»Angesichts der Bilder nicht nachvollziehbar«
Interview: Markus Bernhardt
Protest niedergeschlagen: Ein Bild von der Demonstration in Göttingen gegen die bundesweiten Durchsuchungen nach dem G-20-Gipfel in Hamburg (9.12.2017)
Foto: Swen Pförtner/dpa
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Katrin Raabe ist Sprecherin der Göttinger Initiative »BürgerInnen beobachten die Polizei und Justiz«
Der Ordner wurde im Würgegriff hinter eine Polizeikette gezogen und von einem auf ihm knienden Polizisten zu Boden gedrückt. Wenig später wurde er an den Armen über die Straße geschleift. Dabei verlor er mehrfach das Bewusstsein. Trotzdem wurde er ein zweites Mal über den Boden zu einem Polizeibus gezerrt. Etliche Personen, darunter die Mutter des Verletzten, wurden daran gehindert, Erste Hilfe zu leisten. Ein anwesender Arzt wurde nicht zu dem Ordner gelassen. Statt dessen wurde der auf dem Boden eines Polizeiautos ungesichert abtransportiert und zu einer Göttinger Polizeiwache gefahren.
Ein Ermittlungsverfahren gegen die am Einsatz beteiligten Beamten ist Ende November eingestellt worden. Das geschah, obwohl Videoaufnahmen von dem Polizeiübergriff veröffentlicht wurden. Wie erklären Sie sich diese Entscheidung?
Die Einstellung ist für mich nicht nachvollziehbar. Selbst der Göttinger Polizeipräsident Uwe Lührig erklärte nach Sichtung des Videos, dass »massiv Gewalt angewendet worden« sei. Auf dem Video sieht man, dass der Ordner nach mehreren Schlägen bereits taumelt und dann nach einem gezielten Schlag in sein Gesicht zu Boden geht. In der Begründung der Verfahrenseinstellung heißt es laut Medienberichten, der medizinischen Untersuchung zufolge seien keine Spuren von Gewalteinwirkung erkennbar gewesen. Dies widerspricht völlig dem veröffentlichten Videomaterial. Die Polizei behauptet zudem, die Beamten hätten in »Notwehr« gehandelt – was angesichts der Bilder nicht nachvollziehbar ist.
Haben Opfer von Polizeigewalt überhaupt reale Chancen, sich juristisch zur Wehr zu setzen?
Leider ist es gängige Praxis, Ermittlungsverfahren gegen Polizisten einzustellen. Problematisch an diesen Untersuchungen ist, dass sie polizeiintern, also von eigenen Kollegen geführt werden. Da es noch keine bundesweite Kennzeichnungspflicht der Einsatzkräfte gibt – oder diese, wo sie besteht, etwa durch Abkleben oder Verdecken der Nummern ausgehebelt wird –, werden Täter in Uniform häufig nicht zur Verantwortung gezogen. Es heißt dann oft, sie hätten nicht ermittelt werden können.
Opfer von Polizeigewalt bekommen zudem regelmäßig Gegenanzeigen nach Paragraph 113 StGB, also wegen »Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte«. Dieser Paragraph wurde 2017 zusätzlich verschärft, Verurteilte erwarten hohe Strafen. Da Polizisten eine gewisse Glaubwürdigkeit unterstellt wird, ergibt sich vor Gericht regelmäßig die Situation, dass die Aussagen des Opfers von mehreren Polizisten in Frage gestellt werden können. Angegriffenen wird daher oft davon abgeraten, überhaupt eine Anzeige zu stellen.
Was müsste geändert werden, damit Opfer von Polizeigewalt besser geschützt werden?
Wir fordern schon lange eine konsequente Kennzeichnung von Beamten und wirksame unabhängige Ermittlungsstellen, die besser funktionieren als zum Beispiel die niedersächsische Beschwerdestelle. Diese ist beim Landesinnenministerium angesiedelt und hatte im konkreten Fall weder den Betroffenen noch Zeugen angehört.
Wie in anderen Bundesländern droht auch in Niedersachsen in Kürze die Verabschiedung eines neuen Polizeigesetzes. Welche Auswirkungen könnte dies für Ihre Arbeit haben?
Wir gehen davon aus, dass die neue Regelung in vielen Bereichen Auswirkungen haben wird, da die Polizei noch weiterreichende Befugnisse erhalten soll. Es besteht die Gefahr, dass der schwammige Begriff des »Gefährders« auch auf Demonstranten angewendet wird. Erschreckend ist auch die rasant zunehmende Militarisierung der Polizei seit dem Hamburger G-20-Gipfel. Mehrfach wurden mit Sturmgewehren ausgerüstete SEK- und »BFE+«-Einheiten im Kontext von Demonstrationen gesichtet. Die BFE+ wurden vorgeblich für Terrorlagen von der GSG 9, der Spezialeinheit der Bundespolizei, militärisch ausgebildet. Im Oktober wurde ein niedersächsischer Polizeipanzer mit aufmontiertem Maschinengewehr zur Sicherung einer Neonazidemo in Berlin eingesetzt. Das Dokumentieren solcher Einsätze wird in Zukunft noch wichtiger werden.
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