Mittwoch, 19. April 2017

Brexitannien im Scheidungsverfahren (Johann-Günther König)


Am 29. März – kurz nach den ziemlich gedämpften EU-Feiern zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge – gab Premierministerin Theresa May den Austritt »gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union« offiziell bekannt. Einen Fahrplan für die Verhandlungen hat der jüngst zum Unwillen der polnischen Regierung wiedergewählte EU-Ratspräsident Donald Tusk bereits vorgelegt. Diese »Guidelines« – ohne die englische Sprache geht es bezeichnenderweise nicht – werden nun von den verbliebenen 27 Mitgliedstaaten geprüft. Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich werden die Scheidungsverhandlungen sicherlich nicht beginnen; vermutlich im späten Mai. Wann die Verhandlungen enden werden, ist eine Frage für sich. Gemäß Artikel 50 müssen sie nach zwei Jahren abgeschlossen sein, also am 29. März 2019. Und das heißt, das Verhandlungsergebnis müsste schon im Herbst 2018 feststehen, weil der Ratifizierungsprozess durch die 27 Mitgliedstaaten seine Zeit braucht. Prinzipiell kann der EU-Rat übrigens eine Verlängerung beschließen – allerdings nur einstimmig. Kurz: Nichts Genaues weiß man nicht.

Die britischen Verhandlungsziele sind in einem »Weißbuch« niedergelegt. Brexitannien will den Binnenmarkt verlassen, wenn die EU an den zugrundeliegenden vier Freiheiten festhält und zumal an der unionseuropäischen Rechtsprechung nicht rütteln lassen will. London will darüber hinaus die mit der Zollunion verbundenen Verpflichtungen dahin gehend aufgeweicht wissen, dass der Abschluss eigener bilateraler Handelsverträge möglich wird beziehungsweise ein separater, gleichwertiger Handelsvertrag mit der EU zustande kommt. Und wenn es – wie von vielen Beobachtern erwartet – in den Verhandlungen hakt oder knallt? Die Schwergewichte unter den britischen Regierungsmitgliedern – Brexit-Minister David Davies, Außenminister Boris Johnson und Premierministerin May – werden nicht müde zu tönen, dann wäre es völlig okay, die EU ohne einen »Deal« zu verlassen. Nur wie soll das gehen? Die Generaldirektionen der EU-Kommission spielen jedenfalls bereits die Folgen einer ungeregelten Scheidung durch.

Der konservative Ex-Premier John Major ließ seine Landsleute vorsichtshalber am 19. März in der auflagenstarken Mail on Sunday wissen, dass bei einem Scheitern der Verhandlungen oder dem Rückfall unter die Zollsätze der Welthandelsorganisation (WTO) »90 Prozent der britischen Exporte in die EU viel teurer werden würden, mit zusätzlichen Kosten von sechs Milliarden Pfund Sterling« sei zu rechnen. Auch betonte er: »Es war unehrlich und falsch, dem Volk einen leicht herbeiführbaren und vorteilhaften Deal mit der EU zu versprechen, es war falsch, schnell erreichbare neue Handelsverträge in Aussicht zu stellen, und falsch zu meinen, der Friedensprozess in Irland würde vom Brexit nicht tangiert werden.« (Eig. Übers.)

Ein womöglich sprenggewaltiges Problem für sich sind die mit dem Brexit auf die Briten zukommenden zusätzlichen Rechnungen der EU-Kommission. Über sie ist die Bevölkerung noch nicht angemessen ins Bild gesetzt. In der Regierung kursiert das Papier eines britischen Thinktanks, in dem die einzelnen Forderungsposten realistisch durchgerechnet sind. Der größte betrifft die bereits verbindlich eingegangenen Verpflichtungserklärungen für EU-Projekte; im Falle des Königreichs belaufen sie sich – mit dem Britenrabatt – auf 29 Milliarden Euro. Hinzu kommen die Pensionsverpflichtungen (7,7 Milliarden Euro), die Kosten für mehrere laufende Fonds (rund 20 Milliarden Euro), für diverse kleinere Projekte und Programme (1,6 Milliarden Euro), für Kreditgarantien et cetera. Unter dem Strich dürfte mindestens eine Summe von 58 Milliarden Euro stehen, die London begleichen muss (wobei die Frage, was denn passiert, wenn die Regierung von Theresa May die Zahlung verweigert, schon deshalb interessant ist, weil es keinen »Gerichtsvollzieher« gibt, der das Geld einkassieren könnte).

Zu einer Scheidung gehört neben der Gütertrennung und den Unterhaltspflichten auch die – in diesem historisch ungewöhnlichen Fall –Auseinanderzerrung von gut 20.000 gesetzlichen Regelungen. Ob die von May avisierte »Lösung«, den Rechtstransfer vom EU-Recht in originär britisches Recht quasi in einem Aufwasch durch einen »Great Repeal Bill« zu regeln, funktionieren kann, bezweifeln Experten. Von mindestens 15 separaten und komplexen Gesetzgebungsverfahren ist die Rede, verbundenen mit parlamentarischen Debatten und Abstimmungen, die den politischen Prozess erheblich prägen dürften. Ein ungeahnter Kraftakt steht der britischen Politik bevor, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass viele andere wichtige Politikfelder, wie etwa das darbende Gesundheitssystem (National Health Service – NHS), in den Schatten geraten werden. Und das, obwohl ein längst schamlos gebrochenes Versprechen der Brexiteers bei der Kampagne vor einem Jahr lautete, das für den Haushalt in Brüssel eingesparte Geld würde dem NHS zugutekommen …

Enden die Scheidungsverhandlungen in einem Scherbenhaufen? Entscheidend ist, dass sie nicht den Blick auf das verstellen, was gegenwärtig eigentlich alle politischen Kräfte bündeln sollte. Stephen Hawking, der bis 2009 die renommierte Professur des Lucasischen Lehrstuhls für Mathematik an der Universität Cambridge innehatte, verwies im Januar 2017 in einem Artikel für den Guardian unter anderem darauf: »Als theoretischer Physiker habe ich Zeit meines Lebens in Cambridge in einer überaus privilegierten Blase gelebt. […] Damit gehöre auch ich zu der Elite, die in letzter Zeit sowohl in den USA als auch in Großbritannien so schwer unter Beschuss geraten ist.« Hawking hatte vor dem Referendum postuliert, der Brexit würde »der wissenschaftlichen Forschung in Großbritannien schaden und der Austritt einen Rückschritt bedeuten«. Nun betont der bedeutende Astrophysiker: »Weit wichtiger als die Entscheidung dieser beiden Wählerschaften ist jetzt allerdings, wie die Eliten darauf reagieren. […] Wir stehen vor gewaltigen und überaus beunruhigenden Umweltproblemen: Klimawandel, Lebensmittelsicherheit, Überbevölkerung, Rückgang der Artenvielfalt, Epidemien, Übersäuerung der Meere. All diese Phänomene zeigen uns, dass wir gerade am gefährlichsten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte stehen.« Stephen Hawking ruft dazu auf, unsere Erde zu bewahren und fordert: »Dazu müssen wir die Schranken innerhalb und zwischen den Nationen abbauen und nicht noch verstärken. Wenn wir uns die letzte Chance bewahren wollen, bleibt den führenden Entscheidungsträgern dieser Welt nichts anderes übrig, als anzuerkennen, dass sie versagt und die Mehrheit der Menschen im Stich gelassen haben. Die Ressourcen konzentrieren sich immer mehr in den Händen weniger, weshalb wir lernen müssen, weit mehr als bisher zu teilen. Da nicht nur Arbeitsplätze, sondern ganze Industriezweige verschwinden, sind wir verpflichtet, den Menschen zu helfen, sich für eine neue Welt weiterzubilden, und sie während dieser Zeit finanziell zu unterstützen. Wenn das gegenwärtige Ausmaß der Migration für die Gemeinschaften und Volkswirtschaften nicht zu bewältigen ist, müssen wir mehr für eine globale Wirtschaftsentwicklung tun. Denn das ist die einzige Möglichkeit, die Millionen Auswanderungswilligen zu überzeugen, sich in ihren Heimatländern eine Zukunft aufzubauen. […] Die Eliten – von London bis Harvard, von Cambridge bis Hollywood – sollten aus den vergangenen Monaten ihre Lehren ziehen. Vor allem müssen sie sich ein gewisses Maß an Demut und Bescheidenheit aneignen.« (Zit. n. d. Übers. in: Internationale Politik und Gesellschaft, 6.1.2017)
Demut und Bescheidenheit – die Beteiligten im EU-Scheidungsverfahren haben diese zwei Eigenschaften hoffentlich schon verinnerlicht.

Von Johann-Günther König gerade neu erschienen: »Fahrradfahren. Von der Draisine bis zum E-Bike«, Reclam Verlag, 235 Seiten, 19 €.

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