Mittwoch, 19. Dezember 2018

Besorgte Bürger? (Frank Schumann)


»Dieser Steinfeld, eine prononziert jüdische Erscheinung mit gekräuseltem Negerhaar, ist kommunistischer Schriftsteller, ein Volksverräter vom Schlage der ›Weltbühne‹ und des ›Tagebuch‹, seinerzeit Leiter eines kommunistischen Schauspielerkollektivs«, hieß es in einem Leserbrief in den Altonaer Nachrichten am 8. April 1933. Das denunziatorische Schreiben nahm Bezug auf den Brief eines Theaterbesuchers (»dem Juden Heinz Liepmann, Hamburg, Collonaden 5«) an die Intendanz des Altonaer Stadttheaters. Der Absender hatte darin empört auf eine Aufführung vor einer Woche reagiert, die er wegen des antisemitischen Gehalts eine »Kulturschande« nannte. Ferner bezeichnete er es als Skandal, dass der Theaterkritiker Justin Steinfeld aus der Premierenvorstellung geworfen worden war.

In dieser nun qua Zuschrift an die Zeitung öffentlich gemachten Antwort auf den Vorwurf hieß es: »Die Intendanz des Theaters war der richtigen Auffassung, dass dieser Mann in einem deutschen Theater nichts zu suchen habe, und hatte deswegen die Karte nicht bewilligt. Herr Steinfeld erschwindelte sich darauf seinen Platz, indem ein Bekannter von ihm sich 3 statt 2 Pressekarten geben ließ. Herr Steinfeld wurde während der Aufführung aufgefordert, das Theater unauffällig zu verlassen; er ist dieser Aufforderung nachgekommen. Kein Haar wurde ihm gekrümmt.«

Justin Steinfeld wurde übrigens wenig später in »Schutzhaft« genommen – vermutlich aber nicht, weil er sich eine Theaterkarte »erschwindelt«, sondern weil er einen Ausschuss geleitet hatte, der die 18 Nazi-Morde während des »Altonaer Blutsonntags« am 17. Juli 1932 untersuchte. Steinfeld überlebte, weil er aus dem KZ fliehen konnte, er starb im britischen Exil 1970.

Denunziationen wie diese, mit der zwei ehrbare Hamburger Bürger an den Pranger gestellt wurden, nämlich Liepmann und Steinfeld, waren damals, in den frühen 1930er Jahren nichts Ungewöhnliches. Besorgte Mitbürger, die den antisemitischen Zeitgeist erfasst hatten, schrieben Leserbriefe, in denen sie Zeitgenossen, deren Nasen ihnen aus unterschiedlichen Gründen nicht passten, öffentlich abschmierten, mit Schmutz bewarfen und obendrein deren Adressen preisgaben. Redakteure, die um ihre Zukunft in ihrer Zeitung fürchteten oder bereits selbst vom völkischen Ungeist infiziert worden waren, machten die abfälligen, üblen Nachreden publik, indem sie den Dreck druckten und mitunter auch mit abfälligen Kommentaren versahen. Mit solcherart Vox populi wurde Stimmung gemacht und gesellschaftlicher Druck erzeugt: Wer wagte sich mit den solcherart Stigmatisierten und Gebrandmarkten noch einzulassen?

An diese unselige Praxis fühle ich mich erinnert, wenn mir jüdische Freunde berichten, dass sie zunehmend Abfuhren erhalten. Veranstalter, die sie zu Lesungen oder Diskussionen gebucht und diese meist schon öffentlich angekündigt hatten, ziehen häufiger als noch vor Jahren ihre Einladung wieder zurück. Meist begründen sie den Rückzieher mit der Sorge vor möglichen Provokationen und Protesten, die den Auftritt begleiten könnten. Es gebe Hinweise, Anrufe, Schreiben, kritische Beiträge in der Lokalpresse, Leserbriefe raunen sie, es tue ihnen leid ... Die Furcht, ob nun begründet oder real, kann man aufgrund der Häufigkeit solcher Ausladungen durchaus als Indiz einer Klimaveränderung interpretieren. Angst, mindestens aber Verunsicherung machen sich hierzulande im Kulturmilieu breit.

Wo kommt das her? Wer steckt dahinter? Wodurch werden Menschen eingeschüchtert und zu solchen Reaktion veranlasst?

Nehmen wir einen Fall aus Hamburgs Partnerstadt Dresden. Mein Freund Saadi Isakov lebt in Berlin und ist Journalist. Er hatte mit einem Ukrainer ein Interview für eine jüdische Zeitung geführt. Dessen Inhalt missfiel offenkundig der Kiewer Obrigkeit, und als er danach in Odessa – aus Tel Aviv kommend – wieder einmal ukrainischen Boden betreten wollte, drückten ihm die Grenzer einen roten Stempel in den Pass, der ihm die Einreise in die Ukraine für fünf Jahre verbot, und schoben ihn ab.

Isakov war auch beteiligt an einem Buch, in welchem sich mehrere Autoren mit dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa beschäftigen. Dort starb mehr als ein halbes Hundert Menschen in einem Protest-Camp vor dem Gewerkschaftshaus: Sie waren von rechtsextremen, nationalistischen, neonazistischen Schlägerbanden niedergemetzelt worden, weil sie den gewaltsamen Regimewechsel in Kiew nicht hatten hinnehmen wollten. Dieser Massenmord ist übrigens juristisch und politisch bis heute unaufgeklärt. Warum wohl?

Über das Buch und seinen Gegenstand sprechen beteiligte Autoren und der Herausgeber Oleg Muzyka hierzulande ebenfalls. Doch in jüngster Zeit kommen nach ursprünglichen Zusagen unvermittelt Absagen. Etwa aus Dresden.

Der dortige Veranstalter, ein eingeführtes Unternehmen mit guter Reputation, schickte zur Erklärung der Ausladung eine Mail, die er von einem Dr. Sergei Kovalenko aus Kiew (!) erhalten hatte. In der Betreffzeile stand »Beschwerde«. Diese richtete sich gegen die geplante Buchvorstellung, mehr aber noch gegen den eingeladenen Herausgeber. Zwar habe damals im Mai 2014 in Odessa »eine schreckliche Tragödie« stattgefunden, hieß es in der Mail, und es habe »Ausschreitungen zwischen proukrainischen und prorussischen Demonstranten« gegeben, aber alles sei nicht so, wie etwa der eingeladene Oleg Muzyka berichten werde. Der »behauptet von sich, einer der Überlebenden dieser Tragödie zu sein. Er lebt in Berlin und verfügt angeblich über einen Asylstatus. Gleichzeitig bereist er ganz Deutschland und das nahe Ausland und ist ständig in öffentlichen Diskussionen, Lesungen und Auftritten präsent, an denen auch viele hochrangige russische Vertreter zugegen sind. In meinen Augen ist diese Kombination mehr als zu hinterfragen und lässt auf eine direkte Finanzierung seitens Russlands schließen. Darüber hinaus wird er in der Ukraine zur Fahndung ausgeschrieben.« Soll Oleg Muzyka vielleicht in »Schutzhaft« genommen werden? Und woher weiß Dr. Sergei Kovalenko das alles?

Besonders verdächtig macht sich in den Augen des gut informierten, besorgten Kiewer Bürgers dieser Oleg Muzyka, weil er von einem »faschistischen Putsch« spreche. »Die Mär von ›Faschisten‹ in der Ukraine hält sich leider auch teilweise bis heute, entspricht aber genauso wenig den Tatsachen. Einzig russische staatliche Medien halten entschieden an dieser Version fest, um die Einmischung Russlands in innerukrainische Angelegenheiten zu legitimieren.«

Deshalb lautete der unmissverständliche Vorwurf des Absenders, der sich auf seiner Website als ein seit 2015 tätiger »IT-Consultant« ausweist, an den Dresdner Veranstalter: »Indem Sie diesem Mann für seine Buchvorstellung eine Bühne bieten, unterstützen Sie in direkter Weise die russische Propaganda.« Er bitte daher, »die Zulassung noch einmal zu überdenken und appelliere hier an Ihr Mitgefühl und Ihre Solidarität mit den Opfern des von Russland geführten hybriden Krieges«.

Nun, der »Appell« zeitigte Wirkung. Aber nicht aus Mitgefühl und wegen der Solidarität mit den Opfern des Krieges – bekanntlich gehört die Wahrheit zu den prominentesten Opfern jedes Krieges –, sondern aus Furcht, dass es nicht bei dieser einen Mail bliebe, wenn man das angekündigte Programm wie geplant realisierte. Die Lesung am 16. November fiel aus!

Im Unterschied zur Auffassung des Autors jener Mail, der verharmlosend von einer »Tragödie« spricht, ist der vorsätzlich herbeigeführte Tod von so vielen Menschen ein Massenmord – diesen Begriff verwendet die Kriminalwissenschaft bereits ab vier Personen, die in kurzer Zeit an einem Ort gewaltsam ihr Leben verlieren. Eine Tragödie liegt vor, wenn unvorhergesehenes Leid geschieht, wenn Menschen unverschuldet Schaden nehmen oder in Not geraten, wenn sie von einem Ereignis überrascht werden, das sie nicht haben kommen sehen. Ein Hochwasser oder eine Schlammlawine, die ein Dorf unter sich begräbt, ist zum Beispiel eine Tragödie. Odessa 2014 war keine Tragödie, sondern eine geplante und gezielt realisierte Aktion: Der Odessaer Anti-Maidan, eine demokratisch legitime Unmutsbekundung wie jener Maidan in Kiew, wurde brutal liquidiert. Nicht zufällig, nicht spontan. Das Camp auf dem Platz brannte nicht, weil jemand eine Zigarettenkippe hatte fallen lassen, und das Gewerkschaftshaus ging nicht in Flammen auf, weil der Funke übersprang, sondern weil dort absichtsvoll Feuer gelegt worden war. Es flogen dort Molotowcocktails, wie dutzendfach mit Videos dokumentiert worden ist. Und die Menschen, die sich aus dem Feuer retteten, indem sie aus den Gebäudefenstern sprangen, weil an den Eingängen brutale Schläger lauerten, taten dies so wenig aus freien Stücken wie sie sich anschließend auch nicht selber mit Baseballschlägern verletzten oder zu Tode prügelten.

Ich finde es schon erstaunlich, wenn ein in Kiew lebender Mathematiker, der bislang – wie im Internet leicht feststellbar ist – sich noch nie zu diesem Thema geäußert hat, plötzlich Anlass sieht, bei einem in rund anderthalbtausend Kilometern Entfernung tätigen Veranstalter »Beschwerde« zu führen. Und was heißt »Beschwerde«? Nimmt er daran Anstoß, dass Muzyka angeblich am 2. Mai 2014 nicht dabei war, dass er also als Hochstapler durch die deutschen Lande zieht und eine erfundene Geschichte erzählt?

Wenn es sich so verhielte, sollte – wenn überhaupt – ein wohlmeinender Hinweis genügen.

Aber nein. Muzyka ist kein Hochstapler, auch wenn der Mailverfasser dieses nahelegt: Er »behauptet von sich, einer der Überlebenden dieser Tragödie zu sein«.

Nun, Muzyka behauptet dies nicht von sich – er ist ein Überlebender.

Schwingt dort unterschwellig ein »Schade« mit?

Es ließe sich vielleicht einwenden, dass Kovalenko, da Deutsch nicht seine Muttersprache ist, die Feinheiten dieser Sprache nicht so beherrscht, weshalb sich einige Ungenauigkeiten in seine Darstellung eingeschlichen haben könnten. Dem steht aber entgegen, dass er bestimmte Akzentuierungen und modische Wendungen wohl zu setzen weiß, Petitessen, die eher ein Muttersprachler benutzt. Daraus schließe ich nicht, dass ihm jemand die Feder geführt, mindestens aber seinen Text redigiert hat, gar dass er lediglich seinen Namen und seine Mailadresse hergab – das können Trugschlüsse sein. Ich will weder das Sprachvermögen eines ukrainischen Mathematikers noch seinen Intellekt unterschätzen. Doch im Unterschied zu Kovalenko halte ich mich mit Behauptungen zurück, für die es keine Belege gibt. Ich traue meinen Augen und Ohren mehr als dem Geplapper von Propagandisten, egal, wer sie bezahlt. Darum fuhr ich selbst nach Odessa. Ich habe dort am 2. Mai 2018 junge Männer marschieren sehen und Parolen brüllen hören, die nicht anders als faschistisch, antisemitisch, chauvinistisch und menschenfeindlich genannt werden müssen. Ich vermag zu unterscheiden, was eine demokratische Meinungsäußerung und Willensbekundung ist und was nicht.

Anlass für jenen gespenstischen Marsch mit großer Polizeibegleitung war übrigens der »vierte Jahrestag des Sieges von Odessa« – der 2. Mai 2014 war also ein Sieg, keine Tragödie! So konnte ich es auf Tausenden Plakaten in der Stadt lesen. Und einer der Sprecher erklärte mit Blick auf die Trauernden auf dem Kulikowo Pole, es gebe nichts zu betrauern, man habe damals »Kolorady« (»Kartoffelkäfer«) verbrannt.

So bezeichnen die ukrainischen Patrioten prorussische Aktivisten.

Wenn ich Kovalenkos üble Nachrede richtig interpretiere, ist Oleg Muzyka in seinen Augen offenkundig ein »Kartoffelkäfer«, ein Schädling. Er will ihn aber nicht gleich verbrennen, sondern er möchte lediglich verhindern, dass Oleg Muzyka als freier Bürger in einem Land mit bürgerlicher Pressefreiheit, welche in der Ukraine längst verabschiedet ist, seine Sicht auf die Vorgänge von Odessa öffentlich mitteilt. Und überdies beschuldigt Kovalenko jene, die dem Manne hierzulande dieses demokratische Grundrecht nicht verweigern, sie würden in direkter Weise die russische Propaganda unterstützen. Eine solche Vorhaltung brennt wie Zunder in dieser russophoben Zeit.

Es ist ein Ärgernis, wenn sich Menschen vor den Karren eines der korruptesten Regimes in Europa spannen lassen und in Deutschland Stimmung gegen dessen Oppositionelle und Dissidenten zu machen versuchen. Wobei viele Indizien weniger auf ein privates, sondern mehr auf ein koordiniertes kollektives Vorgehen deuten. Wenn also »Leserbriefe« vermeintlich besorgter Bürger wie damals als Instrumente eingesetzt werden, um das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen, um Stimmung zu machen, um öffentliche Einrichtungen zu beeinflussen und zu steuern, sollten wir uns das nicht gefallen lassen.

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