Mittwoch, 29. Mai 2019

Kafkaesk (Klaus Nilius)


Die Fakten sind schnell berichtet: Franz Kafka starb im Juni 1924 kurz vor seinem 41. Geburtstag und hinterließ seinem Freund, dem wie er in Prag geborenen Schriftsteller Max Brod, einen undatierten Zettel mit dem Wunsch, sein Werk möge vernichtet werden. Brod setzte sich darüber hinweg, wurde zum »Verwalter und Propagator« Kafkas (Ludwig Dietz im Metzler-Lexikon »Weltliteratur«) und publizierte nach und nach »den Nachlass – ein Vielfaches des von K. selbst Veröffentlichten –, den Nachruhm vorbereitend, begleitend und steigernd« (ebd., S. 235).

Welchen Umfang diese editorische Tätigkeit Brods hatte, lässt Rainer Stach in seiner monumentalen dreibändigen Kafka-Biographie erahnen: »Als Schriftsteller hinterließ Franz Kafka etwa vierzig vollendete Prosatexte.« In der Kritischen Kafka-Ausgabe umfassen die von »Kafka selbst als abgeschlossen betrachteten Texte etwa 350 Druckseiten«. Außerdem hinterließ Kafka »etwa 3400 Druckseiten Tagebuchaufzeichnungen und literarische Fragmente, darunter drei unvollendete Romane« (Rainer Stach: »Kafka. Die Jahre der Entscheidungen«).

1939 emigrierte das Ehepaar Brod aus dem deutsch-besetzten Prag nach Tel Aviv mit dem letzten Zug, der die tschechisch-polnische Grenze überquerte, ehe die Deutschen sie schlossen, mit dabei der wohl »berühmteste Koffer der Literaturgeschichte«. Sein Inhalt: Manuskripte, Notate, Kritzeleien Franz Kafkas. Jahrzehnte später entwickelte sich darüber ein Gerichtskrimi.

Der in Jerusalem lebende Autor Benjamin Balint, Leserinnen und Lesern der Wochenzeitung Die Zeit als Essayist bekannt, recherchierte die Hintergründe der juristischen Auseinandersetzung und schrieb unter dem Titel »Kafkas letzter Prozess« ein informatives Buch, das er in der ersten Maiwoche auf seiner Lesereise in Hamburg, Berlin, Leipzig, Köln und Stuttgart vorstellte.

Um was es geht: Brod starb im Dezember 1968, die von ihm geretteten Handschriften Kafkas hatte er seiner Sekretärin und Lebensgefährtin Esther Hoffe vermacht. Diese verkaufte einen Teil auf Auktionen. Nach ihrem Tod im Jahre 2007 erbten ihre beiden Töchter Kafkas und Brods Nachlass. Auf dessen Spur kam ein israelischer Journalist, der Vermutungen des Kafka-Biographen Stach nachgegangen war, in Israel gebe es unbekannte Manuskripte der beiden Autoren.

Der begehrliche Wettlauf um die Schriftstücke war eröffnet: Die Schwestern wollten den Nachlass an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verkaufen, versilbern, wie Kritiker hämen. Da aber waren das israelische Nationalarchiv und die israelische Nationalbibliothek davor. Also trafen sich die drei Seiten mit ihren Anwälten vor Gericht. Im August 2016 entschied das Oberste Gericht Israels die Auseinandersetzung mit einem Beschluss »pro domo«, zu Gunsten Israels also.

Der sich über lange Jahre hinziehende Rechtsstreit erinnerte manchen Beobachter an Kafkas Erzählung mit dem Titel »Das Urteil«, als stamme das Drehbuch von Kafka selbst, der einmal an seine zeitweilige Verlobte Felice Bauer geschrieben hatte: »Findest du im ›Urteil‹ irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären. Aber es ist viel Merkwürdiges daran« (zitiert nach Richard T. Gray: »Das Urteil«, in: Reclam-Interpretationen, Franz Kafka).

Aber es ging in dem Prozess, wie Balint anschaulich schildert, nicht nur um das bloße literarische Erbe, es ging um religiöse, kulturelle und nationale Aspekte: War Kafka vor allem ein jüdischer Autor? Wo ist sein Erbe richtig aufgehoben? Im Staat Israel, in dem Kafka nie gelebt hat, da dessen Existenz am Anfang des 20. Jahrhunderts höchstens eine zionistische Vision war? In Deutschland, in dessen Sprache er schrieb, in dessen Namen aber Kafkas Familie ausgelöscht wurde? Oder vielleicht in Österreich, gehörte doch zur Geburtszeit Kafkas und Brods das damals vor allem von Deutschen und Tschechen bevölkerte Prag zum Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn?

Fragen über Fragen, die bestehen bleiben, auch wenn national-juristisch entschieden ist: Kafkas und Brods Erbe, zumindest der dort aufgefundene Teil, gehört nach Israel. Es war ein Gordischer Knoten, den das Oberste Gericht allerdings anders als Alexander der Große löste: mit einem Federstrich unter dem endgültigen Urteil.
Balints Buch ist eine fesselnde Reportage über eine kafkaeske, literarisch brisante Melange und eine lesenswerte Einführung in das Werk und die Gedankenwelt Franz Kafkas.

Nachbemerkung: In Hamburg fand die Buchvorstellung im Jüdischen Salon im Café Leonar statt, Grindelhof 59. In die alsternahen Stadtteile Harvestehude und Rotherbaum, zu diesem gehört das Grindelviertel, zog zwischen 1870 und 1930 ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Hamburgs, fast 70 Prozent waren es um 1925. Es herrschte eine so dichte Infrastruktur, dass die Gegend auch »Klein-Jerusalem« genannt wurde. Heute erinnern Gedenktafeln, Mahnmale und regelmäßige Veranstaltungen an die damalige Zeit sowie an die Verfolgung und Auslöschung der Hamburger Juden. Inzwischen hat ein neues jüdisches Leben am Grindel begonnen, und die ehemalige Talmud-Tora-Schule beheimatet seit 2007 die Joseph-Carlebach-Schule, die Schule der jüdischen Gemeinde Hamburg. (Mehr dazu unter: https://www.dasjuedischehamburg.de)


Benjamin Balint: »Kafkas letzter Prozess«, aus dem Englischen von Anne Emmert, Berenberg-Verlag, 336 Seiten, 25 €

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