Mittwoch, 24. Juni 2015

Dollaks. Eine Familiengeschichte (Erhard Weinholz)

Unter meinen sechs, sieben Handtüchern gibt es ein blau-weißes Frotteetuch, das nicht viel taugt: Sein Flor ist kratzig, als sei er kalkverkrustet. Aber mir gefällt sein bestickter Aufhänger; in einer längst aus der Mode gekommenen Zierschrift steht dort schwarz auf weißem Grund der Markenname Pinguin. Meine Mutter hat es mir einst überlassen, es stammte aus dem Nachlaß einer Nachbarin, Fräulein Dollak. Fräulein, gesprochen Frollein, so sagte man ja früher und noch bis in die achtziger Jahre hinein zu unverheirateten Frauen, selbst wenn sie das übliche Heiratsalter längst überschritten hatten. Daß es eine Herabsetzung bedeutete, wurde mir erst später bewußt. Die Dollaks waren Kriegs- oder Nachkriegsflüchtlinge, ihr Deutsch hatte einen harten Klang. Kamen sie aus Böhmen? Oder aus Schlesien? Wir wußten wenig von ihnen. Gewohnt haben sie bei uns in Wiesenburg im Dachgeschoß der alten Schule, am oberen Ende einer Zeile teils ein-, teils zweistöckiger Häuser, die in Form eines L dem Schloß vorgelagert ist. Auf diesem Schloß, seinerzeit als Russisch-Spezialschule genutzt, war Herr Dollak als Hausmeister tätig – ein großer, hagerer Mann, der stets im blauen Arbeitsanzug herumlief und dessen Zornesausbrüche wir als Kinder gefürchtet und hinterher belacht haben. An seine Frau, klein und unscheinbar, kann ich mich kaum erinnern. War sie dort als Reinigungskraft angestellt? Auf alle Fälle arbeitete auch Fräulein Dollak, dem Anschein nach das einzige Kind der beiden, an dieser Internatsschule, und zwar als Küchenhilfe. Wie ihr Vater war sie groß und hager, dabei nicht unschön; wie die Eltern sprach sie den Dialekt der Heimat. Doch sie sprach wenig. Steifbeinig, leicht nach vorn gebeugt, den Blick gesenkt, eilte sie gelegentlich über den kopfsteingepflasterten großen Hof zwischen unseren Häusern und dem Schloß. Verwandte schienen die Dollaks nicht zu haben, jedenfalls kam nie jemand zu Besuch, und sie hatten auch keine Bekannten oder Freunde gar im Ort, weder die Eltern noch die Tochter. Aber an irgendein Wesen muß der Mensch sein Herz wohl hängen. Bei Fräulein Dollak waren es die Hühner, die die Familie hielt. Nicht ganz so gehemmt wie sonst, manchmal fast schon heiter wirkte sie, wenn sie für sie sorgte. Morgens ließ sie sie ins Freie, abends lockte sie sie mit leisen Rufen in die Scheune zurück. Eines war ihr Lieblingshuhn. Sie nahm es gern auf den Arm – Hühner können sehr zutraulich werden – und redete mit ihm. Doch ihr Vater beschloß, auch dieses Huhn zu schlachten. Es wurde mit einiger Mühe gefangen, und dann köpfte er es. Tagelang lief die Tochter mit verweinten Augen umher. Kinder aus der Nachbarschaft verspotteten sie. Nur dieses eine Mal hat sie sich meines Wissens bemerkbar gemacht. War es in den Sechzigern noch? Oder erst in den Siebzigern? Ihre Eltern starben irgendwann, sie selbst ging in Rente. Die Wohnung behielt sie. Einige Male lud meine Mutter sie zum Kaffee ein, aber sie kam mit der schüchternen, an kaum etwas interessierten Frau nicht ins Gespräch. In ihrer Einsamkeit wurde sie von Ängsten verfolgt. Man brachte sie in die Psychiatrie; eine Rückkehr war nicht zu erwarten, ihr Haushalt wurde aufgelöst. Vielleicht hat sie ja, sagte meine Mutter später, auf der Flucht viel Schlimmes erlebt. Als mir jetzt, beim Schreiben, dieser Satz in Erinnerung kam, wurde mir deutlich, daß wir in unserer Familie zu DDR-Zeiten über dergleichen nie gesprochen haben. Wie alt war Fräulein Dollak bei Kriegsende eigentlich gewesen? Zwanzig? Oder Dreißig schon? Aber das war zu der Zeit wohl nicht so wichtig. Wie nahe und bedrängend das in jenen Tagen Erlebte sein konnte, haben wir in unserer Jugend nicht wirklich verstanden. Denn fünfundzwanzig Jahre, das war für uns noch eine halbe Ewigkeit. Und was alles einem damals zustoßen konnte, haben wir kaum geahnt. Fünfundzwanzig Jahre, das ist auch die Zeit, nach der Gräber meist eingeebnet werden. Als ich zuletzt in Wiesenburg war, habe ich auf dem Friedhof nach denen der Dollaks gesucht. Es war nichts zu finden. Zuvor war ich am Haus meiner Eltern vorbeigekommen. Fünfzig Jahre hatten sie hier am Schloß gewohnt. Der Nußbaum, den mein Vater vor dem Haus gepflanzt hat, ein mickriges Ding anfangs, dem gleich im ersten Jahr in einer frostigen Frühjahrsnacht der Haupttrieb erfroren war, ist längst über den Dachfirst hinausgewachsen. Schön war es, im Sommer in seinem Schatten zu sitzen und gemeinsam Tee zu trinken. Eine Weile noch bin ich im Ort herumgewandert. Niemand auf der Straße war mir bekannt, niemand grüßte mich. An die Dollaks wird wahrscheinlich erst recht niemand mehr denken. Auch ich tue es fast nur, wenn wieder einmal dieses blau-weiße Handtuch an der Reihe

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