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Besorgte Bürger: Getäuscht, betrogen und für blöd verkauft
Warum sind die Menschen im Osten Deutschlands eigentlich so? Das fragte man sich zum Beispiel auch letztes Jahr, als sich auf Chemnitz Straßen Neonazis und das Bürgertum vermischten. In einem Radiofeature zum Thema, bei dem ich eingeladen war, schürfte man nach tiefgründigen, weit in der Geschichte der Sachsen angesiedelten Erklärungsversuchen. Schon zu Zeiten des Hauses Brandenburg habe das Sächsische ins Querulantische tendiert. Anders gesagt: Der Jammerossi war schon im 17. Jahrhundert Thema.
In Erinnerung geblieben ist mir, wie ich in diese Funkwellenrunde kurz einwarf, dass die Agenda 2010 durchaus auch was mit den Menschen im Osten gemacht habe. Das hatte man jedoch schnell entkräftet. Die These des historischen Ossis verfing bei meinen Diskussionspartnern besser. Sie schien schlüssiger. Vielleicht auch, weil man so um einen ungeliebten Punkt herumschiffen konnte: Dass das mit der Wiedervereinigung nicht ganz so richtig lief.
Genau so sieht das auch die sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration Petra Köpping (SPD). Mit ihrer Streitschrift »Integriert doch erst mal uns!« reagierte sie auf die Vorwürfe, die auch sie von vielen Ostdeutschen an den Kopf geworfen bekam. Die seien in ihren Augen nicht mehr oder weniger offen für Fremdenfeindlichkeit als die Westdeutschen. Sie fühlten sich nur fremd im eigenen Land. Bald dreißig Jahre nach der Wende empfinden sie die westdeutsche Hegemonie noch immer als bedrückend.
Daher würde es jetzt Zeit, die Wiedervereinigung zu analysieren. Denn damals, als die DDR fiel, sei viel Ungerechtigkeit geschehen. Kompetenzlose Glücksjäger aus dem Westen wurden ostdeutschen Facharbeitern vorgesetzt. Die Qualifikation, Wessi zu sein, reichte schon aus. Man verkaufte den marktwirtschaftlich naiven Neubürgern unnötige Versicherungen, veraltete Autos und wertete die ostdeutsche Herkunft soziokulturell bei jeder Gelegenheit ab. Von der Treuhand, die nie richtig aufgearbeitet wurde, ganz zu schweigen.
Das alles hat etwas mit den Menschen im Osten gemacht. Und das wirkt bis in die Generation nach, die die Wendezeit nur noch aus Erzählungen kennt. Denn der Osten wurde für viele nicht aufgenommen in oder verschmolzen mit dem Westen, sondern schlicht von ihm erobert. Der Autor Pankaj Mishra glaubt, dass es ein Muster gekränkter Gesellschaften sei, die Sache folgendermaßen zu bewerten: »Unsere Eroberer mögen mehr Macht, Geld und Ressourcen haben, aber wir sind moralisch und kulturell überlegen.«
Ist man bei so einer selbstüberhöhten Haltung erstmal angelangt, wird ein konstruktiver Diskurs äußerst schwierig. Denn man fühlt sich ständig gegängelt, bevormundet und möchte sich »heute nicht wieder verscheißern lassen«, wie eine Pegida-Anhängerin Köpping ihre Sicht der Dinge mal erklärte. Bis zur Verschwörungstheorie ist es dann nicht mehr weit.
Die Sozialdemokratin formuliert kenntnisreich etwas, was als Thema so gut wie gar nicht vorkommt: Der Westen hat große Schuld an der Etablierung der AfD im Osten. Bis heute gilt als ausgemachte Sache, dass Westdeutschland eine Heldentat vollbrachte, weil es ein Land von 16 Millionen Hilfsarbeitern integriert habe und dann sind die auch noch undankbar. Dabei war es doch so: Am Aufbau Ost hat sich die westdeutsche Wirtschaft gesundgestoßen. Man hat nebenher auch von ostdeutschen Know-How und von fachlicher Kompetenz profitiert.
Petra Köpping lässt trotzdem einseitige Kritik nicht gelten. Sie gibt auch den Ostdeutschen Schuld. Im Zuge der Wende hätten die alle Wertvorstellungen für den Konsum geopfert. Alles was aus dem Westen kam, wurde bevorzugt gekauft. Auch die Treuhand, die sie scharf kritisiert, ordnet sie neutral ein: Die habe wenigstens Auswirkungen wie in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks verhindert, Oligarchen wurden so umgangen. Warum aber der Staatsbesitz kaum in ostdeutsche Hände kam: Das sollte mal eine Kommission aufarbeiten.
Hartz IV lässt die Staatsministerin und Autorin leider am Rande liegen. Sie erwähnt das Thema zwar, aber dass die Agenda 2010 die Eroberung des Ostens durch den Westen nochmals unterstrich, wollte sie so konkret nicht erklären. Vielleicht darf man das von einer Sozialdemokratin in diesen Tagen auch nicht erwarten.
Was wir aber endlich erwarten sollten im dreißigsten Jahr des Mauerfalls: Das Narrativ vom guten Westen muss aufgelöst, die Märchen müssen aufgeweicht werden. Sagen wie es war, historisch aufarbeiten und analysieren: Die Zeit ist reif, die postfaktische Wahrheit der Eroberer gegen eine Wahrheit auszutauschen, die von beiden Seiten erzählt wird. Wenn nicht jetzt, wann dann?Schlagwörter zu diesem Artikel:
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