisierung begegnen (…). Diese nehmen in der Verletzbarkeit des Lebens ihren Ausgangspunkt. Sie dezentrieren Erwerbsarbeit und stellen – so eine alte, doch ungebrochen aktuelle feministische Forderung – Sorge und den gesamten Lebenszusammenhang ins Zentrum. Wir plädieren für eine Entprekarisierung von Beschäftigung, eine Orientierung an Guter Arbeit, für eine 32- oder 35-Wochenstunden-Vollzeitvorstellung und die Etablierung von kreativen Lebensarbeitszeitenmodellen…” Beitrag von Christine Wimbauer und Mona Motake vom 9. April 2020 beim Genderblog (Christine Wimbauer und Mona Motake veröffentlichten im April “Prekäre Arbeit, prekäre Liebe – Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse” beim Campus Verlag (420 Seiten) - Corona und das Krisenprekariat – Die Corona-Pandemie bringt es schlagartig an den Tag: die Konkurrenzökonomie erzeugt massenhaft prekäre Existenzen und soziale Unsicherheit
“… Eine dem Individualisierungszwang verfallene Gesellschaft wird durch die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden notwendigen Schutz- und Isolierungsmaßnahmen einem Belastungstest unterzogen, wie er bisher nicht denkbar war. Mit einem Mal kursiert ein Begriff in der Öffentlichkeit und wird insbesondere von Politikern auf geradezu inflationäre Art und Weise vor sich her getragen, der in “normalen” Zeiten eher als Kampfbegriff der Linken sein Unwesen treibt und deshalb auf generell wenig öffentliche Gegenliebe stößt: “Solidarität” soll jetzt geübt werden – mit Nachbarn, insbesondere Alten und Hilflosen, mit jetzt schlagartig in ihrer Existenz gefährdeten Unternehmern, Soloselbständigen und überhaupt allen, denen mit dem ökonomischen Shutdown die Geschäftsgrundlage wegzubrechen droht. Dass es sich bei der geforderten “Solidarität” nicht um eine mit linken Erwartungen angereicherte Form der wechselseitigen Unterstützung und Hilfe unter emanzipatorischen Vorzeichen handelt, wird daran erkennbar, da es hierbei nicht um die Durchsetzung eines egalitären Gesellschaftsmodells gehen soll, sondern um den Erhalt der lebensnotwendigen Grundlagen des bestehenden, die herrschende ökonomische und politische Rang- und Hackordnung natürlich mit inbegriffen. Die Wirtschaft in erster Linie soll vor einem die eigene Konkurrenzfähigkeit massiv schädigenden Niedergang bewahrt werden. Die Gesundheit der Bevölkerung spielt darin insofern eine Rolle, als einerseits deren Arbeits- und somit ökonomische Verfügungsfähigkeit erhalten werden soll und andererseits eine staatliche und grundgesetzlich vorgeschriebene Fürsorgepflicht besteht, aus deren mehr oder weniger gelingenden Erfüllungskriterien sich politisches Kapital erster Güte schlagen lässt. Die Staatsbürger erwarten Führungsstärke, und die Politiker bemühen sich redlich, diesem Bedürfnis zu entsprechen, denn sie sehen darin eine Chance, ihren Ermächtigungsauftrag in einen Zugewinn an politischer Macht umzumünzen. (…) Artikel 14, Absatz 1 des Grundgesetzes lautet: “Das Erbrecht und das Eigentum werden gewährleistet. …” Diese höchst hoheitliche Eigentumsgewährung, so kurz und bündig sie auch formuliert ist, hat es in sich: garantiert wird nicht nur ein bestimmtes Eigentum, sondern Eigentum schlechthin. Das mag einleuchtend klingen, dennoch stellt sich hierbei die vielleicht nicht ganz unberechtigte Frage, weshalb der Staat es für nötig hält, Riesenvermögen und Armutseigentum gleichermaßen unter Schutz zu stellen. Oder anders gefragt: Weshalb ist dem Gesetzgeber ein milliardenschweres Vermögen gleich viel wert wie die Schachtel Zigaretten, die sich ein Hartz 4-Bezieher von seinem schmalen Überlebensbudget leisten kann? Wenn der Staat, wie in GG Artikel 3, Absatz 1 ausgeführt, verspricht: “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.” Wieso garantiert der Staat seinen Bürgern dann nicht auch einen gleichen und konkret bezifferbaren Anteil am gesellschaftlichen Eigentum? Eine Antwort auf letztere Frage rückt näher, wenn wir uns GG Artikel 2, Absatz 1 anschauen: “Jeder hat das Recĥt auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.” Hier lässt sich bereits ein aufschlussreicher Bezug zum Eigentumsartikel herstellen: Es verstößt demnach nicht gegen das Sittengesetz, dass der Staat Eigentum unabhängig von seiner Größe und Art unter seinen Schutz stellt und damit so tut, als gäbe es überhaupt keinen praktischen Unterschied zwischen einem Geldvermögen und einer Zahnbürste…” Beitrag von Richard Winterstein vom 3. April 2020 bei Telepolis - Vor Corona sind nicht alle gleich
“Die Ausbreitung des Corona-Virus beeinflusst derzeit unser aller Leben und unseren Alltag enorm. Dennoch sind wir in der Pandemie-Krise nicht alle gleich. Ob Geringverdiener*innen, Hartz IV-Bezieher*innen oder Wohnungslose – diejenigen, die es vorher schon schwer hatten, sind von den Auswirkungen am massivsten betroffen. Sie führen nun umso mehr einen Kampf um ihre ohnehin schon prekäre Existenz. Viele von ihnen sind auf Notversorgungsangebote wie die Tafeln angewiesen, welche derzeit nach und nach wegfallen. Durch die grassierenden Hamsterkäufe preiswerter Nahrungsmittel stehen oftmals (wenn überhaupt) nur noch die teuren Varianten im Supermarktregal, die sich Empfänger*innen von Sozialleistungen bei einem Bedarfssatz von zurzeit 150€ für Lebensmittel und Getränke schlicht nicht leisten können. Und die Schließung von Wohnungslosenunterkünften bringt Menschen ohne festen Wohnsitz in den immer noch bitterkalten Nächten in große Gefahr. Während für die Großkonzerne in Eilverfahren milliardenschwere Rettungspakete geschnürt und inzwischen auch für kleinere und mittelständische Unternehmen Schutzschirme gespannt werden, bleibt eine Antwort der bürgerlichen Politik auf die Frage, wie den ärmsten Bevölkerungsgruppen geholfen werden soll, bisher aus. An unterschiedlichen Stellen regt sich deshalb Widerstand. re:volt-Redakteurin Mona Lorenz hat darüber mit der Erwerbsloseninitiative Basta! Berlin gesprochen…” Interview von Mona Lorenz mit der Erwerbsloseninitiative Basta! vom 26. März 2020 im re:volt magazine und darin: “… Die Einschränkungen treffen alle Lohnarbeitenden und abhängig Beschäftigten. Besonders betroffen sind momentan all jene, die ihre Arbeitsplätze wegen der Pandemieverlieren, aber zum Beispiel auch Menschen mit Behinderungen oder Sexarbeiter*innen, also Menschen, die sonst öfter mal in Arbeitskämpfen übersehen werden. Dazu kommen Freiberufler*innen, Künstler*innen, Honorarkräfte und so weiter. All jene bräuchten unbürokratische Entschädigungszahlungen. Eine andere Risikogruppe sind Immigrierte aus EU-Staaten, die gerade von Jobcentern in subalterne und schmutzige Berufsbranchen verwiesen wurden. Diese Jobs in der Gastronomie, dem Sicherheitsgewerbe, der Tourismusbranche, auf dem Bau oder in den Schlachtfabriken sind ungesicherter als vergleichbare Arbeiten und zudem mies bezahlt. Es ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Tagen und Wochen zigtausend Leiharbeiter*innen, Beschäftigte in der Probezeit oder Angestellte in sogenannten Subunternehmen ihre Jobs verlieren, Aufträge beziehungsweise gleich auch Verträge gecancelt werden und viele dann ohne Geld zur Finanzierung ihrer Lebenshaltungskosten dastehen. (…) Wir sollten strikt gegen eine komplette Ausgangssperre, beziehungsweise die Verhängung des Notstands handeln und argumentieren, ebenso wie gegen die Abschottung der Länder voneinander. Ein Widerstand dagegen ist auch deshalb wichtig, weil es viele Menschen auf besonders harte Art und Weise trifft – Menschen ohne Wohnsitz, ohne Meldeadresse und so weiter. Sie sind durch diese Restriktionen noch stärkeren Gefährdungen ausgesetzt. Das bedeutet nicht, sich gegen physische Distanzierung und gegenseitige Inschutznahme zu stellen, im Gegenteil: Es richtet sich gegen die menschenverachtenden Auswüchse davon, gegen die Vereinzelung und Isolation. Derzeit wird das Grundrecht auf Asyl ausgesetzt, die Freizügigkeit innerhalb der EU wird zumindest für einige vakant. Wir bekommen nichts mehr voneinander mit. Wir bekommen nicht mehr mit, was mit den Leuten ohne Wohnung, ohne Klo, ohne Krankenversicherungsschutz passiert. Wir bekommen nicht mehr mit, wenn Abschiebungen laufen und so weiter. Teilweise verpassen wir auch, was mit uns selbst passiert, falls wir selbst prekär beschäftigt sind und keine Ahnung haben, wie es weitergehen soll…”
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