Mittwoch, 19. Dezember 2018

Das hört nicht auf – Celans Nachwelt (Monika Köhler)


Schon wieder Plagiatsvorwürfe gegen Paul Celan, zu seinem berühmtesten Gedicht »Todesfuge«. In der Frankfurter Anthologie der FAZ vom 18. August 2018 stellte der Schriftsteller Hans Christoph Buch das Gedicht »Er« von Immanuel Weißglas vor. Und hebt so an: »Nein, Sie irren sich nicht, wenn das Gedicht Ihnen bekannt vorkommt, denn manche dieser Verse kehren wortwörtlich wieder in Paul Celans ›Todesfuge‹...« Was heißt es anderes als gestohlener Text: »kehren wortwörtlich wieder«? Buch sieht in dem Gedicht einen »makabren Totentanz wie Abrecht Dürer und Hieronymus Bosch ihn gemalt haben« – ja wirklich? Darstellungen von Totentänzen haben nichts gemein mit der grauenhaften Realität der deutschen Vernichtungslager im Osten, die in beiden Gedichten beschworen wird. Buch meint, das »Paradox« liege darin, dass »nicht« Immanuel Weißglas den Text von Celan »paraphrasiert, sondern umgekehrt«. Und, so windet er sich: »Es scheint keineswegs abwegig, dass Celans Entschluss zum Freitod im April 1970« mit dem »1947 entstandenen, 1970 erstmals gedruckten Gedicht seines gleichaltrigen Freundes« beeinflusst worden sein »könnte«. Dass Celan »dünnhäutig« war und »zu Depressionen neigte« – wie »viele Holocaust-Überlebende« ist so trivial wie schrecklich, trifft aber den besonderen Fall Celan – der immer wieder in die Klinik eingeliefert wurde – nur in Umrissen. Genauso unangemessen erscheint der Terminus »Todessehnsucht« zu Weißglas‘ Lyrik. Sehnsucht – Romantik? Wie kann Buch so etwas schreiben, wusste er doch, dass Weißglas wie sein Freund Celan »der Endlösung mit knapper Not entkam«.

Zu den Plagiatsvorwürfen (Buch erwähnt nur die »unsinnigen« der Claire Goll – zu Recht), aber was er so hinterrücks durchscheinen lässt – er hätte sich leicht informieren können in der zur gleichen Zeit erschienenen Neuen kommentierten Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans. In dem von Barbara Wiedemann herausgegeben Band steht auf Seite 688 über das Gedicht »Er« von Weißglas: »[J]eglicher Beweis fehlt«, dass es früher als die »Todesfuge« entstanden ist. Ein Leserbrief (vom 25.8.2018) von Wiedemann nennt kurz die Fakten: »Für die Erstpublikation von ›Er‹ im Februarheft der Bukarester Zeitschrift Neue Literatur 1970 im Rahmen eines ›Querschnitts‹ durch Weißglas‘ Werk wurde das Datum 1944 von der Redaktion hinzugesetzt. In Weißglas‘ im Januar 1947 in Bukarest erschienenem Gedichtband ›Kariera am Bug‹ ist das Gedicht nicht enthalten.« Wo erschien es erstmals? »In einem Typoskript mit dem Titel ›Gottes Mühlen in Berlin‹, das auf den 20. Juli 1947 datiert ist. Zu diesem Zeitpunkt«, so Wiedemann weiter, »war Celans ›Todesfuge‹ in Form einer rumänischen Übersetzung durch Petre Solomon unter dem Titel ›Tangoul mortii‹ bereits gedruckt (2. Mai 1947, Contemporanul).«

Der furchtbare Verdacht des Abschreibens hat Celans Leben einen Riss gegeben sowie die Vorwürfe, seine Gedichte seien »kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier ohne jeden Wirklichkeitsbezug« (Günther Blöcker 1959 im Tagesspiegel). Der gewaltsame Tod seiner Eltern im Lager – sie hatten kein Grab in der Erde – kein Bezug zur Wirklichkeit? Über das Gedicht: »Oranienstraße 1« habe ich im Jahr 2012 (Nr.15/16) in Ossietzky geschrieben. Warum? »Ossietzkys letzte Trinkschale« – im KZ – so real wie der Titel, ließen mich alle Verästelungen dieses Gedichts nachspüren. Es steht als Paradebeispiel für »Unerklärbarkeit« in einer Dissertation, wird dort »hermetisch« genannt. Die Adresse in Frankfurt am Main habe ich aufgesucht.

Ohne die Kommentare zu den einzelnen Gedichten, die die Hälfte des Bandes ausmachen, wäre ein Annähern, ein Nachvollziehen unmöglich. Die Entstehungsgeschichte sowie die Erläuterungen sind nicht nur informativ, sondern geradezu spannend zu lesen. Man muss sie nur finden und viel vor- und zurückblättern.

Wer im Kommentarteil hinten nur die Gedichte »Spät und Tief« und »Todesfuge« nachschlägt, findet all das Unverständnis und die Angriffe auf Celan, über die er nie hinwegkam. Die »Todesmühlen«, die schon in der Goll-Affäre eine große Rolle spielten. Und Celan »war entsetzt über Hans Egon Holthusens erstmals 1954 geäußerte, dann mehrmals wiederholte Einschätzung, man könne die »Mühlen des Todes« trivial finden und das »weiße Mehl der Verheißung«, das in ihnen gemahlen werden soll, für eine künstliche und daher gänzlich tote Metapher erklären« (Seite 686). Ab Januar 1946 lief in deutschen Kinos der Dokumentarfilm »Todesmühlen« von Billy Wilder und Hanuš Burger. Und zur »Todesfuge« notierte Celan, er habe in der Iswestija den Bericht über das Lemberger Ghetto gelesen (er erschien mit Abbildungen am 23.12.1944). Auch in der Prawda erschien ein Artikel über das Schicksal von Juden in deutschen Lagern auf ukrainischem Boden (dort wurden Celans Eltern ermordet). Er lebte da noch in Czernowitz. Wiedemann: »Eine Entstehung des Gedichts vor Celans Ausreise nach Bukarest im April 1945 ist zumindest wahrscheinlich.« Zur neuen Ausgabe der Lyrik Celans schreibt Wiedemann, sie gehe davon aus, dass »jedes zum Gedicht gereifte Gebilde von seinem konkreten Datum her geschrieben ist«.

In die neue Ausgabe kamen 58 Gedichte (darunter drei Erstpublikationen) und neun Prosagedichte. Außerdem alle mit der Kennzeichnung: »i« für Idee im Sinne eines möglichen Ausgangspunktes für ein Gedicht. Dann »äußerst polemische Verstexte«. Denn »auch die Polemik kann heute kein Ausschlusskriterium mehr sein«, meint Wiedemann. Und so können wir uns vorstellen, was Paul Celan über Hans Christoph Buch gedacht hätte.


Paul Celan: »Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe«, Suhrkamp, 1262 Seiten, 78 €

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