Samstag, 11. Mai 2019

Felix Jaitner über die russische Erinnerungspolitik - Geschichte wird umgeschrieben

»1941-1945: Wir können es wiederholen!« Diese Losung kursiert in Russland seit einigen Jahren als Aufkleber auf Autos oder als Plakat auf den Gedenkfeiern während des 9. Mais, dem Tag des Sieges. So auch in diesem Jahr. Die Botschaft bezieht sich weniger auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart: Sollte ein Land uns angreifen, stehen wir bereit – und werden selbstverständlich wieder gewinnen.
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Russland hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. »Niemand wird vergessen. Nichts wird vergessen« – dieser Spruch wurde in der Sowjetunion zum Sinnbild für das unbeschreibliche Leid der Bevölkerung, die mit geschätzten 27 Millionen Opfern für den Sieg gegen das faschistische Deutschland bezahlte. Doch die Aussage enthält auch eine Mahnung an die Menschheit, die Verbrechen des nationalsozialistischen Terrors nicht zu vergessen. Sie fordert eine aktive Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit der Vergangenheit. Geschichte gehört eben nicht nur ins Museum, sondern prägt den Alltag und die politische Kultur eines Landes.
Genau wie in Deutschland gibt es auch in Russland immer weniger Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Das stellt die Erinnerungsarbeit vor eine neue Herausforderung, denn für viele Menschen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist es selbstverständlich, dass es nie wieder zu einem Krieg in Europa kommen darf. Diese Erkenntnis ermöglichte eine politische Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Russland seit Willy Brandt, die maßgeblich dazu beitrug, Spannungen abzubauen.
Heutzutage stehen beide Länder zunehmend in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Während hierzulande wieder munter an russischen Feindbildern geschraubt wird, forciert der russische Staat eine nationalistische Geschichtsschreibung: Es werden neue Feiertage wie der »Tag der Einheit des Volkes« am 4. November geschaffen und Präsident Wladimir Putin in eine Reihe mit den russischen »Gründervätern« wie Iwan der Große, Peter der Große oder Lenin gerückt.
In diesem Zusammenhang erhält auch der Zweite Weltkrieg eine neue Bedeutung. Die Nationalsozialisten führten einen ideologischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, doch das spielt heute eher eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wird der Krieg als großrussischer Befreiungskrieg umgedeutet. Damit einher gehen die Beschwörung des russischen Großmachtstatus sowie eine allgemeine Glorifizierung von Krieg und Armee. »Wir können es wiederholen«, ist ein solches Beispiel und es ist die postsowjetische Generation, die diese Sichtweise unterstützt.
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