Sonntag, 30. Dezember 2018

Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker ist das weltweit bekannteste seiner Art. Erstmals fand es 1939 statt und war Hitlers Kriegswinterhilfswerk gewidmet. Am 1. Januar wird es von einem Preußenverehrer geleitet werden

In guter alter Tradition


Von Berthold Seliger
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Bewährt seit 1939. Das Neujahrskonzert im Großen Musikvereinssaal zu Wien
Berthold Seliger ist Konzertveranstalter und Autor. 2017 erschien von ihm im Verlag Matthes & Seitz das Buch »Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle«.
Am 1. Januar 2019 ist es wieder soweit: Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker findet im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins statt, wird in über 90 Länder live übertragen und von mehr als 40 Millionen Zuschauern im Fernsehen verfolgt werden. Die Bühne des Musikvereins wird festlich geschmückt sein, die Wiener Stadtgärten werden gemeinsam mit den österreichischen Gärtnern und Floristen den Saal »in einem Blütenmeer erstrahlen lassen«, wie auf der Webseite der Wiener Philharmoniker zu lesen ist. Die Karten für das Konzert werden ausschließlich über deren Website verlost, man kann sich in den ersten beiden Monaten des Jahres zur Verlosung anmelden; die Karten kosten offiziell bis zu 1.090 Euro, aus aller Welt reisen die Reichen an, in den letzten Jahren waren neben den üblichen japanischen Gesichtern auf den besten Plätzen immer öfter Russen und Chinesen zu sehen. Dirigent wird zum ersten Mal Christian Thielemann sein. Seit jeher betätigt sich Thielemann gern als Rechtsausleger mit preußischer Konnotation – ein Bild Friedrichs des Großen hängt in jedem seiner Dienstzimmer über dem Schreibtisch. Bei einem Nürnberger Silvesterkonzert wollte er 1992 Hitlers Parademarsch »Badenweiler« aufführen, beim Silvesterkonzert 2017 in der Dresdner Semperoper ließ er Propagandaschlager der UFA spielen, und bei einer Probe soll er 2000 in Berlin von der »Juderei« im hauptstädtischen Musikleben gepoltert haben (was auch in einem Prozess nicht restlos geklärt werden konnte). Thielemann sagt von sich selbst: »Ich bediene die deutsche Schublade besonders schön.« So ist das wohl, und vielleicht ist Thielemann, der erste Deutsche, der das Wiener Neujahrskonzert dirigieren darf, gerade deshalb der ideale Dirigent dieser Veranstaltung.

Teil der Nazipropaganda

Dort nämlich präsentieren die Wiener Philharmoniker seit jeher zum Jahreswechsel »ein heiteres und zugleich besinnliches Programm aus dem reichen Repertoire der Strauß-Dynastie und deren Zeitgenossen«, so die Eigenaussage. Das bekannteste Neujahrskonzert der Welt fand zum ersten Mal nicht am Neujahrsmorgen, sondern schon am Silvestertag des Jahres 1939 statt. Die Tradition wurde für Adolf Hitlers »Kriegswinterhilfswerk« begonnen als Teil von Goebbels’ Propagandamaschinerie, die Stimmung für Hitlers im gleichen Jahr begonnenen Angriffskrieg machen sollte (auch Propagandaminister Goebbels war übrigens Preußenfan und hat dafür gesorgt, dass Friedrich II. glorifiziert wurde, die NS-Propaganda feierte den Preußenkönig als »ersten Nationalsozialisten«).
Dass das Neujahrskonzert, das »Ergebnis einer nationalsozialistischen Kulturpolitik« (der Musikhistoriker Fritz Trümpi), just von den Wiener Philharmonikern ausgerichtet wurde, war alles andere als ein Zufall. Das Berliner Philharmonische Orchester war von den Nazis bereits zum »Reichsorchester« ernannt worden, nun ging es darum, auch das andere bedeutende Orchester in Großdeutschland der Naziideologie zu unterwerfen. Wobei »Unterwerfung« gar nicht so sehr notwendig war. Fritz Trümpi belegt in seiner hervorragenden Studie »Politisierte Orchester«1, dass die Wiener Philharmoniker längst in einer Art vorauseilenden Gehorsams während des Austrofaschismus den Weg der »Selbstanpassung« gegangen waren. Bereits 1933 hatten sie mit Hugo Burghauser einen Vorstand gewählt, der enge Kontakte zur Spitze der austrofaschistischen Politprominenz sowie zur von Engelbert Dollfuß gegründeten »Vaterländischen Front« unterhielt und dem italienischen Faschismus seine Bewunderung zollte.2 1936 veranstaltete das Orchester unentgeltlich ein Konzert zugunsten der österreichischen Jugendverbände »Jung-Vaterland« und »Ostmarkjugend«.
Schon vor 1938, also noch zu Zeiten des Verbots der NSDAP in Österreich, gab es bei den Wiener Philharmonikern eine illegale Zelle der Partei, belief sich der Anteil der NSDAP-Mitglieder im Orchester auf etwa 20 Prozent (1942 waren 60 der 123 aktiven Musiker Mitglieder der NSDAP). Bereits seit 1930 (!) wurden keine Musiker jüdischer Herkunft mehr ins Orchester aufgenommen, und 1938 wurden alle jüdischen Musiker fristlos aus dem Dienst der Wiener Staatsoper3 entlassen; zwei der jüdischen Philharmoniker wurden ermordet, fünf starben im KZ oder während der Deportation, neun wurden ins Exil getrieben.4 Im Juni 1939 stimmte Goebbels der Beibehaltung der vereinsrechtlichen Selbständigkeit der Wiener Philharmoniker zu, »jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Satzungen nationalsozialistischen Grundsätzen entsprechend geändert werden und der Verein meiner unmittelbaren Aufsicht unterstellt wird«; umgesetzt wurde dies in einer neuen Satzung im Sommer 1939, in die das »Arierprinzip« und das »Führerprinzip« aufgenommen wurden und außerdem festgeschrieben wurde, dass »Mitgliederbeschlüsse zu ihrer Rechtskraft der Zustimmung des Herrn Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda bedürfen«.5

»Wiener Geselligkeit«

Erst während der Naziherrschaft kamen die Wiener Philharmoniker verstärkt mit popularisierten Konzertformen in Berührung. Zwar hatte es auf Betreiben ihres Chefdirigenten Clemens Krauss bereits seit 1929 Konzerte mit reinen Johann-Strauß-Programmen bei den Salzburger Festspielen gegeben, doch in Wien waren derartige Programme bis 1939 nicht gespielt worden. Nun aber galt die von Goebbels verordnete »Wiener Geselligkeit« – der Propagandaminister wollte, dass Wien wieder »eine Stadt der Kultur, des Optimismus, der Musik und der Geselligkeit« werde, so dass es im Interesse von Stadt und Staat lag, die Etablierung derartiger Konzerte voranzutreiben. Und das Orchester hatte ein Interesse daran, sich ein neues Publikum zu erschließen, denn nach dem »Anschluss« befanden sich die Wiener Philharmoniker in finanzieller Hinsicht in einer durchaus problematischen Lage, vor allem, weil die antisemitischen Maßnahmen sich nachhaltig auf den Kartenabsatz niederschlugen – denn die »Publikumsverhältnisse in Wien« waren ursprünglich so, dass »das Konzertpublikum als stark verjudet angesehen werden kann«, wie die Orchesterleitung schrieb, ein Publikum also, das 1939 nicht mehr zur Verfügung stand.
Und so spielte unterhaltende Musik wie die der Strauß-Dynastie im Repertoire der Wiener Philharmoniker während der Nazizeit eine immer größere Rolle, auch wenn zahlreiche Orchestermitglieder demgegenüber skeptisch bis ablehnend waren, nicht zuletzt aus elitärer Arroganz. Der Anteil von Werken der Strauß-Familie am gesamten Repertoire außerhalb der Abonnementskonzerte schnellte bereits in der Saison 1939/40 von 0 auf über 40 Prozent hoch und betrug im letzten Kriegsjahr sogar mehr als die Hälfte aller gespielten Werke.6 Die konservative Linie ihrer Abonnementskonzerte konnten die Wiener Philharmoniker politisch und finanziell nur aufrechterhalten, wenn sie sich gleichzeitig dem musikalischen Unterhaltungssektor öffneten, ganz im Sinne von Goebbels, der bekanntlich der subkutanen Wirkung der Unterhaltungskultur eine wichtige Rolle innerhalb seines Propagandasystems zusprach.
Man denke nur an die sogenannten Durchhaltefilme, die zum Teil auch Operettenfilme waren, vom Propagandafilm »Wunschkonzert« (mit Marika Rökk, die mit Johannes Heesters das Traumpaar des NS-Films bildete und die an Adolf Hitler schrieb: »Wenn ich Sie, mein Führer, für ein paar Augenblicke erheitern (…) konnte, so bin ich darüber unendlich stolz und glücklich«) über »Rosen in Tirol« oder »Wiener Blut« bis hin zu reinen Filmoperetten wie »Frühjahrsparade« (von Robert Stolz) oder »Es lebe die Liebe«. Die Wiener Philharmoniker wirkten nach dem »Anschluss« verstärkt an derartigen Filmproduktionen mit, vor allem an solchen mit einer spezifischen Wien-Thematik. Außerdem verpflichteten sie sich, »Schwarzplatten-Aufnahmen« (wie damals die Schallplatten hießen) »für den Großdeutschen Rundfunk mit Wiener Musik, in erster Linie natürlich mit Werken Johann Strauß’, mit einem, die Wiener Note besonders beherrschenden Dirigenten, zu machen«, wie es im Vertrag zwischen Orchester und Reichsrundfunkgesellschaft von 1940 heißt.
Es war also alles andere als ein Zufall, dass die Philharmoniker Silvester 1939 ihr erstes »Neujahrskonzert« (das damals noch nicht so hieß, sondern als »Außerordentliches Konzert« angekündigt wurde) mit Werken der Strauß-Familie absolvierten, und es war ebenfalls kein Zufall, dass das Neujahrskonzert im Jahr darauf »nun schon zur Tradition geworden ist«, wie die Nazipresse in einer Ankündigung Ende 1940 schrieb; seit 1941 wurde es zugunsten der Organisation »Kraft durch Freude« ausgerichtet. Die ersten sechs Neujahrskonzerte wurden von Clemens Krauss dirigiert, der von Wiens Gauleiter Baldur von Schirach protegiert wurde und gegenüber den Nazis eine extrem opportunistische Haltung zeigte; zur Eröffnung des Salzburger Mozarteums als Musikhochschule unter seiner Leitung 1939 sprach er von seiner »tiefen Demut vor dem Genius Mozart und vor dem vorwärts stürmenden erhabenen Meister und Künstler Adolf Hitler« (immerhin in dieser Reihenfolge). Mit Ausnahme von Willi Boskovsky, der von 1939 bis 1971 Konzertmeister der Wiener Philharmoniker war und in Nachfolge von Krauss das Wiener Neujahrskonzert von 1955 bis 1979 wie Johann Strauß mit Instrument in der Hand als Stehgeiger dirigierte, leitete kein anderer das Neujahrskonzert so häufig wie Clemens Krauss, der nach dem Ende des Naziregimes von 1948 bis 1954 seine Arbeit als Strauß-Propagandist fortführte.

Der Radetzky-Marsch

Das erste »Johann-Strauß-Konzert« zeugte davon, wie perfekt die Wiener Walzer zur »Propaganda durch Unterhaltung«-Strategie des Naziregimes passten. Das Wiener Neuigkeits-Welt-Blatt rezensierte das Konzert mit »ausschließlich Werken unseres Walzerkönigs« unter dem Titel »Wiener Walzerseligkeit: Da lag auf allen Gesichtern der Zuhörer das glückliche Lächeln der musikalischen Erregung hinreißenden Dreivierteltakts«.7 Als Zugaben wurden die »Fledermaus«-Ouvertüre und »die Wiener Walzerhymne als krönender Abschluss« gegeben, also beim ersten Konzert bereits der Donau-Walzer – nicht aber der Radetzky-Marsch.
Der erlebte jedoch in den Folgejahren eine beispiellose Erfolgsgeschichte, wird bis heute als letzte Zugabe des Wiener Neujahrskonzerts aufgeführt, und das Publikum klatscht im Takt mit, ob die jeweiligen Dirigenten das wollen oder, wie Carlos Kleiber, ablehnen. Der Radetzky-Marsch wird vor Spielen der österreichischen Fußball-Nationalmannschaft eingespielt, diente als Werbemusik für Bärenmarke oder Bonduelle-Dosengemüse und kann mit allerlei Textfassungen goutiert werden, sei es lustig (»Wenn der Hund mit der Wurst übern Eckstein springt«), militaristisch (»Kameraden haltets euch fest zusamm / wir ziehn hinaus in Gottes Namn«), als Kinderlied (»Mit dem Kopf, mit dem Kopf wackle hin und her«), als »Prenatal music orgel classical lullaby« oder in einer Version des rechten Schlagerstars Heino: »Alles klar, alles klar, alles bleibt wie’s war / ist doch wahr: So wie’s war, war es wunderbar / und man fand noch Zeit und Gelegenheit für die Gemütlichkeit«. Bei Heino findet zusammen, was zusammen gehört: obszöne Weltzustimmungsmusik, Gemütlichkeit, alles wunderbar!8
Denn der Radetzky-Marsch hat eine zutiefst antidemokratische und imperiale Tradition. 1848 begannen in etlichen europäischen Staaten bürgerliche Revolutionen, so auch im März 1848 in Wien: Sozialrevolutionäre stürmten das Ständehaus und verübten Anschläge gegen Läden und Fabriken in den Wiener Vorstädten und trieben letztlich den verhassten Staatskanzler Metternich, die Symbolfigur der Restauration und des reaktionären Überwachungsstaats, ins Exil, und im Mai 1848 musste sogar der Kaiser aus Wien fliehen. Doch nicht nur in der Hauptstadt des Vielvölkerstaats Österreich brodelte es, auch die unter österreichischer Herrschaft stehenden Ländern und Provinzen erlebten heftige Aufstände und revolutionäre Unruhen, ganz besonders das Königreich Böhmen, das Königreich Ungarn und das oberitalienische Königreich Lombardo-Venetien.
Den Revolutionären ging es um bürgerlich-liberale und demokratische Veränderungen und um das Ende der Restauration. Das österreichische Heer wurde sowohl gegen die eigene Bevölkerung als auch gegen die Erhebungen in anderen Regionen eingesetzt: Im Juni 1848 schlugen österreichische Truppen den Prager Pfingstaufstand nieder und am 25. Juli 1848 besiegten sie, angeführt vom bereits 81jährigen Feldmarschall Josef Wenzel Radetzky, die italienischen Truppen bei der Schlacht von Custozza in der Nähe des Gardasees; in der Waffenstillstandsvereinbarung wurde die Lombardei an Österreich abgetreten und dann besetzt.
Ein Jahr später schlug Österreich die revolutionäre Republik von Venedig nieder, wieder unter Führung von Radetzky, der vom Kaiser zum General-, Zivil- und Militärgouverneur von Lombardo-Venetien ernannt wurde. Nach »den Siegen Radetzkys in Italien und nach Bildung des reaktionären Ministeriums« Doblhoff«, aber auch dank der »müden Gleichgültigkeit und jener ewigen Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung« der Wiener Bourgeoisie fühlte sich der kaiserliche Hof stark genug, »dem Ansturm des Volkes zu trotzen« (Friedrich Engels9) und nach Wien zurückzukehren. Dort nahm der Kaiser am 19. August 1848 eine »Truppenschau über die Nationalgarde« ab: »Die kaiserliche Familie, der Hofstaat, die Generalität überboten einander in Schmeicheleien an die Adresse der bewaffneten Bürger, denen der Stolz, sich derart öffentlich als eine der ausschlaggebenden Mächte des Staates anerkannt zu sehen, schon berauschend zu Kopfe gestiegen war« (Engels10).
Und ein paar Tage später, am 31. August 1848, folgte eine große, sozusagen doppelte Siegesfeier, nämlich anlässlich des Sieges der Radetzky-Truppen über Italien und der Rückkehr des Kaisers nach Wien. Dazu komponierte Johann Strauß (Vater) seinen Radetzky-Marsch op. 228, der zu diesem Anlass das erste Mal aufgeführt wurde. Das berühmte Thema (datadám datadám datadám damdám) hatte Strauß bereits in seiner »Jubel-Quadrille« verwendet, es erinnert zudem an das zweite Thema des ersten Satzes von Haydns Sinfonie Nr. 100 in G-Dur, der sogenannten Militärsinfonie. Für das Trio verwendete Strauß das populäre »Tinerl-Lied«, das angeblich die Soldaten bei ihrer Rückkehr von den italienischen Schlachten auf den Wiener Straßen sangen.

Gespielt wird die Naziversion

Der Radetzky-Marsch wurde sofort zu einem riesigen Erfolg in Wien und in Österreich, bereits bei seiner Uraufführung musste er zweimal wiederholt werden. Allerdings trug diese Komposition auch dazu bei, dass Strauß (Vater) als Gefolgsmann des kaiserlichen Regimes in Österreich identifiziert wurde; oppositionelle Studenten in Prag, Olmütz und Deutschland protestierten bei seinen Konzertreisen aus diesen Gründen gegen den Komponisten. Derartige Proteste sind heutzutage nicht mehr zu erwarten, wären allerdings durchaus angebracht, nicht nur, weil der Radetzky-Marsch eben eine imperiale, demokratiefeindliche Konnotation aufweist, sondern vor allem, weil seit jeher weder die erste Orchesterfassung gespielt wird, die kurz nach der Uraufführung von Carl Haslinger gedruckt wurde, noch die vermutliche Originalfassung, die 1999 vom renommierten Strauß-Biographen Norbert Rubey in der Wiener Stadtbibliothek entdeckt und erstmals von Nikolaus Harnoncourt 2001 beim Wiener Neujahrskonzert aufgeführt wurde.
Vielmehr spielen die Wiener Philharmoniker bei ihren Neujahrskonzerten immer noch eine Orchesterfassung des Radetzky-Marschs, die während des Naziregimes vom damaligen Leiter der NSDAP-Kreismusikstelle Leipzig, Leopold Weninger, erstellt wurde. Weninger verstärkte die Instrumentierung, wodurch der Marsch festlicher und zackiger wirkt, und veränderte auch die Melodieführung, etwa durch zusätzliche, verlängerte Triller in den hohen Holzbläsern sowohl im Hauptthema als auch im Trio. Leopold Weninger war ein drittklassiger deutscher Komponist, Arrangeur und Dirigent österreichischer Herkunft, der während der Nazizeit (Weninger trat bereits im Februar 1932 der NSDAP bei) als Komponist systemkonformer Stücke (»Jung-Deutschland. Marsch-Potpourri für großes Orchester« und »Die Fahne hoch« 1933; »Sturmführer-Marsch« sowie die Hitler-Hymne »Gott sei mit unserem Führer« 1934 u. a. m.) und als Arrangeur (»Horst-Wessel-Lied« für Klavier mit Singstimme, »Sieg Heil! 43 SA-Marsch- und Kampflieder« 1933; »Die Sturmabteilung vom Edelweiß. SA-Marsch« 1938 u. a. m.) reüssierte.11
Man darf sich das auf der Zunge zergehen lassen: Da spielen die Wiener Philharmoniker seit fast achtzig Jahren bei ihren von den Nazis begründeten Neujahrskonzerten einen Militärmarsch, der einem reaktionären und antidemokratischen Feldmarschall huldigt, in der Version eines Nazikomponisten – und es ist an keiner Stelle ein kritisches Wort zu hören, eine Reflexion dieser Zustände gar, ganz im Gegenteil, die ganze Welt schaut zu und freut sich an dem »heiteren und besinnlichen« Konzertprogramm.

Ein Antikonzert in Graz

Wie es anders gehen könnte, zeigte der Komponist, Dirigent und Filmemacher Christian von Borries dieses Jahr in Graz bei einer Musikperformance mit dem Titel »Land der Musik – ein Neujahrskonzert« (2018), einer Auftragsarbeit des Steirischen Herbstes.12 Von Borries mischte populäre und unbekannte Musikstücke, die für die nationale Identität Österreichs von entscheidender Bedeutung waren und sind. Die populären Stücke, etwa den Strauß-Walzer »Bei uns zu Haus« oder eben den »Radetzky-Marsch«, führte er in »umgestalteten« Versionen auf: Aus algorithmischem Sampling wurden Neuarrangements der Stücke hergestellt.
Die Künstliche Intelligenz »hört« und analysiert diese Stücke natürlich anders als der Mensch, der die akustischen Informationen selektiert und zum Beispiel die Obertöne weitgehend ausblendet. Die KI-Stücke, die aus dem Sampling neu entstehen, verwenden dagegen die Kompositionen als pures Material – man kann das als entblößt, als reduziert oder als verfremdet empfinden, auf jeden Fall ist die Wirkung der von einem Orchester aufgeführten neuen Partituren verblüffend. Die Musik zum Beispiel der Strauß-Familie ist ihrer Phrasenhaftigkeit und ihres Gebrauchswerts, etwa zugunsten des Standortmarketings oder des Nation-Brandings, enthoben, da stellt sich keine Gemütlichkeit mehr ein, die einst von Goebbels geforderte und bis heute so gern inszenierte »Wiener Geselligkeit« und Walzerseligkeit wird dekonstruiert und erhält eine verstörende Wirkung. Die Heimat ist plötzlich nicht mehr intakt (»in Takt« …) und wird fremd.
Insofern spiegeln diese KI-Versionen der populären Stücke der Strauß-Familie wie auch die neuen KI-Kompositionen natürlich eher die Realität unserer Zeit, die Wirklichkeit im Hegelschen Sinn (nur das Bestehende, das seinem Begriff entspricht, ist wirklich) wider als das ganze plüschige Event, das Jahr für Jahr aus dem Wiener Musikverein übertragen wird. Und dass von Borries bei seinem Grazer Anti-Neujahrskonzert Musik aufgeführt hat, die genau zu der Zeit komponiert wurde, als auf Veranlassung Goebbels’ das Wiener Neujahrskonzert aus der Taufe gehoben wurde, gab dem Konzert eine ganz besondere Note: Da wurde Erich Wolfgang Korngolds Filmmusik zu »Robin Hood« aufgeführt (Korngold musste vor den Nazis in die USA flüchten), und der erste und der vierte Satz der großartigen, »wahnsinnigen« (von Borries) Fünften Sinfonie von Erwin Schulhoff aus dem Jahr 1938 erlebten ihre, man glaubt es kaum, österreichische Erstaufführung.
Schulhoff ist heute weitgehend vergessen. In den 1920er und 1930er Jahren war er einer der führenden Komponisten, verkehrte mit George Grosz und in der Dada-Bewegung, setzte sich in Wien als Konzertveranstalter und Pianist vehement für die Wiener Schule ein, interessierte sich jedoch für Jazz ebenso sehr wie für die Avantgarde, wovon sein heute bekanntestes Werk, die »Hot-Sonate«, Zeugnis ablegt. 1932 vertonte Schulhoff das »Manifest der Kommunistischen Partei« in Form einer Kantate. Von den Nazis wurden seine Werke als »entartete Musik« verboten, und Schulhoff schlug sich unter Pseudonym als Jazzpianist durch. Im Mai 1941 erhielt er die sowjetische Staatsbürgerschaft und im Monat darauf endlich gültige Einreisepapiere in die Sowjetunion; doch durch Hitlers Kriegserklärung gegenüber der Sowjetunion konnte Schulhoff nicht mehr ausreisen, sondern wurde in Prag verhaftet und in das KZ Wülzburg deportiert, wo er 1942 an Tuberkulose starb. Wie in vielen Fällen von Komponisten »entarteter Musik« blieb auch das Werk Erwin Schulhoffs nach dem Ende des Naziregimes vergessen und weitgehend unaufgeführt – das Naziverdikt hat eine traurige Langzeitwirkung.
Der ORF übrigens, der für sein Radioprogramm Ö1 eine Live-Sendung von »Land der Musik – ein Neujahrskonzert« angekündigt hatte, beendete die Übertragung noch vor der Aufführung der KI-Version des Radetzky-Marschs; das wird der Naziversion beim Wiener Neujahrskonzert unter dem deutschen Dirigenten Thielemann mit ganz sicher nicht passieren …
Anmerkungen
1 Fritz Trümpi: Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus, Wien 2011
2 Ebd., S. 119
3 Die Wiener Philharmoniker setzen sich seit jeher aus Mitgliedern des Wiener Staatsopernorchesters zusammen; nach den bis heute gültigen Statuten kann nur ein Mitglied des Orchesters der Wiener Staatsoper Mitglied bei den Wiener Philharmonikern werden.
4 Bernadette Mayrhofer/Fritz Trümpi: Orchestrierte Vertreibung. ­Unerwünschte
Wiener Philharmoniker – Verfolgung, Ermordung und Exil, Wien 2014
5 Trümpi, a. a. O., S. 136 f.
6 Ebd., S. 258
7 W. Bertl in Neuigkeits-Welt-Blatt vom 3. Januar 1940, in: Oliver Rathkolb: Vom Johann-Strauß-Konzert 1939 zum Neujahrskonzert 1946, www.wienerphilharmoniker.at, zuletzt abgerufen am 21.12.2018
8 Ich habe eine kleine Spotify-Playlist zum Radetzky-Marsch zusammengestellt: Beginnend mit der 2001 uraufgeführten Originalversion, dann etliche Varianten der NS-Bearbeitung aus den Wiener Neujahrskonzerten (Krauss, Boskovsky, Karajan, Bernstein, Kleiber etc.), Militärversionen, Schlager, House, Techno, Oktoberfestmusik und natürlich Heino: http://t1p.de/iogz
9 Friedrich Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland. In: Marx/Engels: Werke Bd. 8, Berlin 1988, S. 63
10 Ebd., S. 63
11 Fred K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945. Erste Version, 11/2004
12 Den kompletten Mitschnitt der Grazer Aufführung von »Land der Musik – ein Neujahrskonzert (2018)« von Christian von Borries kann man hier hören (die KI-Version des Radetzky-Marschs bei 24:45 Minuten): http://t1p.de/536b
Das Stück »AI Strauss« mit den beim Steirischen Herbst eingespielten Filmausschnitten kann man hier sehen: http://t1p.de/yt25
Im Februar 2019 werden Ausschnitte des Programms als LP unter dem Titel »land der musik« – the graz AI score erscheinen.

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