Mittwoch, 29. Mai 2019

Schicksalswahlen? (Günter Buhlke)


Der Wahlkalender hält im laufenden Jahr 14 Ereignisse für die Bundesbürger bereit. Fünf Landtags- beziehungsweise Bürgerschaftswahlen, die Europawahl und acht Kommunalwahlen. Bereits unmittelbar nach den Wahlschlappen in Bayern und Hessen liefen im letzten Jahr die Vorbereitungen in den Parteien für das Wahljahr 2019 an. Politische Unruhe bringen Landtagswahlen in den drei Bundesländern auf dem Gebiet der früheren DDR sowie die Europawahl.

Bundesweit werden gegenwärtig die Altersrenten, die Wohnsituation, Veränderungen der Hartz-Gesetze, die Umweltverschmutzung und der Kohleausstieg debattiert. Das Lohngefüge steht weiter in der Kritik. Dazu kommen immer wieder Twitter-Meldungen aus den USA, die den Frieden in der Welt gefährden. Konservative Parteien verunsichern den Wahlbürger mit Sicherheitsfragen sowie Debatten um Muslime oder Geflüchtete. Sie drängen auf größere Freiräume für ihre Profitlogik und andererseits auf mehr Abschottung. Ihre linksverorteten Antipoden fordern gerechte Einkommensverhältnisse, bezahlbaren Wohnraum und den Schutz der Natur. Sie sorgen sich um den Frieden. Die Bürger der »neuen« Bundesländer wünschen zusätzlich Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer Lebensleistungen.

Die Konservativen verfügen über langjährige Erfahrungen zum Machterhalt. An Geld mangelt es ihnen dank Wahlspenden nicht.

Es ist kein Geheimnis, dass Wählerstimmen langfristig mit Hilfe unterschiedlicher Methoden gesteuert werden können. Schon Sigmund Freud hat festgestellt, dass mit ständigen Wiederholungen die Meinungen formierbar sind. Das Bild der linken Seite der Gesellschaft wird seit 1917 in grellen Farben des Chaos, des wirtschaftlichen Unvermögens, der Enteignungen, der Gewalt, der Diktaturen gemalt. Es hat sich eingeprägt. Die Folgen des konservativen Geldegoismus, der Kriege erhalten dagegen sanftere Farben im Bild.

Soziologen, Psychologen, Politologen, Werbeexperten haben in Vorwahlzeiten Konjunktur.

Zur Beeinflussung der Wählermeinungen haben Parteien neben ihren Programmen unzählige Möglichkeiten zur Hand. Personalstarke Institute beschäftigen sich damit, und sie erhalten staatliche Mittel. Forsa und andere Prognoseeinrichtungen gehören dazu. Sie scheuen sich nicht, bereits kurz nach Wahlen den Bürgern einzureden, welches Ergebnis herauskommt, wenn am »nächsten Sonntag gewählt würde«. Das »Politbarometer« verfolgt das gleiche Ziel. Wer kurz vor der Wahl noch keine feste Meinung hat, kann sich beim Wahl-O-Mat Rat holen. Wundersam: Alle Meinungsbildner kommen zum gleichen Ergebnis; das alte Ranking der Parteien bleibt im Groben erhalten. Die Parabel, wie des Kaisers neue Kleider präsentiert werden, funktioniert noch.

Das Meinungsbildungsmonopol ist via Handy und Internet durchlöchert. Ein Plus für die Demokratie. Doch Achtung: »Fake News« und Twitter-Nachrichten sind seit den letzten Präsidentenwahlen in den USA zu einer neuen wirksamen Wahlkampfmethode geworden. Vordergründig mit dem Ziel, die schmutzigen Flecken auf der Weste des politischen Mitbewerbers sichtbar zu machen.


Europawahl am 26.5.2019
Ihre Bedeutung ist nicht ohne historische Betrachtungen zu verstehen: Die geschwächten, aber noch machtvollen Führungskräfte der Bundesrepublik stimmten 1951 dem Vorschlag Frankreichs zu, eine für die Rüstung bedeutsame Montanunion zu bilden. Künftig sollte Frieden herrschen. Nach Unterzeichnung der Römischen Verträge gründeten beide mit weiteren Ländern Europas 1957 eine Wirtschaftsgemeinschaft (EG), die später in die Europäische Union überging. Mit dieser Politik verließen deutsche Führungskräfte den alten Kriegspfad. Mit 27 anderen europäischen Staaten ist inzwischen eine Gemeinschaft entstanden, die untereinander den Krieg nicht mehr als Option zur Klärung von Differenzen betrachtet. Ein großer Wirtschaftsblock sollte zum Wohle aller führen, was sich aber noch nicht eingestellt hat. Nur wenige Investoren können auf dickere Bankkonten blicken.

Die Wahl zum Europäischen Parlament bietet 2019 die Möglichkeit, dass Deutschland nach Ende der Mandatszeit des gegenwärtigen Kommissionspräsidenten den Vorsitz übernehmen könnte. Eine großartige Perspektive für die wieder erstarkten deutschen Banken und Wirtschaftslenker. Ein Kandidat aus Bayern ist bereits gefunden.

Die Wähler können bestimmen, in welcher Zusammensetzung die deutschen Parteien in das Europaparlament einziehen. Davon hängt die Politikrichtung der EU ab. Gegenwärtig verfolgt die EU neoliberale Wirtschaftskonzepte (zum Beispiel Privatisierung, Bankenrettung, Marktkonformitäten). Soziale Verbesserungen bestimmen weniger die Agenda.

Außenpolitisch folgt die EU dem Kurs der USA (man denke an Russland, Ukraine, China, Venezuela, Kuba). Die Atomwaffen unterliegen nicht dem Totalverbot durch die EU.

Wähler haben für die EU-Wahl einen speziellen Aufklärungsbedarf. Die Zusammensetzung der Fraktionen unterscheidet sich erheblich von der in Deutschland üblichen Form. Parteien aus den Mitgliedsländern bilden Fraktionen, je nach politischer Ausrichtung. Gesetzesprojekte haben andere Entscheidungswege. Medien tragen zu wenig zur Meinungsbildung bei.


Landtagswahlen in Sachsen (1.9.), Brandenburg (1.9.), Thüringen (27.10.)
Das politische Establishment reagiert nervös. Teile der Sachsen vertreten mit Pegidaprotesten Meinungen, die abseits üblicher Auffassungen stehen. Was sind die Hintergründe? Bürger der neuen Bundesländer sind nicht voll in das soziale System der alten Bundesländer integriert, obwohl das Grundgesetz dazu einen Auftrag erteilt. Eine Anfang März vorgestellte Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung stellt viele Rückstände fest. Schwerwiegend für die Wähler der »neuen« Bundesländer kommt hinzu, dass die Siegermentalitäten noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in Fernsehsendungen, Ausstellungen, Zeitungskolumnen unvermindert zelebriert werden. Zu oft und zu generalisierend wird die Stasikarte gezogen. Ungenügend bedacht wird von den Politikern und Meinungsbildnern, dass bei der Wiedervereinigung zwei unterschiedliche Systeme zusammentrafen: Es waren der Absolutismus des allein seligmachenden östlichen Sendungsbewusstseins von der Richtigkeit seines Modells und der westliche Absolutismus des hegemonialen Geldkapitals mit seinen Defiziten in Sozialbereichen und beim Naturerhalt (Scholl-Latour). Kriege nahmen zu keinem Zeitpunkt nach der Wende ab. Beide Systeme sind mit starken Ideologien ausgestattet, jeweils mit der Tendenz, den Humanismus und die Menschenrechte der zweiten Reihe zuzuordnen. Beide Systeme bieten oder boten den Wählern positive und negative Realitäten. Schließlich stand im Hintergrund ein 40-jähriger Kalter Krieg, der vielseitig geführt wurde.

Bedeutungsvoll für das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern ist auch das Verhältnis des Abgeordneten zu seinen Wählern. In der Repräsentativen Demokratie (West) braucht der Abgeordnete nur seinem Gewissen zu folgen, in der Partizipativen Demokratie (Ost) war er seinen Wählern rechenschaftspflichtig. Zwischen den Wirklichkeiten des Realsozialismus und der Gegenwart schweben die Wähler Ost. Lernprozesse, was Demokratie alles bedeuten kann, dauern an, auch was »marktkonforme Demokratie« bedeutet.

Und dann kratzt noch die AfD mit zweifelhaften Aussagen am Gesellschaftsbild und lockt die Unzufriedenen.

Genügend Gründe für Nervositäten der Parteien sind vorhanden. Nur eins ist sicher: Ohne eine Koalition kommt keine der drei Landesregierungen zustande. Ungewiss bleibt die Frage, wer erhält die meisten Stimmen, und wer geht mit wem eine Koalition ein? Die Wahlbeteiligung wird erneut zum Faktor werden. Wünschenswert sind hohe Prozentsätze.

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