Freitag, 23. November 2012

Erklärung zum Bundeswehreinsatz in der Türkei: Zehn triftige Gründe NEIN zu sagen

der Vorstand der AGF hat sich mit dem Einsatz der Bundeswehr an der türkisch-syrischen Grenze beschäftigt. Diesen lehnen wir ab. Anbei dazu als Anstoß zum Reflektieren die Erklärung vom Bundesausschuss Friedensratschlag. Lesenswert auch der IMI-Standpunkt 2012/065 "Mehrheit gegen Entsendung der Bundeswehr in die Türkei" von heute 23. November 2012. Darin Informationen zur Befürwortung durch CDU, FDP und SPD, zur Uneinigkeit bei den Grünen und der Ablehnung des Einsatzes durch die Linken. Der Autor Martin Hantke fragt, ob dies ein Schritt in den Krieg gegen Syrien und den Iran ist... Mit freundlichen Grüßen, Markus Pflüger PS. Heute abend 19h im FUZ: Vortrag von Marion Küpker (GAAA) zu den Atomwaffen in Büchel * * * * * Bundeswehr auf dem Weg in den syrischen Bürgerkrieg? Westerwelle: Ich sehe keinen Grund, die Bitte der Türkei abzulehnen Friedensratschlag: Zehn triftige Gründe NEIN zu sagen Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag Kassel/Berlin, 22. November 2012 – Zur Ankündigung der Bundesregierung, im Bundestag ein Mandat für den Einsatz der Bundeswehr an der türkisch-syrischen einzuholen, erklärten die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in einer Stellungnahme, die auch den Fraktionen des Bundestags zugestellt wird: Außenminister Westerwelle erklärte gestern im Bundestag, wenn ein NATO-Partner um Hilfe bittet, dann müssten schon „sehr gute Gründe“ vorliegen, einer solchen Bitte nicht zu entsprechen. „Solche Gründe sehe ich nicht.“ Dabei liegen sie auf der Hand. Aus der vorliegenden außen- und sicherheitspolitischen Expertise lassen sich die folgenden zehn Gründe anführen, die eindeutig gegen eine Stationierung der angeforderten Patriot-Systeme mit entsprechender Bundeswehr-Begleitung sprechen. (1) Von syrischer Seite liegen keinerlei Anhaltspunkte vor, eine Aggression gegen das nördliche Nachbarland Türkei vorzubereiten oder auch nur zu denken. Alle bisher aufgetretenen Grenzzwischenfälle haben ausschließlich mit den innersyrischen Kämpfen zu tun (siehe dazu Punkt 3), nicht aber mit irgendwelchen Provokationen. (2) Viel eher werden von türkischer Seite Drohungen ausgestoßen und Interventionsabsichten gegen Syrien geäußert. Am weitesten geht der von der Regierung im türkischen Parlament eingebrachte und mit großer Mehrheit verabschiedete Kriegsvorratsbeschluss vom 4. Oktober 2012. Darin wird die Regierung Erdogan zum „einjährigen Einsatz der türkischen Streitkräfte im Ausland“ ermächtigt, „deren Rahmen, Zahl und Zeit von der Regierung festgelegt werden“. Einen Tag später erklärte Ministerpräsident Erdogan offen, dass er zum Krieg rüste: „Wir mögen den Krieg nicht, aber wir sind auch nicht weit davon entfernt. Es gibt eine Redewendung, die besagt, dass man sich für den Krieg vorbereiten soll, wenn man den Frieden will. So wird der Krieg zum Schlüssel für den Frieden.“ Der Militärexperte Gerhard Piper nennt das „Brinkmanship“-Politik, ein Spiel am Rande des Abgrunds. (3) Alle sicherheitspolitisch relevanten Vorfälle der letzten Monate an der syrisch-türkischen Grenze tragen die Handschrift des innersyrischen bewaffneten Konflikts zwischen Armee und Aufständischen. Wir zählen ein paar davon auf: April 2012: Syrische Regierungstruppen beschießen die Bewohner des Flüchtlingslagers in Kilis mit Gewehrfeuer. Dabei werden fünf Personen verletzt. 28. September 2012: Eine syrische Granate schlägt in dem türkischen Grenzort Akçakale ein; Sachschäden. 3. Oktober: Syrischer Granateneinschlag trifft erneut Akçakale, diesmal werden eine Frau, ihre drei Kinder und ein Verwandter getötet, elf weitere Personen werden verletzt. Zuvor hatte es um Tel Abyad schwere Kämpfe zwischen den syrischen Bürgerkriegsparteien gegeben. Das türkische Heer reagiert mit Kampfpanzern und Panzerhaubitzen; sie beschießen syrische Stellungen in Tel Abyad (auf syrischem Territoriuum). 6. Oktober: Eine Artilleriegranate trifft das Dorf Guvecci. 12. Oktober: Ein syrischer Hubschrauber greift den syrischen (!) Grenzort Azmarin an; anschließend schickt die türkische Luftwaffenführung Abfangjäger zu einem Patrouilleneinsatz entlang der Grenze. 13. Oktober: Bei Kırıkhan werden zwei Polizeibeamte der türkischen Grenzgendarmerie angeschossen, als sie bewaffnete Drogenschmuggler stellen wollten. Ungeklärt ist die Urheberschaft der Schüsse. 17. Oktober: Eine Granate explodiert auf einer unbewohnten Sandbank im Fluss Oronte in der Provinz Hatay. Absender unbekannt. Türkische Einheiten erwidern das Feuer in Hacipasa. 23. Oktober: Eine syrische Granate trifft das Krankenhaus in Reyhanli (Provinz Hatay). Niemand wird verletzt. (Daten nach: Gerhard Piper, Der türkisch-syrische Grenzkonflikt: Ein Fall für die NATO?) Schlussfolgerung: In keinem Fall handelte es sich um gezielte Attacken der syrischen Streitkräfte gegen türkische Ziele. Und: In den letzten Wochen sind kaum noch Vorfälle dieser Art gemeldet worden. Man könnte auch sagen: Die Lage hat sich entspannt. (4) Auch die vereinzelte Luftzwischenfälle können nicht dazu herhalten, eine relevante Gefährdung türkischen Territoriums durch Syrien zu behaupten. Die Beispiele: 22. Juni 2012: Die syrische Luftabwehrschießt ein türkisches Aufklärungsflugzeug vom Typ RF-4E/TM Phantom II ab, das in Malatya gestartet war und syrisches Gebiet gestreift hatte. Dabei kamen die beiden Piloten ums Leben. Der Zwischenfall ereignete sich über dem Mittelmeer rund acht Seemeilen vor der syrischen Küstenstadt Latakia, in der Nähe des russischen Marinestützpunktes Tartus. Wie es zu diesem Abschuss kam, ist bis heute nicht bekannt. 10. Oktober: Zwei türkische Abfangjäger zwingen ein Passagierflugzeug der „Syrian Air“, das sich auf dem Flug von Moskau nach Damaskus befand, zur Zwischenlandung in Ankara und durchsuchen es. 14. Oktober: Die türkische Regierung sperrt ihren Luftraum für alle syrischen Flugzeuge; am selben Tag sperrt auch die syrische Regierung ihren Luftraum für türkische Flugzeuge. 15. Oktober: Türkische Behörden durchsuchen ein armenisches Transportflugzeug, das auf einem Flug nach Syrien planmäßig in der Türkei einen Zwischenstopp einlegte. (5) Wir stellen fest: Kriegstöne aus Damskus gegen die Türkei sind nicht festzustellen. Dagegen werden die Töne aus Ankara immer schriller. So warnte am 7. Oktober der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu, dass sein Land auf den „andauernden Granatenbeschuss“ (von dem in Wahrheit keine Rede sein kann) militärisch reagieren werde. Und Generalstabschef Necdet Özel erklärte gleichzeitig: „Wenn das weitergeht, werden wir mit größerer Gewalt antworten.“ (6) Die NATO ist ausschließlich ein Verteidigungsbündnis. Dies schreibt der NATO-Vertrag zwingend vor. In Art. 1 heißt es unmissverständlich: „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.“ Mit diesem Grundsatz verträgt sich weder aggressives Reden noch aggressives Verhalten von NATO-Mitgliedern gegenüber Drittstaaten. Ein Kriegsvorratsbeschluss, wie ihn das türkische Parlament erlassen hat, widerspricht eindeutig den vertraglichen Verpflichtungen, welche die NATO-Mitglieder eingegangen sind. (7) Der Verteidigungscharakter der NATO wird in sein Gegenteil verkehrt, wenn Mitgliedstaaten in ihren aggressiven Vorhaben unterstützt werden. Dies scheint uns eindeutig der Fall zu sein bei der Ankündigung des NATO-Generalsekretärs vom 21. November, der Bitte der Türkei entsprechen zu wollen, Patriot-Raketen-Einheiten an die türkisch-syrische Grenze zu entsenden. Die Bundesregierung, die nach Meinung des zum „Sicherheitsexperten“ gewandelten Außenministers Westerwelle alle Kriterien für eine positive Antwort auf das türkische Hilfeersuchen erfüllt sieht, beteiligt sich aktiv an einer möglichen Eskalation im türkisch-syrischen Grenzgebiet. (8) Ein rein militär-technisches Argument kommt hinzu: Das Patriot-Raketensystem ist nicht in der Lage, Artilleriegeschosse oder Gewehrfeuer abzufangen; von der Qualität aber waren die unter Punkt 3 geschilderten Grenzzwischenfälle. Patriots wurden zum Zweck des Abschusses von Flugzeugen und ballistischen Raketen entwickelt. Sie verfügen über eine sehr leistungsfähige Radaranlage, die präzise Aufklärungsdaten auch über den bodennahen Luftraum noch aus einer Entfernung von über einer 100 km ermöglicht – somit weit in syrisches Territorium hinein. Bisher hat es keinen Vorfall gegeben, wo syrische Raketen oder Flugzeuge Ziele außerhalb des eigenen Territoriums angegriffen hätten. Das legt den Schluss nahe, dass mit der Stationierung der Patriot-Batterien - über die Überwachung des syrischen Luftraums hinaus - noch weitere Ziele verfolgt werden. Die Stationierung von Patriots liefert die technische Voraussetzung zur Einrichtung einer „Flugverbotszone“. Dies aber wird nicht offiziell zugegeben, obwohl die Türkei in der Vergangenheit mehrfach dafür eingetreten ist. (9) Der rein defensive Charakter des Patriot-Raketensystems muss aus strategischer Sicht ebenfalls hinterfragt werden. Es ist ohnehin schwer, bei den modernen Waffensystemen zwischen rein „defensiven“ und „offensiven“ Waffen zu unterscheiden. Im vorliegenden Fall würde die Stationierung von NATO-Einheiten an der syrischen Grenze eine weitere Konzentration militärischer Mittel bedeuten, was nicht zur Entspannung beiträgt, sondern die Spannungen an der Außengrenze der NATO verschärfen würde. (10) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags wären also gut beraten, nicht den vollmundigen Unbedenklichkeitserklärungen der Regierung und ihrer außen- und sicherheitspolitischen Vuvuzela Westerwelle zu glauben. Vielmehr sollte die aggressive Politik der türkischen Regierung nach außen, aber auch nach innen (der Krieg gegen die Kurden wird wieder mit aller Härte geführt) analysiert werden. Die einzige Schlussfolgerung daraus kann nur sein: Keine Eskalation der türkisch-syrischen Spannungen durch die Aufrüstung an der syrischen Grenze! Keine Bundeswehr in die Türkei! Für den Bundesausschuss Friedensratschlag: Lühr Henken, Peter Strutynski, Bundesausschuss Friedensratschlag Germaniastrasse 14 34119 Kassel Tel.: +49 (0)561 93717974 Website: http://www.ag-friedensforschung.de

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