MEXIKO
Anerkennung für den Kampf gegen Machismo |
Freitag, den 20. November 2015 |
von Anayeli García Martínez
(Mexiko-Stadt, 19.
November 2015, cimac).- Schon seit mehr als sechs
Jahren unterstützt Guadalupe García Álvarez Frauen die
Opfer von familiärer Gewalt geworden sind. Man müsse noch
viel mehr über die sexuellen und reproduktiven Rechte der
Frauen sprechen sagt die Indigene aus dem Volk der Mazahua
in Mexiko, denn dieses Thema sei „noch keine gelöste
Aufgabe“. Guadalupe stammt aus der Gemeinde San Felipe del
Progreso, die drei Stunden von der Hauptstadt Mexiko-Stadt
entfernt liegt. Nachdem sie die gesellschaftliche Realität
in ihrer Gemeinde erkannt hatte und Alternativen zu
entwickeln begann, wurde sie zu einer Sprecherin der
Frauen und gründete die Frauenorganisation Mulyd Mujeres,
Lucha y Derechos para Todas A.C. (Frauen, Engagement und
Rechte für Alle), die sich für die Rechte von indigenen
Frauen im Bundesstaat Estado de México engagiert.
Das Leben der Frauen ist von Gewalt geprägt
Laut Guadalupe verlassen die Frauen aus dem Norden des
Bundesstaates Estado de México die Schule um zu heiraten,
Kinder zu bekommen und den Haushalt zu machen und erfahren
dort in den meisten Fällen Gewalt, denn in den Gemeinden
sind alte Traditionen und Gewohnheiten stark verwurzelt.
Die 35-Jährige erzählt: „Aufgrund meiner eigenen
Lebensgeschichte, die von Gewalt geprägt war und dank
meiner beruflichen Bildung und dem Reflektieren über die
Lage der Frauen habe ich mich dafür entschieden, eine
Organisation zu gründen.“
Als engagierte Frau sieht sie täglich, dass die
Basisinfrastruktur, etwa die Wasserversorgung oder die
Kanalisation fehlen, sie kennt Frauen, die Analphabetinnen
sind und unterstützt Opfer von häuslicher Gewalt. Die Idee
für diese Arbeit ist einzigartig und ihr Engagement diente
sogar als Vorlage für eine Reihe von Dokumentarfilmen mit
dem Titel „Geschichten von Frauen“, die im mexikanischen
Kulturkanal Canal 22 gezeigt werden.
Da sie wusste, dass es ihrer Familie nicht wichtig war,
ob sie weiter zur Schule gehen würde, entschloss sich die
damals 16-jährige ihre Mutter, ihren alkoholabhängigen
Vater und ihre Geschwister zu verlassen und nach
Mexiko-Stadt zu gehen, um eine Arbeit als Putzhilfe in
Privathaushalten zu suchen, dem einzigen was sie konnte.
Guadalupe arbeitete mehrere Monate. Bei einer der
Putzstellen stieß sie auf eine Bibliothek, die sie sehr
interessierte. Jeden Abend nahm sie ein Buch zum Lesen mit
und stellte es am nächsten Morgen wieder zurück. Sie wurde
zu einer begeisterten Leserin des kolumbianischen
Schriftstellers Gabriel García Márquez, bis ihre
Arbeitgeber merkten, was sie machte und sie daraufhin
entließen.
Die Arbeitslosigkeit war nicht schlimm für sie, im
Gegenteil, das bot ihr die Möglichkeit die Stadt zu
verlassen und in ihr Dorf zurückzukehren, wo sie studierte
und ihren Abschluss an der Universität machte. Sie begann
ihr Studium an der Interkulturellen Universität des
Bundesstaates Estado de México, die seit 2004 Studierenden
indigener Völker und anderen Studierenden offen steht.
Durch diese Arbeit habe ich meine Mutter
kennengelernt
Guadalupe schrieb ihre Abschlussarbeit im Studiengang
Interkulturelle Kommunikation über Gewalt gegen Frauen,
für die sie Lebensgeschichten von Frauen aus ihrer
Gemeinde zusammenstellte und auswertete, unter anderem
auch die Geschichte ihrer Mutter.
“Durch diese Arbeit habe ich meine Mutter kennengelernt,
sie war eine der Frauen, die ich interviewt habe, ich
kannte sie vorher gar nicht und das war für mich eine sehr
beeindruckende Erfahrung“, versichert sie. Diese Arbeit
erlaubte es ihr auch, sich der eigenen häuslichen Gewalt
anzunähern.
Sie schloss ihr Studium ab und zog mit 23 Jahren zu ihrem
Partner, aber immer im Einklang mit ihren Vorstellungen.
„Wir gehen mit gutem Beispiel voran“, sagt Guadalupe, die
heute einen neunjährigen Sohn und eine vierjährige Tochter
hat.
Ihre Abschlussarbeit und die Reflektion über das Leben
der Nachbarinnen, die sie interviewt hatte, führten dazu,
dass sie die einzige Organisation der Zivilgesellschaft im
Norden des Bundesstaates Estado de México gegründet hat,
die sich für die Rechte der Frauen in den Gemeinden San
Felipe del Progreso, Atlacomulco, Jocotitlán und
Temascalcingo engagiert.
Mulyd wurde im September 2009 gegründet. Guadalupe ist
die Direktorin und arbeitet in einem Team mit einer
Rechtsanwältin, einer Psychologin, zwei Mitarbeiterinnen
für Öffentlichkeitsarbeit und einer kleinen Gruppe von
Ehrenamtlichen. Außerdem sind noch 36 Frauen dabei, die
die Aufgabe haben, Wissen über die sexuellen und
reproduktiven Rechte der Frauen in ihren jeweiligen
Dörfern zu vermitteln.
Junge Frauen haben kaum Chancen ihr Leben selbst
zu gestalten
Die Aufgabe ist nicht einfach, denn Bewusstsein kann man
nicht in einem einzigen Gespräch schaffen. Vor einigen
Monaten leitete Guadalupe einen Workshop in der Oberstufe
einer Schule, in die mehr Jungen als Mädchen gingen.
Einige Zeit später traf sie eine der Schülerinnen. Mit
Bedauern sagt sie: „Es hat mich sehr überrascht, dass eine
der Schülerinnen, die die Oberstufe besucht haben,
schwanger war.“
Es ist üblich, dass schon junge Mädchen ab 13 Jahren
einen Haushalt führen, junge Mädchen, die manchmal nur die
Grundschule oder die Sekundarstufe besucht haben, manche
haben drei oder bis zu sechs Kinder und leben in Armut,
haben Gewalt erlebt und können nicht über ihr Leben
entscheiden.
“Das zeigt deutlich, dass die Frauen weiterhin nicht die
Bedingungen vorfinden, um sich andere Lebensformen zu
erschließen, wie zum Beispiel eine formale Ausbildung zu
machen. Die meisten Frauen sind Hausfrauen und hier ist es
Tradition, dass die Frau zum Mann zieht und bei ihm und
seiner Familie lebt und sich um sie kümmert. Das führt
auch dazu, dass sie so viele Kinder bekommt, wie der Mann
will,“ erzählt Guadalupe.
Die Frauenorganisation, die aus einem multidisziplinären
Team besteht und sich für die Stärkung der indigenen
Frauen mittels Workshops, Gesprächen und Kampagnen mit
jungen Freiwilligen einsetzt, will erreichen, dass sich
die indigenen Frauen über ihre Fähigkeiten und Rechte
bewusst werden.
“Die Arbeit beginnt damit, dass man in den Gemeinden
Frauen mit Führungsqualitäten findet, die schon in ihren
Gemeinden gearbeitet haben, wie zum Beispiel Frauen, die
ein öffentliches Amt innehaben, Vorsitzende von
Elternvertretungen, die gerne weiterlernen möchten und
sich organisieren wollen – sie werden von uns eingeladen
und geschult. Wir sprechen mit ihnen über verschiedene
Themen, über sexuelle und reproduktive Rechte, über Gewalt
und Menschenrechte.“
Die indigenen Frauen aus Mexiko sind von Frauenmorden
betroffen, von Müttersterblichkeit, häuslicher Gewalt,
aber auch von fehlender Grundversorgung, von fehlenden
Kommunikations- und Transportmöglichkeiten.
Die Daten der Nationalen Statistikbehörde Mexikos INEGI
(Instituto Nacional de Estadística y Geografía) zeigen die
Realität: in San Felipe de Progreso haben Frauen zwischen
45 und 49 Jahren im Durchschnitt 5.8 Kinder; 39 Prozent
der Personen über 12 Jahre sind verheiratet und 15 Prozent
leben in einer eheähnlichen Gemeinschaft; nur 43 Prozent
aller Wohnungen sind an die Kanalisation angeschlossen.
“Wir wollen, dass die Frauen geschult in ihre Gemeinden
zurückkehren, auch schon etwas gestärkt und bewusst, was
unsere Themen angeht und dass sie es sind, die diese
Informationen an andere Frauen in ihren Gemeinden
weitergeben und so zu Promotorinnen innerhalb ihrer
Gemeinden werden“, betont Guadalupe.
Die Arbeit der indigenen Frauenorganisation wird
international anerkannt
Diese Arbeit in den Gemeinden hat Anerkennung erfahren
und Mulyd wurde für den Global Prize for Transformative
Social Justice Leadership (Preis für soziale Gerechtigkeit und
Führungsqualität 2015) nominiert, der vom Arcor
Institut des Kalamazoo College in Michigan, USA verliehen
wird.
Mulyd war unter den ersten 10 des Wettbewerbs, bei dem
Vorschläge aus 82 Ländern eingereicht worden waren. Im
Oktober flogen Guadalupe und eine weitere Promotorin in
die USA, um an der Preisverleihung teilzunehmen. Sie
gewannen zwar nicht den Preis der Jury, aber den
Publikums-Preis.
„Es sind noch viele Wünsche offen“, erklärt Guadalupe:
„Zuerst wollen wir eine Messe über sexuelle und
reproduktive Rechte organisieren; als nächstes wollen wir
unsere Organisation konsolidieren, aber unser Hauptziel
ist, in vier Jahren das erste Frauenhaus für Frauen zu
eröffnen, die Opfer von Gewalt wurden, um so die indigenen
Frauen der Region zu unterstützen.“
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