Freitag, 9. November 2018

100 Jahre Novemberrevolution (3/10). Eine anschlussfähige Parole

Direkt auf den Fuß


Von Leo Schwarz
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Von kaum jemandem bemerkt: Haupt- und Staatsaktion eines Tages, an dem »Deutschland zur Republik wurde«
Morgen: Teil vier
Am frühen Nachmittag des 9. November 1918 kletterte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann auf einen Stuhl, den ihm ein Diener auf den Balkon des Lesezimmers im Reichstagsgebäude gestellt hatte. Der Zentrumsabgeordnete Richard Müller aus Fulda stand direkt neben ihm und hat die Szene – aus persönlicher Verärgerung über die »bombastische Renommiersucht« Scheidemanns – 1929 in einem Privatbrief geschildert. In dem Lesezimmer seien keineswegs, wie der SPDler wiederholt behauptet hatte, Arbeiter und Soldaten »einhergestürmt«: Hier hätten »höchstens 5–6 Personen (gesessen), die ruhig ihre Zeitungen lasen«. Scheidemann beobachtete die Menschen auf dem Platz, der heute Platz der Republik heißt. Die waren nicht seinetwegen hierhergekommen, sondern gehörten zu einem der großen Demonstrationszüge, die sich am frühen Morgen des 9. November in den Arbeitervierteln Berlins formiert und sodann in das Stadtzentrum aufgemacht hatten. Am Vorabend hatten die revolutionären Obleute der Berliner Großbetriebe zusammen mit der Spartakusgruppe zum Generalstreik und zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten aufgerufen. Fast überall außerhalb der Reichshauptstadt war das zu diesem Zeitpunkt bereits geschehen.
Scheidemann wusste, dass er nun etwas tun musste. Als ein paar Demonstranten, so Müller, Scheidemann »erkannten, riefen sie ›Hoch‹«. Daraufhin »murmelte« der SPD-Mann auf seinem Stuhl »einige unverständliche Worte, schwenkte seinen Arm und rief dann: ›Es lebe die deutsche Republik.‹ Worauf einige der Demonstranten (…) mit ›Hoch‹ antworteten.« Scheidemann sprang vom Stuhl und direkt auf den Fuß Müllers, »entschuldigte sich noch und ging dann aus dem Lesezimmer heraus«.
Diese Szene, bis heute als eine oder sogar die Haupt- und Staatsaktion eines Tages, an dem »Deutschland zur Republik wurde«, besprochen, wurde damals von kaum jemandem bemerkt. Und doch hat sie ihre Bedeutung. Sie steht für den – am Ende erfolgreichen – Versuch der SPD-Führung, sich mit einer anschlussfähigen Parole an die Spitze der revolutionären Massenbewegung zu stellen, zu deren Verhinderung sie seit Anfang Oktober 1918 alle Kräfte aufgeboten hatte und die nun dennoch eine Realität war.
Die Idee zu dem Vorstoß hatte Scheidemann nicht exklusiv. In den Vormittagsstunden dieses Tages waren auch bürgerliche Politiker (und zwar früher als der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert) zu der Überzeugung gelangt, dass der Kaiser und – im äußersten Notfall – die gesamte Monarchie geopfert werden müssten. Der liberale Staatsekretär Conrad Haußmann etwa schlug, wie eine Aufzeichnung vom »9. November 1918 11:20 vorm.« zeigt, vor, Wilhelm II. durch die Demission der gesamten Regierung zum Rücktritt zwingen: »Wenn der Kaiser auch dann nicht abdankt, bleibt zur Rettung des Reichs vor dem Sieg der Revolution in Berlin, vor höchster Verwirrung, Hungersnot und Bolschewismus die Übernahme der Gewalt durch das Kabinett mit den diktatorischen Machtbefugnissen.« Später sei dann Zeit für eine »Nationalversammlung«, die die »grundlegenden Fragen« im Sinne einer »schwarz-rot-goldenen Erneuerung« ordnen müsse.
Den ganzen Oktober über – angefangen mit der Bildung einer neuen Reichsregierung unter Führung Max von Badens, an der erstmals die SPD beteiligt war – war fieberhaft und nicht einmal ungeschickt manövriert worden, um die Kontrolle über die Situation nicht so vollständig zu verlieren, wie das dann am 9. November eben doch geschah. Über eine sorgfältig dosierte »Revolution von oben« sollte die Reichsverfassung »demokratisiert« werden. Am 22. Oktober trat der Reichstag zusammen, um im Eiltempo über die Verfassungsänderungen zu beraten. Kernstück dieser »Oktoberreformen« waren die Änderungen der Artikel 11 und 15 der Reichsverfassung: Kriegserklärungen und Friedensverträge bedurften fortan der Zustimmung des Bundesrates und des Reichstags, der Reichskanzler war vom Vertrauen des Reichstages – und nicht mehr des Monarchen – abhängig und diesem verantwortlich. SPD, Zentrum, Links- und Nationalliberale sprachen dem Kanzler am 24. Oktober das Vertrauen aus. In der Debatte forderte nur der USPD-Vorsitzende Hugo Haase die Republik und die »sozialistische Gesellschaftsordnung«; er erntete dafür empörte Schmährufe.
Wilhelm II. setzte die Verfassungsänderungen am 28. Oktober mit seiner Unterschrift in Kraft. In mehreren Einzelstaaten wurden Ende Oktober/Anfang November ähnliche Maßnahmen durchgeführt oder zumindest angekündigt. Alles das wurde ins Werk gesetzt, um die entstehende revolutionäre Bewegung »von unten« doch noch einmal abzubiegen. Am 15. Oktober waren dazu noch drei weitere Sozialdemokraten als Unterstaatssekretäre in die Regierung eingetreten: Eduard David (Auswärtiges Amt), Robert Schmidt (Kriegsernährungsamt) und August Müller (Reichswirtschaftsamt). Der Kanzler verriet am gleichen Tag in einem Brief an seinen Vetter, was er von den SPD-Leuten erwartete: »Mit ihrer Hilfe werde ich hoffentlich imstande sein, den Kaiser zu retten. Welche Ironie des Schicksals.« Die legten sich ins Zeug. Am 17. Oktober gab der sozialdemokratische Parteivorstand einen Aufruf heraus, in dem vor den »Revolutionsphrasen verwirrter, unverantwortlicher Personen, die die Arbeiter zu jetzt sinn- und zwecklosen Streiks und Demonstrationen gegen die Regierung aufzuputschen versuchen«, gewarnt wurde. Am 9. November 1918 hat nicht, wie gerne gesagt wird, die »Revolution gesiegt«, sondern ist zunächst einmal nur diese Politik Bankrott gegangen.

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