Ein Vortrag vor großem Publikum? Nein, ein Theaterstück, das wie im Auditorium beginnt. Im Hamburger Schauspielhaus die Theaterfassung von Christoph Heins Roman »Trutz«. Die Bühne: zwei hohe Bretterwände, auf die manchmal Dokumente eingespielt werden. Alles karg, ein Kleiderständer, Stühle. Der Regisseur Dušan David Pařízek lässt das Stück ähnlich beginnen wie den Roman. Eine stellvertretende Direktorin des Bundesarchivs spricht über deutsch-russische Verhältnisse im vorigen Jahrhundert. Titel: »Feindliche Freunde«. Die Ausführungen werden bald unterbrochen von erregtem Protest aus dem Zuschauerraum. Der Überfall auf die Sowjetunion sei nicht als defensiver Akt Hitlers anzusehen – wie hier behauptet –, nur um einer Offensive Stalins zuvorzukommen. Der Protestierer klettert mühsam auf die Bühne. Inzwischen hat sich der Vortragende in eine Frau im Kostüm verwandelt. Das hier sei ein Standardwerk der Geschichte, darauf pocht die Referentin. Der Störer kennt sich aus, weist auf Seite 432 hin, nennt weitere Einzelheiten, die er im Kopf hat. Noch einmal Protest hinten im Parkett. Auch dieser Rufer findet sich oben ein. Eine Mitarbeiterin mit Dokumenten kommt dazu. Schon haben wir die vier Akteure: Sarah Franke, Henning Hartmann, Markus John, Ernst Stötzner, die alle Personen des Stücks darstellen, auch mal eine, aufgeteilt in drei. Verwirrend. Wer den Roman nicht gelesen hat, dem geht vieles verloren. Ein Buch, das ein ganzes Jahrhundert umspannt, die Anfänge der Nazidiktatur hierzulande, der Stalinismus in der Sowjetunion und schließlich die DDR und das, was nach ihrer Beendigung hereinbrach. Ein Stück zum Hören, was manchmal kaum in den vorderen Reihen gelingt.
Slapstick-Szenen zum Auflockern der Grausamkeiten, die nur angedeutet werden. Eine Geburt ist das komische Highlight: Wie der grauhaarige Stötzner unter den Beinen der Mutter durchrutscht, er fast nackt, sie hat immer noch ihren Bauch. Alle tragen Pelzmützen (in Moskau), wohl unverzichtbar. Und wenn sie ausgerüstet werden für das, was sie in der Sowjetunion erwartet, bekommen alle als Geschenk rosa Brillen.
Im Mittelpunkt zwei Familien: eine deutsche in Berlin, die nach Moskau emigriert – ihr Sohn Maykl wird erst dort geboren. Und eine russische, deren gleichaltriger Sohn Rem genannt wird nach: Revolution, Einigkeit, Marxismus. Dessen Vater ist Waldemar Gejm, Professor für Mnemonik, der Wissenschaft des Erinnerns. Er gründet eine Gruppe, die sich dieser Lehre widmet. Vor allem unterrichtet er die beiden Jungen darin.
Rainer Trutz, in einem norddeutschen Dorf geboren, kam nach Berlin, um dort Schriftsteller zu werden – tatsächlich erscheinen zwei Romane, einer eher frivol, der andere beschreibt das Klima in einer Kleinstadt, das zum Nährboden für die Nazis wird. Eine lobende Kritik in der Weltbühne macht ihn glücklich. Was im Stahlhelm steht, nimmt er nicht wahr. Rainer wurde vor einer Piscator-Aufführung niedergeschlagen, sein Zimmer verwüstet, die Manuskripte zerrissen. Seine Frau Gudrun nennt ihn naiv. Er schreibt für den Berliner Lokal Anzeiger. Sein Traum ist die Weltbühne. Und so bedeutet es für ihn eine Ehre, als er den Auftrag bekommt, ein Buch zu besprechen über die Reise von zwölf bekannten deutschen Autoren durch die Sowjetunion. Allerdings – ihn irritieren die Lobeshymnen. Er zieht sich aus der Affäre, indem er seiner Rezension einen leicht ironischen Ton gibt und Fragen an die Autoren stellt. Im Hintergrund an der Wand der Artikel – wie es scheint – im Faksimile. Aber es ist, im Gegensatz zu den anderen Einblendungen, ein Fake. Wichtig? Nein. Aber später wird dieser kurze Text Rainer Trutz nach Workuta bringen.
Trutz wurde in Moskau beim U-Bahn-Bau eingesetzt – denn, als »progressiver deutscher Schriftsteller ohne Parteizugehörigkeit« kann er in dem von Emigranten-Journalisten nur so wimmelnden Moskau nichts anderes erwarten als diese extrem schwere Arbeit. Als Deutschland die Sowjetunion überfällt, ändert sich alles. Nun sind die Emigranten Feinde.
Der rote Stuhl, der den ganzen Abend lang wie ein Menetekel an der Wand hängt, wird zur Richtstatt, auf der Rainer Trutz sitzt, liegt, schwankt – wie aus der Welt gefallen, ohne Boden unter den Füßen. Seine Maske signalisiert: Er ist kein Mensch mehr. Von ganz oben das Urteil zur Zwangsarbeit. Grund: der Artikel in der Weltbühne, in dem er »für die bourgeoise Leserschaft dieser deutschen Hetzzeitschrift in höhnischer und bösartigster Weise die Aufbauerfolge der Sowjetunion zu einer Karikatur verzerrt« habe. Und Stalin diffamiert. Trutz verschwindet, auch sein Name, ohne Spuren zu hinterlassen. Seine Frau Gudrun erleidet später ein ähnliches Schicksal. Der Sohn Maykl kommt in Moskau in ein Waisenhaus. Dann studiert er in Leipzig. Nicht Geschichte: Er hat zwar ein glänzendes Gedächtnis, wird ihm bestätigt – aber in die FDJ will er nicht. So landet er im Archiv in Potsdam.
Bei seiner Arbeit entdeckt er Akten, die belegen, dass ein Ernst Großmann, Mitglied des Zentralkomitees der Partei und des Erfurter Bezirksrates, früher NSDAP-Mitglied war und der SS angehörte. Der Fund ist verhängnisvoll, denn ausgerechnet zu dieser Zeit ist in Westberlin eine Broschüre erschienen: »Ehemalige Nationalsozialisten in Pankows Diensten«. Auch Großmann kommt vor. Die Broschüre stammt vom »Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen«. Kein Wunder, dass Trutz der Weitergabe von Dokumenten beschuldigt wird, ein schweres Dienstvergehen. Nur er kannte diese Akten. Etwas rettet ihn: sein Gedächtnis. Er kann beweisen, dass es verschiedene Unterschriften gibt, einmal haben drei, im anderen Dokument zwei Personen unterschrieben. Das hat er alles im Kopf – zum großen Erstaunen der sächselnden Dame, die ihn befragt. Aber er muss aus Potsdam verschwinden nach Weimar, in ein weniger »zeitnahes« Archiv, zu Goethe und Schiller. Auch dort kann er nicht bleiben. Er landet schließlich im unbedeutenden Wittenberge. Sein Gedächtnis hilft ihm nicht. »Heutzutage ist Amnesie bei Archivaren angesagt«, heißt es einmal.
Am Schluss erklingt der alte Operetten-Schlager, der immer mal wieder zu hören war: »Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.« Jetzt singt es die Ehefrau Sandra, die sich von Maykl trennt, denn: »Ein niemals vergessendes Gedächtnis, das macht Angst.« Maykl und Rem sitzen nebeneinander, trinken Wodka, ohne Hoffnung: »Alle tot …« Im Roman lebt auch Rem nicht mehr, er wurde ermordet. Im Stück taucht ein Alphornbläser mit besticktem Hemd auf. Schweizer Folklore? Oder eine Warnung vor den neuen Rechten, den Identitären? Kurz vorher war vom »Vogelschiss« die Rede. Sonst kein Hinweis auf heute, auf das, was sich anbahnt.
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