Dienstag, 7. Mai 2019

Die Krise linker Verlage und Medien und die Voraussetzungen von Gesellschaftskritik

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Unser Gedächtnis

Für den gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen Schreiben, Wirklichkeitsaneignung und den materiellen Austauschprozessen des so Hervorgebrachten gibt es in der linken Tradition unter anderem den Begriff »Literaturverhältnisse«. Er geht bis zu Lenin und Johannes R. Becher zurück, wurde Kritik im besseren Sinne mit Walter Benjamin und Bertolt Brecht, fand später eine Fortsetzung bei Georg Lukács und Theodor W. Adorno – und immer so weiter.
Literaturverhältnisse heißen absichtlich so ähnlich wie Produktionsverhältnisse, weil mit dem Begriff alle Beziehungen in den Blick rücken, die Menschen eingehen – hier: wenn sie Bücher schreiben, produzieren, verkaufen, konsumieren. Diese Verhältnisse ändern sich, wenn sich die Ressourcen wandeln, die für diese (Literatur-)Produktion zur Verfügung stehen. Eine bestimmte Tradition der Kritik hat das Produktionsweise genannt, wobei manche diese als eine Art Superstruktur begreifen, die das Typische am Kapitalismus ausmacht – und also bei Veränderung eine neue Gesellschaftsformation hervorbringen müsste. Andere pochen darauf, mehr die Veränderungen innerhalb einer solchen Formation zu untersuchen, weil das die Voraussetzung dafür ist, wie es Wolfgang Fritz Haug einmal formuliert hat, sich ein »angemessenes Verständnis der von der Hochtechnologie auf Basis des Computers bewirkten Wandlungen« zu erarbeiten.
Letztere halten die ganze Welt und also auch die »Literaturverhältnisse« in Bewegung. Das Internet hat die Wahrnehmung verändert sowie die Herstellung und Distribution von Inhalten in einem weiten Sinne durchgeschüttelt. Ohnehin prekäre Geschäftsmodelle wie jene von unabhängigen Verlagen geraten unter noch größeren Druck. Aber auch die großen »schwimmen«. Denkt man »Literaturverhältnisse« weiter, rückt die schwierige Lage der Zeitungen mit in den Blick, auch die von politisch-wissenschaftlichen Periodika. Ohne solche Blätter hätten sich die genannten kritischen Traditionen gar nicht erst bilden können. Debatten wären ausgeblieben, Begriffe und Theorien, die im Ringen um analytische Qualität, politische Pointe und gesellschaftliche Wirksamkeit entstehen, würden fehlen.
Ein Teil dieser Erinnerung kritischen Denkens droht in den veränderten »Literaturverhältnissen« zu verschwinden. Archive, Backlists, Erfahrungen, Zusammenhänge. Es geht um die materielle Existenz von Projekten, die zu den Voraussetzungen von Gesellschaftskritik beitragen. Die Probleme kleiner Verlage, Medienproduktionen, Zeitungen und so fort sind nicht dieselben wie jene der Großen, der Konzerne. Es macht einen Unterschied, ob man sich bei Nichtfunktionieren der Formel G-W-G’ einfach ein neues Geschäftsmodell suchen kann. Oder ob mit der ökonomischen Krise der Produktion, Verteilung und Aneignung sich die Probleme auf einen Punkt zuspitzen, an dem die Voraussetzungen kritischen Denkens fehlen. Aufklärung lässt sich nicht durch ein neues Produkt ersetzen.
Damit ginge nicht nur Zukunft verloren (von den Jobs ganz zu schweigen), sondern auch Wissen um vergangene Versuche, diese Zukunft in progressiver Absicht zu verändern. Ob es nun das Thema Enteignung ist, ob alternative Wirtschaftsstrategien, ob Fragen des autoritären Populismus, die Kritik an Rassismus, Geschlechterverhältnissen – all das und noch viel mehr ist auch früher schon diskutiert worden. Links sein heißt mitunter, zu früh dran zu sein: Heute stehen Fragen auf der Agenda, bei denen die Suche nach Antworten von diesem linken Gedächtnis profitieren könnte. Die Nützlichkeit für Erkenntnisprozesse und Strategiebildung ist dabei keine Frage der »Autorität« früherer Köpfe, sondern wäre immer wieder neu zu prüfen.
So notwendig das linke Gedächtnis ist, so ökonomisch gefährdet ist es mit der Krise linker Verlage und Zeitungen: Wie halten wir es zugänglich, wenn die heutigen Träger dies nicht mehr können? Wer vertritt und erneuert dieses Gedächtnis, wer bereitet es den Heutigen auf? Die Frage, wie »Aufklärung« und »Wissensaufbewahrung« auch wirtschaftlich zukunftsfähig gemacht werden könnten, ist noch ohne überzeugende Antwort. Hoffnungen darauf, auf digitalen Feldern Sorgen hinter sich zu lassen, sind enttäuscht worden. Die Erwartungen an öffentliche Fördermodelle können realistischerweise nicht in den Himmel wachsen. Die Rechnung »Qualität findet bezahlte Nachfrage« geht auch für weit größere Unternehmungen oft nicht mehr auf. Vieles, was in linker Tradition steht, sind Generationenprojekte, die sich nicht ohne Weiteres auf »neue Zielgruppen« oder »jüngere Zusammenhänge« übertragen lassen. Genossenschaftsmodelle verlängern den Bremsweg, aber können sie auch mehr? Wie oft und für wen funktioniert Crowdfunding wirklich? Was gibt es für Alternativen?
Was die unabhängigen Verlage angeht, hat sich mit der Kurt Wolff Stiftung immerhin ein kollektiver Zusammenhang gegründet, der seit dem Jahr 2000 Interessenvertretung in schweren Zeiten betreibt. Kleine linke Zeitungen und kritische, theoretische Zeitschriften haben so eine Vertretung nicht. Den Lobbyverbänden der Branche ist das linke Gedächtnis einerlei.
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