Dienstag, 30. Juni 2020

Immer öfter keiner mehr da. Ambulante Pflegedienste sowie Pflegebedürftige und ihre Angehörigen stoßen zunehmend an Grenzen


Dossier

Die perfekte Pflegerin hat 10 Hände...“Werfen wir den Blick auf eine absolute Boombranche: ambulante Pflegedienste. Die Bundesregierung hatte in der letzten Legislaturperiode mit den Pflegestärkungsgesetzen Milliarden Euro in „die“ Pflege gegeben und dabei vor allem die Leistungsansprüche im Bereich der ambulanten Pflege ausgebaut. (…) Doch nun stoßen die ambulanten Pflegedienste – bei denen man bedenken muss, dass weit über 90 Prozent von ihnen auch Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach SGB V erbringen – offensichtlich zunehmend an massive Kapazitätsgrenzen. (…) Wir müssen leider davon ausgehen, dass die hier angesprochenen Versorgungsprobleme weiter an Fahrt gewinnen werden, auch deshalb, weil die ambulanten Pflegedienste in der „Hierarchie des Mangels“ ganz unten stehen was die Arbeitsbedingungen, zu denen auch die Vergütung gehört, angeht. Und sowohl die stationären Pflegeeinrichtungen wie auch die Krankenhäuser, in denen im Vergleich deutlich besser vergütet wird, werben händeringend um neues Personal. Und sie werben auch ab. Die kleinbetriebliche Struktur der ambulanten Pflegedienste in Verbindung mit dem dominierenden Anteil privatgewerblicher Träger hat auch zur Folge, dass wir es mit einer weitgehend tariffreien Zone des Arbeitsmarktes zu tun haben, was mit zu dem deutlichen Vergütungsgefälle zuungunsten der Altenpflegekräfte beiträgt. Und gerade in der mehrfach belastenden Tätigkeit der ambulanten Pflege ist die gegebene Altersstruktur von besonderer Bedeutung – 40 Prozent der mehr als 390.000 Beschäftigten dort sind über 50 Jahre alt…” Beitrag von Stefan Sell vom 25. September 2019 auf seiner Homepage externer Link. Siehe zum Thema auch:
  • Pflegedienste seit Wochen im Ausnahmezustand New
    “Viele Pflegedienste sind seit Wochen im Ausnahmezustand”, sagt die pflegepolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Kordula Schulz-Asche, im Interview mit Häusliche Pflege. “Das geht nicht lange gut und das kann auch so nicht weitergehen”, warnt sie eindringlich. “Covid-19 wirft ein Schlaglicht auf die vorhandenen strukturellen Probleme der häuslichen Pflege in Deutschland”, meint die pflegepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Der schnelle Aufbau der Intensivkapazitäten habe bisher im Vordergrund gestanden. “Dabei ist doch offensichtlich, dass in allen Pflegesituationen, insbesondere aber auch in der ambulanten Pflege, geeignete Schutzausrüstung in ausreichendem Umfang vorhanden sein muss”, betont Schulz-Asche. Die Corona-Pandemie habe die Probleme in der Pflege nicht ausgelöst, sondern zum Teil nur verstärkt: “Wir müssen jetzt aufpassen, dass die vielen Probleme nach Beendigung der akuten Phase der Covid-19-Pandemie nicht wieder aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwinden. Noch steht die Frage von Impfstoffen und ihre Verteilung im Raum, bei der wir auch die pflegebedürftige und pflegende Menschen im Auge haben müssen. Und dann müssen wir endlich an die strukturellen Probleme der Langzeitpflege in Deutschland – die Lohnsituation deutlich verbessern, die Arbeitsbedingungen attraktiver gestalten und vor allem die positiven Aspekte der Pflegearbeit stärker betonen, ohne das Pflegepersonal mit allein mit Merci-Schokolade zu überhäufen”. Interview mit Kordula Schulz-Asche vom 25.062020 bei Häusliche Pflege externer Link
  • Alexander Jorde: Das Pflegesystem wird uns um die Ohren fliegenDie Pflegekräfte sind nicht erst seit der Corona-Krise am Limit. Alexander Jorde spricht über die Situation in der Pflege und wie sich die Beschäftigten selbst organisieren können. (…) Man muss natürlich dazusagen, dass es in der Pflege – egal ob im Krankenhaus, in Pflegeeinrichtungen oder im ambulanten Pflegedienst – schon vorher so war, dass viele Kolleginnen und Kollegen an der Belastungsgrenze arbeiteten. Die Pandemie kommt jetzt noch on top und wirft alles ein bisschen durcheinander. Aber grundsätzlich war die Belastung auch vorher schon enorm. (…) Was ich als sehr krass empfunden habe, war, dass eine der ersten Maßnahmen der Politik – insbesondere in Person von Herrn Spahn – die Aussetzung der Personaluntergrenzen war. Diese wurden in der letzten Legislaturperiode beschlossen und für einige wenige Krankenhausstationen auch bereits eingeführt, wobei weitere Stationen folgen sollten. Die gesetzlichen Personaluntergrenzen legen fest, dass es eine maximale Anzahl von Patienten gibt, die eine Pflegekraft in einem bestimmten Bereich betreuen darf. (…) In Niedersachsen beispielsweise haben im letzten Jahr ein Drittel der Kliniken Betten in den betroffenen Stationen fast permanent gesperrt, weil sie zu wenig Personal hatten, um diese Untergrenzen einzuhalten. Ich kenne Intensivstationen, in denen aufgrund der Personaluntergrenzen fast die Hälfte der Betten gesperrt waren. Wenn diese Untergrenzen nun aufgehoben werden, werden alle diese Betten wieder eingesetzt. In der Altenpflege gibt es Bereiche, in denen deutlich über 50 oder noch mehr Bewohner auf eine Pflegekraft kommen. Und durch Corona ist es jetzt zu einer noch größeren Mehrbelastung gekommen. Man muss sich Schutzkleidung anziehen, Schutzmasken häufig wechseln. Das ist eine zusätzliche Arbeitsbelastung und verschärft natürlich noch einmal die Situation. (…) Ich hätte mir gewünscht, dass die Gewerkschaft, die ja die Tarifverträge für Pflegende aushandelt, die Forderung nach fünf Euro steuerfreier Zulage pro Stunde aufstellt. Dadurch schafft man einen Anreiz dafür, dass die Menschen mehr arbeiten, die sagen, dass sie die Kapazitäten haben. Dadurch hätte man viel mehr erreicht als damit, alle Schutzmaßnahmen außer Kraft zu setzen. Jetzt wird gesagt: »Ihr könnt im Prinzip zwölf Stunden arbeiten ohne Personaluntergrenzen – für den gleichen Lohn, den ihr vorher auch bekommen habt.« Das ist natürlich nicht der richtige Schritt – und ich glaube, das wird uns spätestens nach Corona oder in ein paar Jahren um die Ohren fliegen, weil sich sehr viele auch jetzt schon dafür entscheiden, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder den Beruf zu verlassen…” Interview mit Alexander Jorde geführt von Steve Hudson und Ines Schwerdtner am 14.05.2020 im Jacobin externer Link
  • Tag der Pflegenden: Lob und Nebelkerzen
    Es ist wie am Muttertag: Einmal im Jahr werden Pflegekräfte am »Tag der Pflegenden« mit Lobpreisungen überhäuft. An den restlichen 364,24 Tagen des Jahres sollen sie ihre Arbeit tun, ohne zu klagen und zu fordern. Besonders viel Lob gab es zum diesjährigen 12. Mai, da die Pflegeberufe allseits als »systemrelevant« erkannt wurden. Das gilt freilich nicht nur für sie, sondern für sämtliche Beschäftigte in den Gesundheitseinrichtungen. Allerdings spüren die ebenso »systemrelevanten« Reinigungskräfte im Krankenhaus und die Hauswirtschafterin im Pflegeheim bislang wenig von der Wertschätzung. Doch auch Pflegekräfte haben allen Grund, ihre Forderungen lautstark auf die Straße zu tragen, wie sie es am Dienstag in etlichen Städten getan haben. Denn die Bedingungen, unter denen sie ihre lebenswichtige Arbeit machen müssen, sind nicht erst seit der Verbreitung des Coronavirus miserabel. (…) Und auch in Zeiten der Pandemie hat die Bundesregierung sofort klar gemacht, dass die Bedürfnisse der Gesundheitsbeschäftigten zurückstehen sollen: Als erste Maßnahmen setzte sie die ohnehin unzureichenden Untergrenzen beim Pflegepersonal in einigen Krankenhausbereichen aus und ermöglichte Dienstverpflichtungen, 12-Stunden-Schichten sowie verkürzte Ruhezeiten. Bis heute mangelt es vielerorts an qualitativ hochwertigem Schutzmaterial. Trotz des Geredes scheint die Gesundheit der Beschäftigten nicht viel zu zählen. 54 von ihnen sind laut Robert Koch-Institut bereits an Covid-19 verstorben. Durchschnittsalter: 41 Jahre, drei von vier waren Frauen. »Klatschen allein hilft nicht«, heißt es denn auch bei den Protesten. Die Beschäftigten wollen, dass Politiker und Klinikchefs endlich handeln. Das heißt unter anderem: rasche Einführung bedarfsgerechter und verbindlicher Personalvorgaben in Krankenhäusern und Pflegeheimen, flächendeckende Tarifbindung in der Altenpflege, ein Ende von Lohndumping durch Ausgliederungen und Privatisierung. Und nicht zuletzt: Die Beseitigung des Finanzierungssystems der Fallpauschalen, das die Krankenhäuser in eine gnadenlose Preiskonkurrenz getrieben hat. Die Regierung steht in diesen Fragen mittlerweile gehörig unter Druck. Um diesen zu mindern, setzt ihr Pflegebevollmächtigter Andreas Westerfellhaus auf Ablenkung…” Kommentar von Daniel Behruzi in der jungen Welt vom 13.05.2020 externer Link
    • ver.di fordert zum Tag der Pflegenden dauerhaft bessere Arbeitsbedingungenver.di fordert zum Tag der Pflegenden am 12. Mai eine dauerhafte Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. „Es ist schön, wenn die Menschen für Pflegekräfte applaudieren. Damit die Anerkennung ihrer wichtigen Rolle für die Gesellschaft glaubwürdig bleibt, braucht es jetzt aber auch verlässliche Zusagen für dauerhaft bessere Arbeitsbedingungen“, sagte Sylvia Bühler, die im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheits- und Sozialwesen zuständig ist. „Die Beschäftigten in der Kranken- und Altenpflege sorgen an jedem Tag und in jeder Nacht dafür, dass kranke und pflegebedürftige Menschen gut versorgt werden. Dafür fordern sie Respekt auch im Alltag – das heißt vor allem gute Arbeitsbedingungen und mehr Personal.“ Bühler kritisierte, dass grundlegende Schutzrechte der Beschäftigten außer Kraft gesetzt blieben, während zugleich wieder verstärkt planbare Operationen durchgeführt würden. „Die pauschale Aussetzung der Pflegepersonaluntergrenzen in Kliniken und die mögliche Ausweitung der Arbeitszeiten auf zwölf Stunden pro Schicht müssen unverzüglich aufgehoben werden“, so die Gewerkschafterin. „Die Beschäftigten verlangen, dass auch ihre Gesundheit geschützt wird. Dazu gehört, dass sie regelmäßig auf den Corona-Virus getestet werden und genug qualitativ hochwertiges Schutzmaterial zur Verfügung steht. Das ist längst noch nicht überall der Fall.“ Am Dienstag werden zum Tag der Pflegenden vielerorts Aktionen stattfinden, entweder im virtuellen Raum oder unter Beachtung des Abstandsgebots. Zudem gibt es eine Internet-Debatte von Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen mit dem Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus. Als Arbeitgebervertreter werden der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Dr. Gerald Gaß, und der Vorsitzende des Bundesverbands der Arbeiterwohlfahrt, Wolfgang Stadler, teilnehmen…” Pressemitteilung vom 11. Mai 2020 externer Link
  • Pflege nach Corona: Der Exodus wird kommen 
    Wird es mit der Ökonomisierung sozialer Arbeit nach der Pandemie aufhören? Unser Autor – der auch Pfleger ist – hat wenig Hoffnung. (…) Ich erwarte eine baldige Rezession und damit auch eine Beschneidung finanzieller Mittel im Sozialen. Damit einhergehend erwarte ich eine Verschärfung der Professionalisierungsdebatte. Soziale Arbeit soll effektiver und messbarer werden, das heißt mehr Bürokratie, mehr Hierarchie. Das wird zulasten der Menschen gehen, die Hilfe brauchen. Und diese Menschengruppe wird größer werden. Von den Sozialarbeiter:innen wird nur wenig Widerspruch kommen: An den Hochschulen wird das Professionalisierungsdogma schon seit Jahren gelehrt. Einige wenige im Sozialen werden sich politisieren und dann mangels Strukturen in der großen Normalisierungsmühle, die das Sozialwesen ist, aufgeraucht werden. Ich erwarte schon für die nahe Zukunft einen Exodus der Mitarbeiter:innen, die in den Krisenzeiten am engagiertesten waren. Insgesamt erwarte ich eine noch stärkere sozialdarwinistische Ausrichtung des Diskurses. Es wird sehr viel mehr über die Rettung des Wirtschaftssystems gesprochen als über die Rettung von Menschenleben. Die Infektionsrate auf unter 1 zu senken geschieht mit dem Ziel, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, über eine Ausrottung des Virus wie in Neuseeland wird nicht einmal nachgedacht. Eine Gesellschaft zu entwickeln, die die Menschen vor Ansteckung schützt, wird, wenn überhaupt, nur am Rande diskutiert. Dass auch bei einer Infektionsrate von 1 viele Menschen an dem Virus sterben werden, wird einfach hingenommen: wer stirbt, war ohnehin nicht zu retten, wird es heißen. Ich erwarte, dass der bereits tief verankerte Fatalismus im Sozialen weiter um sich greift. Und ich erwarte, dass sich noch mehr Pflegende diesem Fatalismus entziehen, indem sie sich in eine unpolitische, obskurantistische Traumwelt von Verschwörungstheorien, Esoterik und rechtslastiger Propaganda flüchten...” Kommentar von Frédéric Valin vom 1.5.2020 in der taz online externer Link
  • Wenn aus Notstand Panik wird: Was in der Pflege passiert, ist ein SkandalDer Pflegenotstand wird unerträglich. Doch die Politik verheddert sich im Klein-Klein. Sie bräuchte den Mut zu umfassenden Strukturveränderungen…” Ein Kommentar Rainer Woratschka vom 29.9.2019 beim Tagesspiegel online externer Link
Siehe im LabourNet Germany auch:
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=155056

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