Dienstag, 8. Dezember 2015

Am Rand der Gesellschaft - Ein Obdachloser berichtet

Ein Dach über dem Kopf, eine eigene Wohnung – für andere ist das selbstverständlich. Für den aus Oettingen stammenden Martin nicht. Er ist obdachlos.

 

Martin reichen drei Worte, um grob zu beschreiben, wie es dazu kam, dass er nun in dieser Situation ist. „Drogen, Alkohol, Frauen“, sagt er. Es ist die knappste Form der Geschichte, von der es natürlich eine umfangreichere Version gibt. Martin wird sie später ebenfalls erzählen. Es ist sein Leben.
Martin ist 41 und obdachlos. Er schläft und lebt in dem Gebäude, das die Stadt Nördlingen im Gewerbegebiet An der Lach als Unterkunft hochgezogen hat. Vorher kam er in der Obdachlosenherberge im Bahnhof unter, eine eigene Wohnung hat er schon länger nicht mehr.

Seinen Nachnamen möchte Martin nicht in der Zeitung oder im Internet lesen, ein Foto von sich will er auch nicht machen lassen, ansonsten redet er ohne Scheu über sich und seine Lage. Drogen, Alkohol, Frauen: Das ist die Kurzform. Zur längeren Fassung gehört, dass Martins Leben nicht immer so aussah, wie es jetzt der Fall ist.

"Ich habe mich um nichts mehr gekümmert"

Er stammt aus Oettingen, machte einen Hauptschulabschluss, fing eine Lehre als Gas- und Wasserinstallateur an, alles ganz solide. Er beendete die Ausbildung allerdings nicht, ebenso wenig seine zweite Lehre in der Heizungsbau-Firma, die dem Vater seiner ersten Frau gehörte. Bis dahin lief manches in seinem Leben nicht glatt, doch der wirkliche Absturz kam Jahre später. Er kam, als Martin und seine zweite Frau nach zehn gemeinsamen Jahren getrennte Wege gingen. „Das war meine große Liebe“, sagt er. Er fiel in ein Loch. „Ich habe mich um nichts mehr gekümmert.“

Martin hielt sich mit kleineren Jobs über Wasser und kam bei einem Freund unter. Doch der musste seine Wohnung nach einiger Zeit aufgeben, als er krank wurde, so erzählt es Martin. Er musste ebenfalls raus und ist seitdem obdachlos. Seit Juli 2014. Mal schlief er unter freiem Himmel, mal in einem Zelt, so schildert er es. Da sei die jetzige Unterkunft ein erheblicher Fortschritt, auch gegenüber der Wohnung im Bahnhof. Eng sei es dort zugegangen und laut, das habe für Stress gesorgt unter den Bewohnern. In der neuen Unterkunft gehe es unter den Obdachlosen kameradschaftlicher zu, sagt er.
Manchmal unterbricht Martin seine Erzählung, da er husten muss. Er wirkt leicht angeschlagen. Jahrelang hat er harte Drogen genommen, sich „alles gespritzt, was sich flüssig machen lässt“, wie er es beschreibt. Ein halbes Jahr sei er wegen eines Drogendeliktes im Knast gewesen, erzählt er. Alkohol trinkt er zwar noch, aber nicht mehr so viel wie früher. Und von harten Drogen lässt er heute die Finger. Martin trägt Jeans, Kapuzenpulli, Jeansjacke und hat jede Menge Tattoos: an den Armen, den Händen, im Nacken. Manchmal sorgen Tattoos an diesen Körperstellen dafür, dass Menschen eine gewisse Bedrohlichkeit ausstrahlen, aber Martin wirkt nicht besonders bedrohlich. Mit den anderen Obdachlosen zeigt er sich solidarisch. Als eine junge Frau ihn fragt, ob sie sein Fahrrad ausleihen darf, winkt er kurz, als wolle er sagen, das sei doch selbstverständlich.
Wie viele Obdach- oder Wohnungslose es in Nördlingen gibt, lässt sich nicht genau sagen. Von der Stadt heißt es, es seien wohl um die zehn Personen. So viele zumindest schlafen in der städtischen Unterkunft. Martin schätzt die Zahl auf mindestens 20, eher mehr. Auch deutschlandweit erfasst keine amtliche Statistik, wie viele Personen im Land wohnungslos sind. Klar ist nur: Die Zahl wächst. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass 335000 Menschen im Jahr 2014 keine Wohnung hatten, was gegenüber 2012 ein Anstieg von 18 Prozent wäre. Die Arbeitsgemeinschaft prognostiziert bis 2018 eine weitere Steigerung. Dann, so heißt es, werden in Deutschland eine halbe Million Menschen wohnungslos sein.

Ein Sozialpädagoge soll die Menschen betreuen

In Nördlingen und im Landkreis Donau-Ries ist die Lage weniger dramatisch. Die Stadt sieht die Unterkunft im Gewerbegebiet als Zwischenstation für Menschen, die sie im besten Fall nur kurzfristig nutzen sollen. Die Obdachlosen müssen für ihre sieben Quadratmeter großen Zimmer 200 Euro im Monat zahlen, im Normalfall übernimmt die Kosten das Amt, wie bei Martin.
Bei diesem Betrag, heißt es von der Stadt, habe man sich an anderen Städten orientiert: Donauwörth, Ulm. Man wolle die Menschen schnell wieder in die Gesellschaft eingliedern, sagte Oberbürgermeister Hermann Faul bei der Vorstellung des Gebäudes im Oktober. Andererseits unterstützt die Stadt die Obdachlosen bislang nur wenig, damit das auch gelingt. Es ist geplant, dass ein Sozialpädagoge eingestellt wird, der die Menschen künftig betreuen soll. Der Antrag liegt beim Landratsamt. Bis dahin übernimmt eine Hausmeisterin, die sich um einige Gebäude der Stadt kümmert, nebenher die Betreuung.
Das war’s. Daneben kommt für die Obdachlosen eine weitere Schwierigkeit hinzu: Der Wohnungsmarkt in Nördlingen ist überhitzt, die Nachfrage nach den günstigen Wohnungen der Baugenossenschaft immens. Menschen, die wie Martin Hartz IV beziehen, haben es da schwer. „Man findet in der Stadt keine Wohnung“, sagt Martin. Ein Kreislauf sei das, findet er. Denn ohne Wohnung sei auch die Chance, einen Job zu finden, gleich null.
Und das ist es, was er wieder haben will. Einen Job, eine Wohnung. „Und eine normale Beziehung“, sagt er. Er hat schon noch Kontakte zu Menschen, die ein bürgerliches Leben führen: seine Ex-Frau, seine Mutter, alte Freunde. In gewisser Weise ist er noch Teil dieser Gesellschaft, doch er steht an ihrem Rand. Er will wieder ganz dazugehören. Es ist schließlich sein Leben.
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