Ein Zyklus wird lebendig
»Baubrigade der Sportstudenten«, 1964, Linolschnitt
Foto: Archiv Michel
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Heute versteht niemand mehr, dass es in der DDR der 60er Jahre Leute gab, die dem »Zyklus für die Jugend« wegen »Verwestlichung« ablehnend gegenüberstanden. Was wir beim Blättern in diesen frühen Graphiken von Jürgen Wittdorf sehen, ist die Jugend der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Als er den Zyklus 1961/62 ins Holz schnitt, waren die heute Achtzigjährigen Mitte 20. In den Kinos lief »Berlin – Ecke Schönhauser«. Teenager hießen Halbstarke. Jeans und T-Shirts bezeichnete man als Niethosen und Nickis. Die Füße steckten in Ringelsocken und diese wiederum in Sambalatschen. Kunstvoll mit Petticoats aufgesteifte Röcke kamen auf und der Pferdeschwanz als Mädchenfrisur, der sich bis heute (auch bei Männern) gehalten hat. Mit Pomade am Hinterkopf von rechts und links zusammengekämmte Haare mit einem senkrechten Schlitz in der Mitte nannte man Ente. Und weil das alles aus dem Westen kam, gab es allerhand Bemühungen, solchen Einfluss zurückzudrängen; sie liefen ins Leere.
Jürgen Wittdorf hat mit seinem Jugendzyklus und anderen Arbeiten dazu beigetragen, dass Normalität einzog. Seine Graphiken wurden in mehreren Ausstellungen gezeigt, erfreuten sich etwa bei der V. Deutschen Kunstausstellung in Dresden vor allem bei Jugendlichen und jung gebliebenen Erwachsenen großer Beliebtheit, und die Kritik verstummte. 1963 gab der Verlag Junge Welt die Blattfolge als Mappe heraus. Im Mitteldeutschen Verlag Halle erschien 1965 Volker Brauns Buch »Provokation für mich«, das den Zyklus zum Thema hatte. Und der Komponist Helmut Kontauts, der auch in der Singebewegung aktiv war, schrieb damals sein Musical »Junge Leute in einer großen Stadt. Ein Zyklus wird lebendig«.
In Wittdorfs Arbeiten ist vieles von dem festgehalten, was uns das Leben in der DDR lebenswert machte, das Miteinander, die Gemeinsamkeit im Denken und Handeln. Bestimmend ist überall – bis hin zu den letzten Bildern – eine zutiefst menschliche Grundhaltung. Als Humanist hat der Maler und Graphiker die Veränderungen seiner Zeit wahrgenommen: das Leben junger Menschen um 1960 und später; die Entwicklungen im Männer- und Frauenbild; starke Frauen und Mädchen; Männer ohne Machogehabe, voller Sensibilität und Verletzlichkeit, die ihren Alltag meistern; lebenslustige Kinder. Er war liebenswert, ein künstlerisch wirkender Chronist und sah voller Neugier und Humor auf seine Mitmenschen.
Noch etwas ist in diesem Werk erhalten, das in der Gegenwart immer seltener wird: die Beherrschung des Handwerks realistischer Kunst, geübt von Jugend an, zunächst als Mitglied eines Graphikzirkels in Stollberg im Erzgebirge, später als Student an der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst und schließlich als Meisterschüler der Akademie der Künste bei Lea Grundig. Und dieses Handwerk gab Wittdorf weiter als Zirkelleiter in der Volkshochschule Leipzig, als Lektor am Pädagogischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, als Leiter von Zirkeln im Haus der Jungen Talente und im Haus des Lehrers in Berlin.
Seine Arbeiten sind geprägt durch die vollkommene Beherrschung der menschlichen Figur, der künstlerischen Anatomie, für die der Dresdener Gottfried Bammes mit seinem Werk »Der nackte Mensch« Grundlagen schuf. Heute werden sie im Verdrängungskampf um ständig Neues schon in der Ausbildung der Kunststudenten kaum noch beachtet. Und Wittdorf beherrschte die Schwierigkeiten beim großformatigen Holzschnitt durch sicheres Gespür für Ausgewogenheit in Komposition und Farbe. Wenn sich gutes Handwerk mit einem menschlichen Anliegen und mit Aussagewillen verbindet, kann man von Glück reden.
Bekannt wurde Jürgen Wittdorf auch als Illustrator, und zwar bereits 1959 mit »Der Einzelgänger« und »Auf Orchideenjagd«. Unter den zahlreichen Büchern, die er gestaltet hat, finden wir auch Literatur für Kinder wie »Tiere im Zirkus« (1964), »Der Elefantentreiber« (1966) oder »Die goldene Brücke. Märchen und Sagen aus dem Spreewald« (1967).
Jürgen Wittdorfs Œuvre ist reich. Er konnte in vielen Schaffensbereichen – in der Zeichnung, in der Druckgraphik, im Aquarell, aber zum Beispiel auch in der bemalten Keramik – auf ein umfassendes Lebenswerk zurückblicken. Mit Bitternis dachte er an die von ihm gestaltete keramische Wand im Berliner Sportforum – ein Opfer des Nach»wende«vandalismus. 2013 zeigte er in der GBM-Galerie seine vielbeachtete Ausstellung »Zeugnisse aus sechs Jahrzehnten«.
Er starb am ersten Advent in einer Berliner Behinderten-WG im Alter von 86 Jahren – gut umsorgt von seinen Freunden, die ihn nach 1989/90 vor Vereinsamung behüteten und dafür sorgten, dass sein künstlerischer Nachlass in gute Hände kam.
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