Mittwoch, 29. Mai 2019

Ein Mammutprojekt der europäischen Lyrik (Manfred Orlick)


Sie ist Ausdruck der Vielfalt und gleichzeitig der Einheit der europäischen Literatur: die Lyrik. Seit der griechisch-lateinischen und jüdisch-christlichen Antike war kaum eine andere literarische Gattung so verbindend. Über Jahrhunderte schufen die Dichterinnen und Dichter einen Gedichtschatz, mit dem sie nicht nur die Sprache ihres Landes bereicherten, sondern auch Grenzen überquerten.

Der Hanser Verlag hat nun eine neue lyrische Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhundert vorgelegt. Anlass war auch die Wahl zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai. Der Büchner-Preisträger, Dichter und Übersetzer Jan Wagner und sein italienischer Kollege Federico Italiano machten sich daher auf literarische Entdeckungsreisen durch die poetischen Landschaften des Kontinents. Die Vorbereitungen nahmen mehrere Jahre in Anspruch. Da es ein Ding der Unmöglichkeit war, dass sich die beiden Herausgeber in der Lyrik aller Länder gleichermaßen gut auskannten, wurden sie bei dem Projekt von einem Expertennetzwerk unterstützt. So wurde zunächst eine Namensliste europäischer Lyri-kerInnen erstellt und an kundige Gewährsleute in ganz Europa verschickt. Monate später, nach Eingang aller Rückmeldungen und nach mehreren Neusortierungen, ging es schließlich an einen gewaltigen Leseparcours und an die Auswahl der AutorenInnen und ihrer Gedichte. Langsam nahm die lyrische »Grand Tour« Gestalt an. Der spätere Buchtitel griff dabei die Tradition der »Grand Tour« auf, der klassischen Bildungsreise junger Adliger, später der Künstler und Intellektuellen.

Herausgekommen ist eine umfangreiche Anthologie, die auf ihren fast 600 Seiten nicht weniger als 427 europäische Lyriker mit Werken in 46 Sprachen versammelt, wozu auch Armenisch, Türkisch, Georgisch und Hebräisch gehören. Weit über die Hälfte der Gedichte musste zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt werden. Eine weitere Schwierigkeit war, dass es nicht in jeder Sprache und in jedem Land eine gleichermaßen lebendige Lyrikszene gibt. Trotzdem wurde versucht, die Gedichtauswahl nicht von der Größe des Landes und der Verbreitung einer Sprache abhängig zu machen. Außerdem wurden ausschließlich Texte von Autoren und Autorinnen ausgewählt, die – bis auf wenige Ausnahmen – alle nach 1968 geboren sind. Die Altersgrenze wurde bewusst gezogen, um vor allem junge, jedenfalls noch lebende LyrikerInnen zu Wort kommen zu lassen – schließlich ist der Band mit »Reisen durch die junge Lyrik Europas« untertitelt. Für die Herausgeber war 1968 außerdem ein europäisches Schlüsseljahr mit den Studentenbewegungen im Westen oder dem Prager Frühling im Osten.

Auf insgesamt sieben Reisen wird die zeitgenössische Lyrik vorgestellt, dabei folgen diese Entdeckungstouren bewusst keinen geografischen Rundkursen oder sprachlichen Zusammenhängen; vielmehr geht es im Zickzackkurs kreuz und quer durch den Kontinent. Der Spontanität wird freier Lauf gelassen. So führt die Auftaktreise zum Beispiel durch Polen, Wales, (Nord-)Mazedonien, Island, Moldawien, Portugal und Finnland. Während jeder Reise werden jeweils sieben verschiedene Länder aufgesucht. Auch innerhalb der Reisen sind die Übergänge fließend, mitunter sogar auf einer Buchseite: beispielsweise oben ein Gedicht eines moldawischen Lyrikers, darunter ein portugiesisches Gedicht. Die Originalgedichte sind stets am rechten Seitenrand als Fließtext in etwas kleinerer Schrifttype neben den deutschen Übersetzungen angefügt.

Ebenso vielfältig sind die Themen, die in den Gedichten angesprochen werden – von Liebe und Sehnsucht, Abschied und Sterben, Natur und Politik bis hin zu Reflexionen. Hier drängt sich allerdings die Frage auf, ob eine thematische Anordnung statt der nationalen Gliederung nicht angebrachter gewesen wäre – schließlich strebte man ein lyrisches »Europa ohne Grenzen« an. Es sind meist Prosagedichte wie »Blechdose« des Schotten Peter Mackay, übersetzt von Corinna Krause (»Als ich in der Grundschule war, / nannte ich eine glatte, flache Blechdose mein Eigen, / in der ich meine Worte aufbewahrte, / die auf kleinen Papierstückchen geschrieben standen.«). Rhythmische oder stark verdichtete Verse stehen bei den zeitgenössischen LyrikerInnen (oder den Herausgebern) anscheinend nicht hoch im Kurs. Dem Anlass entsprechend ist die Aufmachung gediegen; ein Itinerar der Reisen und zwei Register erleichtern die Navigation in der Gedichtauswahl. Fazit: Die »Grand Tour« bietet einen intensiven Einblick in die europäische zeitgenössische Lyrik mit vielen unbekannten Namen, die es für deutsche Leser zu entdecken gilt. Für diese Reise braucht man »keinen Pass und kein Visum«, »nur Neugier und Offenheit«, wie die Herausgeber betonen.


Jan Wagner/Federico Italiano (Hg.): »Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas«, Hanser Verlag, 584 Seiten, 36 €

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