Dossier
“… Die Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte als ein Lösungsweg aus einem Pflegenotstand verstanden als fehlendes Personal hat – man wird nicht überrascht sein – eine lange Geschichte in unserem Land und reicht weit zurück in eine Zeit, in der Deutschland sich als alles andere verstanden hat als das, was es längst war: ein Einwanderungsland. Die Figur des “Gastarbeiters” wurde auf viele Bereiche übertragen, so auch auf das Gesundheitswesen. Die älteren Semester werden sich noch gut erinnern an die Krankenschwestern aus Korea und den Philippinen, die man in den 1970er Jahren nach Deutschland “importiert” hat. Auch unsere Nachbarn, die Österreicher, haben das praktiziert. (…) Denn auch Spahn sollte mittlerweile wissen, dass dieser Weg keine wirkliche Lösung des eklatanten Pflegepersonalnotstands darstellt, weil ein realistisch erreichbarer Arbeitskräfteimport nur einen sehr überschaubaren Entlastungseffekt zur Folge haben wird. Die strukturell bedingte Hilflosigkeit wird auch an dem bereits bekannten, oft zitierten Textbaustein mit der schnelleren Anerkennung der ausländischen Abschlüsse sowohl in Pflege wie auch bei den Ärzten erkennbar. Hört sich vernünftig an, verspricht aber mehr, als es halten kann. Denn das strukturelle Dilemma, das hier zu benennen ist, bezieht sich auf einen Aspekt, der jenseits der formalen Gleichwertigkeit von Abschlüssen liegt. (…) Die seit langem bekannte und immer wieder reanimierte Hoffnung, über den Griff ins Ausland unsere Personalprobleme lösen zu können, wird genau so funktionieren wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. Also gar nicht. Allenfalls eine punktuelle Entlastung wird es geben können für das eine oder andere Krankenhaus oder das eine oder andere Pflegeheim. Aber man sollte das als Nebenzweig eines vielgestaltigen Lösungsbaums verstehen, in dessem Zentrum die deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege hier bei uns stehen muss. Übrigens – dass es die Arbeitsbedingungen sind, die einen gewichtigen Einfluss darauf haben, ob es a) genügend Nachwuchskräfte für die Pflege geben wird und b) ob und wie lange die Pflegekräfte im Beruf bleiben, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis…” Artikel vom 2. April 2018 von und bei Stefan Sell . Siehe dazu:
- Fachkräftemangel: „Sagt ausländischen Pflegekräften die Wahrheit!“
“… Noch vor zwei Jahren, erzählt Grahame Lucas, seien im Altersheim seiner Mutter in England alle Stellen vergeben gewesen. Neuerdings jedoch – Stichwort Brexit – sieht der britische Journalist am Schwarzen Brett regelmäßig Ausschreibungen hängen. Denn: Ausländische Pflegekräfte verlassen das Land. Viele stammen aus Osteuropa – Polen, Kroatien, Bulgarien, Rumänien Weißrussland etwa. Sie hätten bisher ihr übriges Geld in die Heimat geschickt: an die Eltern, an die Kinder, als Unterstützung für den Lebensunterhalt. Doch der Wertverlust des britischen Pfunds von mehr als zehn Prozent im Zuge des Brexits kommt für sie einem Gehaltsverlust in dieser Höhe gleich. „Einige sind jetzt nach Deutschland gegangen“, sagte Lucas kürzlich in einer Talkrunde im TV-Sender Phoenix: „Weil sie dort neue Stellen bekommen haben.“ (…) Und tatsächlich: Krankenhäuser, Pflegeheime und ambulante Dienste in Deutschland stellen immer mehr Mitarbeiter ein, die ihren Berufsabschluss im Ausland erworben haben. „Die Zahl der Fachkräfte in diesem Bereich, die jährlich einwandern, ist innerhalb von fünf Jahren um das Fünffache angestiegen“, heißt es in einer Studie der Universität in Frankfurt/Main im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (…) „Ohne die Fachkräfte aus dem Ausland wäre der Pflegenotstand in Deutschland noch deutlicher spürbar“, so das Resümee der Forscher. Doch das Anwerben fertig ausgebildeter Pflegefachkräfte aus dem Ausland könne nur eine von vielen Maßnahmen sein, um den Fachkräftebedarf zu decken, heißt es in einem Statement der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. „Deutschland ist alles andere als ein Pflege-Paradies für ausländische Fachkräfte“, sagt Sylvia Bühler, Mitglied im Verdi-Bundesvorstand. „Das liegt vor allem an der schlechten Personalausstattung in den Kliniken und in der Altenpflege und an den unterschiedlichen Vorstellungen von Pflegetätigkeiten.”. (…) Und fast noch wichtiger: Bei der Integration in den Betrieb fehlt oft Weitsicht und Fingerspitzengefühl. Der Kölner Pflegeexperte Lars Holldorf: „Viele Arbeitgeber haben mit ausländischen Pflegekräften noch gar keine Erfahrung gemacht oder im Prinzip blauäugig und unvorbereitet den ersten ausländischen Mitarbeiter eingestellt“, berichtet Holldorf. „Dann ist die Gefahr relativ groß, dass er innerhalb der ersten sechs Monate scheitert…”Beitrag von Adalbert Zehnder vom 2. Mai 2019 bei pflegen-online.de
- ver.di: Neue Studie zeigt Handlungsbedarf für erfolgreiche betriebliche Integration von Pflegefachkräften aus dem Ausland
“Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) sieht nach der Veröffentlichung einer neuen Studie der Hans-Böckler-Stiftung zur Zuwanderung von Pflegefachkräften aus dem Ausland großen Handlungsbedarf, um deren betriebliche Integration erfolgreich zu gestalten. Die Studie zeige, dass es nicht damit getan sei, Pflegfachkräfte aus dem Ausland für die Arbeit in Kliniken und Altenpflegeeinrichtungen einfach nur anzuwerben. „Damit die zugewanderten und einheimischen Pflegekräfte Hand in Hand miteinander arbeiten können, braucht es eine gute Vorbereitung und Begleitung aller Beteiligten“, sagte Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand. Das Anwerben fertig ausgebildeter Pflegefachkräfte aus dem Ausland könne nur eine von vielen Maßnahmen sein, um den Fachkräftebedarf zu decken. Vor allem müssten die Träger der Einrichtungen und die Politik endlich entschlossen handeln, um im eigenen Land genug Menschen für die Pflegeberufe zu gewinnen. „Deutschland ist alles andere als ein Pflege-Paradies für ausländische Fachkräfte. Das liegt vor allem an der schlechten Personalausstattung in den Kliniken und in der Altenpflege und an den unterschiedlichen Vorstellungen von Pflegetätigkeiten“, so Bühler. „Damit es ein besseres Verständnis untereinander gibt, statt stereotyp „kulturelle Unterschiede“ für mögliche Missverständnisse im Berufsalltag verantwortlich zu machen, braucht es Zeit und Räume für den Austausch“, erläuterte Bühler. Wichtig für eine erfolgreiche und nachhaltige Integration ausländischer Pflegefachkräfte seien bessere Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten…” Pressemitteilung vom 01.03.2019 , siehe dazu die genannte Studie:- Neue Studie: Pflegefachkräfte aus dem Ausland: Zahl hat sich versechsfacht – nicht selten Konflikte wegen Unterschieden in Ausbildung und Berufsverständnis
“Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen stellen zunehmend Pflegerinnen und Pfleger ein, die ihren Berufsabschluss im Ausland erworben haben. So ist die Zahl der Fachkräfte für Gesundheits- und Krankenpflege, die jährlich aus dem Ausland nach Deutschland kommen, zuletzt auf fast das Sechsfache gestiegen: Von knapp 1 500 im Jahr 2012 auf gut 8 800 im Jahr 2017. Größtenteils stammen sie aus ost- und südeuropäischen Staaten außerhalb der EU oder von den Philippinen. Die meisten der zugewanderten Pflegekräfte kommen im Arbeitsalltag zurecht, trotzdem ist die „nachhaltige betriebliche Integration eine große Herausforderung“, der sich die Arbeitgeber stellen müssen. Das ergibt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie. Sowohl neu migrierte als auch einheimische Beschäftigte – von denen selbst etliche einen Migrationshintergrund haben – sind oft unzufrieden mit der Zusammenarbeit. Differenzen und Missverständnisse, die häufig auf Unterschieden in der Ausbildung und der gewohnten Arbeitsteilung zwischen medizinischem Personal, Pflege- und Hilfskräften beruhen, werden nicht selten stereotyp mit „kulturellen Unterschieden“ erklärt. Das kann Konflikte ebenso verschärfen wie die generell oft schwierigen Arbeitsbedingungen. Die Leitungen von Kliniken und Pflegeeinrichtungen stehen daher vor der Aufgabe, Foren und zeitliche Freiräume für einen besseren fachlichen Austausch und mehr Verständnis zwischen neu zugewanderten und etablierten Fachkräften in der Pflege zu schaffen. Dabei können Betriebsräte eine wichtige Moderatorenrolle einnehmen. Im besten Fall ergeben sich daraus Anregungen für Verbesserungen in Bereichen, in denen die Arbeitsorganisation im deutschen Gesundheits- und Pflegesektor hinter der in anderen Ländern zurückbleibt. (…) Wie die Zusammenarbeit in Kliniken und Pflegeeinrichtungen im Alltag funktioniert, leuchten die Wissenschaftler über knapp 60 ausführliche Interviews aus. Dabei wurden neben Pflegerinnen und Pflegern, die nach 2008 in die Bundesrepublik gekommen sind, auch einheimische Pflegefachkräfte und Vorgesetzte nach ihren Erfahrungen befragt. Hinzu kamen Interviews mit Arbeitgebervertretern, Vermittlern und Migrationsexperten. In ausführlich dokumentierten Gesprächen beschreiben Leitungskräfte und ein Betriebsrat aus Frankfurter Kliniken, wie in ihren Häusern Konflikte entstanden sind und entschärft werden konnten. Die Befragung offenbart auf beiden Seiten erhebliche Differenzen bei Ausbildung, beruflichem Selbstverständnis und gewohnter Arbeitsorganisation: In vielen der Herkunftsländer werden Pflegefachkräfte an Hochschulen ausgebildet. Eine hochqualifizierte schulisch-betriebliche Ausbildung wie in Deutschland ist dort unbekannt. Gleichzeitig übernehmen Pflegefachkräfte etwa in Südeuropa in der Tendenz mehr Management- sowie Behandlungsaufgaben, die in Deutschland Medizinerinnen und Medizinern vorbehalten sind. Tätigkeiten der so genannten „Grundpflege“ auszuüben, also etwa Patientinnen und Patienten beim Essen oder der Körperpflege zu unterstützen, ist dort für Pflegefachkräfte ungewöhnlich. Dafür gibt es, mehr noch als in Deutschland, teils spezielle Service-Kräfte, teilweise müssen Angehörige einspringen. (…) Die in Deutschland ausgebildeten Pflegefachkräfte kritisieren wiederum, dass neu zugewanderte Kolleginnen und Kollegen schon wegen mangelnder Sprachkenntnisse im verantwortungsvollen und eng getakteten, stressigen Arbeitsalltag nicht voll einsetzbar seien. Die akademische Ausbildung im Ausland wird oft nicht als Vorteil gesehen, sondern als „praxisfern“ kritisiert. Dafür fehlten grundsätzliche Kompetenzen, etwa bei der Körperpflege von Patienten und im „Sozialverhalten“. Aus der Sicht der befragten einheimischen Beschäftigten können die Fachkräfte aus dem Ausland daher zumindest für einen längeren Einarbeitungszeitraum allenfalls als „Schüler“ beschäftigt werden. Die neu migrierten Pflegefachkräfte reagierten auf die Konflikte mit „systematischem Lernen“, einer „ambivalenten Anpassung“ – bei fortwährender Unzufriedenheit – und, wenn die Spannungen nicht gelöst werden, oft mit einem „Exit“, schreiben die Studienautoren. Darunter fassen sie einen Wechsel der Abteilung oder des Krankenhauses, einen Ausstieg aus dem Pflegeberuf oder die enttäuschte Rückkehr ins Herkunftsland. Wohl die schlechteste Lösung nach dem hohen Aufwand auf beiden Seiten. (…) Entscheidend für eine erfolgreiche Integration ist dabei aber auch, dass genug Ressourcen zur Verfügung stehen: „Wenn man permanent unterbesetzt ist und die Patienten nicht vernünftig versorgen kann, dann ist die Bereitschaft für zusätzliche zeitaufwändige Aufgaben nicht so ausgeprägt. Dieses ist aber ein generelles Problem, das nicht nur Fachkräfte betrifft, die aus dem Ausland neu zu uns kommen“, sagt ein befragter Betriebsrat…” HBS-Mitteilung vom 01.03.2019 , darin Links zur Studie
- Neue Studie: Pflegefachkräfte aus dem Ausland: Zahl hat sich versechsfacht – nicht selten Konflikte wegen Unterschieden in Ausbildung und Berufsverständnis
- Interview zu Carearbeit und Migration mit Urmila Goel
“Kurzer geschichtlicher Überblick über die Anwerbung von indischen Krankenschwestern, Stopp der Anwerbung Ende der 1970er und drohende Beendigung der Aufenthaltsgenehmigungen, Verteilung von Sorgearbeit in den Krankenschwester-FAmilien: Männer müssen Hausarbeit machen, lehnen dies aber ab, evtl. hat das aber auch eine Veränderung der Familienbeziehungen bewirkt. Zur Frage nach der Care-Chain kritisiert Urmila eine pauschalisierende Perspektive auf Migrant*innen als “Opfer” und plädiert für differenzierte Mikro-Ansichten auf tatsächlich getroffene Arrangements (…) Dass in Deutschland Migrant*innen für bezahlte Care-Arbeit engagiert werden, ist kein neues Phänomen. Schon in den 60er und 70er Jahren gab es Kampagnen zur Anwerbung v.a. von Frauen aus Südasien. Was wir aus dieser Geschichte lernen können, verrät das nun folgende Interview mit einer Forscherin, die sich intensiv mit dem Thema Care und Migration beschäftigt. Prof. Dr. Urmila Goel [sprich: GO-EL] ist Vertetungsprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Uni Berlin. Als Forscherin, Autorin und Trainerin arbeitet sie zu ungleichen Machtverhältnissen in der Gesellschaft. Sie tut das auf der Grundlage von postkolonialer Theorie, Gender und Queer Studies und kritischer Rassismustheorie. Eins ihrer derzeitigen Forschungsprojekte behandelt die Migration von Krankenschwestern aus Südasien in die BRD…” Franzi von Radio Bermuda, Mannheim, im Gespräch mit Prof. Dr. Urmila Goel am 28. Februar 2019 beim Audioportal Freier Radios (Audiolänge: 7:04 Min.)
- [Wie Europa gewinnt und Afrika verliert] Pflegenotstand in Deutschland: Mein Pfleger Mohamed
“… Dali Nefzi, großgewachsen, Anzughose mit Hosenträgern, blinzelt über die Sonnenbrille hinweg ins gleißende Licht am Strand von La Goulette in Tunesien. Hier ist er examinierter Krankenpfleger, bis vor Kurzem war er Rettungsassistent beim großen Pipeline-Hersteller Pireco. Jetzt ist Nefzi auserwählt. Mit dem staatlichen deutschen Programm Triple Win sollen er und 17 weitere Tunesierinnen und Tunesier in Deutschland den Personalmangel in der Altenpflege mildern, wenigstens ein bisschen. (…) Triple Win heißt so, weil dabei alle Seiten gewinnen sollen. Tunesien, weil es bei einer Jugendarbeitslosigkeit von um die 35 Prozent einige junge Menschen loswerden kann. Deutschland, weil der Pflegemangel abgemildert wird. Und der nordafrikanische angehende Altenpfleger, weil er legal in die EU und direkt in den deutschen Arbeitsmarkt übersiedeln darf, was Millionen anderen verwehrt ist. Doch es gibt einen gravierenden Fehler: Es werden keine ungelernten Schulabsolventen mit deutschem Geld im Ausland zu Experten gemacht. Deutschland zieht mit Triple Win ausgebildete Fachkräfte ab, die man auch in Tunesien benötigt. (…) »Wenn alle gewinnen«, so schreibt es die GIZ über ihr Programm zur Anwerbung ausländischer Pfleger. Die Wahrheit ist: Europa gewinnt, Afrika verliert, zumindest wenn man die fragt, die vom Triple-Win-Pilotprojekt in Tunesien direkt betroffen sind. Professor Doktor Mounir Daghfous leitet den staatlichen Rettungsdienst in Tunis, er hat Nefzi in Notfallmedizin ausgebildet, wie vor ihm bereits Hunderte andere. »Wir bilden sie aus, dann werden sie weggefischt.« (…) Die jungen Arbeitslosen, die 35 Prozent, werden nicht von Deutschland ausgebildet, sie bleiben hoffnungslos. Im Landesinneren buhlen Islamisten um die Frustrierten…” Bericht von Christoph Titz vom 24. Juni 2018 bei Spiegel online
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