Sonntag, 30. Dezember 2018

»Brexit« droht niederländische Fischerei hart zu treffen. Konkurrenz unter Nordsee-Anrainern verschärft

Endzeitstimmung auf Urk


Von Gerrit Hoekman
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Vom Fischfang abhängige Gemeinden unterstützten den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (Hastings, 8.4.2018)
Das niederländische Städtchen Urk am Ijsselmeer lebt seit Menschengedenken vom Fischfang. Hier findet die größte Auktion für Plattfisch in ganz Europa statt. Doch damit ist es vielleicht bald vorbei. Der »Brexit« könnte in der Region bis zu 2.000 Arbeitsplätze kosten. Das geht aus einer Analyse der Provinz Flevoland hervor, zu der Urk gehört.
Der Grund: Verlässt Großbritannien die Europäische Union (EU) ohne Abkommen, dürfen die Niederländer ihre Netze wahrscheinlich nicht mehr vor der britischen Küste auswerfen. Ein herber Verlust, denn 60 Prozent des gesamten niederländischen Fangs stammen von dort – und niemand weiß im Moment, wie die Menge kompensiert werden kann. In nackten Zahlen bedeutet das: Von den 60 Fischereibetrieben in der Region würde höchstens die Hälfte überleben, die im Urker Hafen liegende Flotte würde nur noch 25 Schiffe umfassen, wo es heute 103 sind. Das berichtete die Lokalzeitung De Stentor vergangene Woche.
»Fische halten sich nicht an Grenzen. Warum sollten unsere Schiffe das tun müssen?« fragt Marte Waringa in De Stentor. Waringa hält die Elektronik der Trawler instand. Er würde zu jenen gehören, die wie ein Dominostein mit umfallen, wenn die Fischer von Urk nicht mehr vor der britischen Küste auf Fang gehen dürfen. »Ich werde es merken, wenn dieser Brexit so hart wird, dass Wassergrenzen kommen«, fürchtet er. »Wir müssen die Gewässer dort weiter besuchen, dafür muss sich die niederländische Regierung stark machen.«
Die Fischindustrie am Ijsselmeer ist abhängig vom englischen Markt. Sie liefert das hochwertige Eiweiß für zwei von drei Portionen Fish and Chips, die in Großbritannien verzehrt werden. Auf Urk wird nämlich ein Teil des Fangs, den die niederländischen Schiffe vor England und Schottland machen, zu Filets verarbeitet, die danach wieder zurück auf die Britischen Inseln transportiert werden – eine der normalen Verrücktheiten innerhalb der EU.
Auf der anderen Seite der Nordsee sind die britischen Kollegen ebenfalls empört. Sie befürchten Verrat. Die Regierung in London verkaufe die Interessen der englischen und schottischen Fischer. Stein des Anstoßes: Die EU fordert auch für die Zeit nach dem »Brexit« das Recht für ihre Mitgliedsländer, vor der britischen Küste zu fischen. »Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte sogar, dass ohne einen schnellen Kompromiss bei der Fischerei die Gespräche über ein weiter gefasstes Handelsabkommen ins Stocken geraden würden«, meldete die BBC Ende November.
Die französischen Fischer verteidigen ihre Fanggründe mit allen Mitteln. Im August gerieten sie vor der Normandie mit Schotten aneinander, die Jakobsmuscheln fangen wollten. Schiffe rammten sich, die Besatzungen stießen über die Reling hinweg wüste Drohungen aus, sogar Gegenstände sollen geflogen sein. Frankreich drohte mit dem Einsatz der Marine. »Fischen ist ein sehr emotionales Thema«, erklärte Pim Visser von der niederländischen Interessenvereinigung Vis-Ned bei der BBC.
Das Problem ist dermaßen kompliziert, dass es in der aktuellen Version des »Brexit«-Vertrags noch ausgeklammert ist. Bis zum Ende der Übergangszeit am 1. Juli 2020 wollen die beiden Parteien ein gesondertes Fischereiabkommen aushandeln. Bis dahin bleibt erst einmal alles beim alten. Das haben sich die britischen Fischer aber ganz anders vorgestellt, als sie beim Referendum überwiegend für das Verlassen der EU stimmten. Sie wollen die Fanggründe in den britischen Küstengewässern möglichst selbst ausbeuten – ohne lästige Quoten aus Brüssel. Die fischverarbeitende Industrie in England und Schottland macht ebenfalls Druck, sie würde liebend gerne die britischen »Chip Shops« selbst beliefern.
»Dieser Brexit ist der schwerste Job, den ich jemals als Dezernent hatte«, stöhnte unterdessen Geert Post in De Stentor. Er ist auf Urk für die Fischerei zuständig. Post gehört der SGP an, dem politischen Sprachrohr der strenggläubigen Kalvinisten. Die Partei sitzt mit drei Abgeordneten im niederländischen Parlament. Urk ist eine ihrer Hochburgen. Doch mit Gottvertrauen alleine ist dieses Problem nicht zu lösen. »Sie müssen wach werden, denn der Brexit kommt, und er wird sehr große Folgen haben«, warnte Geert Post seine Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Einige von ihnen haben sich offenbar schon nach einem Zubrot umgeschaut und sind dabei in der Amsterdamer Unterwelt fündig geworden. Im Frühjahr verurteilte ein Gericht eine Gruppe von Fischern aus Urk zu Haftstrafen zwischen dreieinhalb und fünf Jahren. Sie hatten in der Nordsee im Auftrag von Drogendealern 260 Kilogramm Kokain von einem Containerschiff aus Brasilien übernommen. »Fischer können mit einfacher Fischerei ehrenhaft ein gutes Butterbrot verdienen«, appellierte seinerzeit der zuständige Staatsanwalt an die Moral der Mannschaften der Urker Flotte, wie das NRC Handelsbladberichtete. Das kann allerdings nach dem »Brexit« ganz anders aussehen.

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