IMI-Analyse 2019/39
DG Defence
Dieser Text erschien in gekürzter Fassung unter dem Titel Unbedingt angriffsbereit in der jungen Welt vom 28.11.2019.
Am 1. Dezember 2019 trat die Juncker-Kommission offiziell ab und übergab den Stab an ihren Nachfolger unter der neuen Chefin Ursula von der Leyen. Sie werde einer „geopolitischen Kommission“ vorstehen, schrieb von der Leyen bereits in einem Brief, mit dem sie am 10. September 2019 der designierten EU-Industriekommissarin Sylvie Goulard ihr Einsatzprofil mit auf den Weg gab.[1] Die scheiterte später zwar am Votum des EU-Parlaments, weshalb anschließend fieberhaft ein Nachfolger gesucht und dann mit dem Atos-Mann Thierry Breton auch gefunden wurde. Entscheidend war aber, dass von der Leyen in diesem Brief fast beiläufig fallen ließ, die ehemalige französische Verteidigungsministerin werde in ihrer Arbeit künftig von einer neuen „Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum“ (DG Defence) unterstützt, an deren Spitze sie auch stehen werde. Die Hauptaufgabe der neuen Generaldirektion soll darin bestehen, Widerstände beim Aufbau eines europäischen Rüstungsmarktes zu überwinden. Dafür werden ihr nicht nur Sanktionsmöglichkeiten, sondern auch massive finanzielle Anreize zur Verfügung stehen. Denn in ihren Zuständigkeitsbereich wird unter anderem die Verwaltung der eigens für diesen Zweck neu ausgelobten Milliardenbeträge aus dem künftigen „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) fallen.
Bislang waren europäische Militärfragen nahezu exklusiv die Angelegenheit der im Rat versammelten Staats- und Regierungschefs. Weder die Kommission und noch weniger das Parlament hatten hier groß etwas zu sagen. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn die Einrichtung der DG Defence als sichtbarer Ausdruck und logische Konsequenz des in jüngster Zeit tatsächlich deutlich gewachsenen militärischen Profils der Kommission gewertet wird. Die Tragweite dieses Schrittes zeigt sich, wenn etwa die Regierungsberater der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) sich freuen, nun werde „eine Art Ministerium für europäische Verteidigung und Rüstung“ ins Leben gerufen.[2] Viele Beobachter meinen hier sogar bereits eine schleichende Europäisierung der Militärpolitik und eine damit einhergehende Entmachtung der Nationalstaaten zu erblicken – in der soeben zitierten SWP-Analyse heißt es etwa: „Die Kommission strebt mit ihren aktuellen Initiativen offensichtlich an, den Schwerpunkt der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu verschieben: von einem mitgliedstaatlich zu einem supra-national dominierten Politikfeld.“[3]
Eine solche Einschätzung schießt aber dann doch deutlich über das Ziel hinaus: Weder geht die zunehmende Rolle der Kommission mit erweiterten Kompetenzen des Parlaments einher. Und genauso wenig kann ernsthaft von einer Entmachtung der Mitgliedsstaaten die Rede sein. Denn die Staats- und Regierungschefs haben bei der Architektur der neuen Rüstungstöpfe sorgfältig darauf geachtet, dass sie weiterhin die Rüstungszügel in der Hand behalten.
1. Rüstungsmarkt – Rüstungspaket – Rüstungsplan
Der Rüstungsbereich war lange die letzte Bastion des Protektionismus – er unterlag faktisch nicht den Regeln des Binnenmarktes. Dies hatte zur Folge, dass Aufträge nicht europaweit ausgeschrieben und an den „besten“, sprich marktbeherrschenden Bieter vergeben werden mussten. Ermöglicht wurde dies, indem sich die Staaten auf Artikel 346 des „Vertrags über die Arbeitsweise der EU“ (AEUV) berufen konnten, der es erlaubt, bei Rüstungsaufträgen unter Verweis auf nationale Sicherheitserwägungen zeitweilig die Regeln des Binnenmarktes auszusetzen. Eigentlich als Ausnahme gedacht, nutzten die Staaten diesen Passus, um ihre jeweiligen Rüstungsmärkte permanent vor innereuropäischen Konkurrenten abzuschotten und den gesamten Bereich der Kontrolle und Überwachung der Kommission zu entziehen. Im Ergebnis werden bis heute über 80 Prozent der europäischen Rüstungsaufträge national vergeben.[4]
Schon seit einiger Zeit hat sich die Kommission nun aber auf die Fahnen geschrieben, auch dem Rüstungsbereich zu seinem „Recht“ zu verhelfen, was vor allem im Interesse der großen deutschen und französischen Konzerne liegt. Dabei wird argumentiert, die „Kleinstaaterei“ im Rüstungswesen habe Duplizierungen und niedrige Auftragsmargen zur Folge, die sich durch Konzentrationsprozesse (europaweite Beschaffungsaufträge sowie Fusionen und Übernahmen) vermeiden ließen. Die Schätzungen der Kommission, wie hoch hier die Einsparpotenziale seien, sind dabei durchaus sportlich, wenn etwa der Chef der neuen DG Defence auf Fragen der Parlamentarier im Vorfeld seiner Ernennung angab: „Ich will die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich stärken, sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. Die europäische Verteidigungsindustrie ist hochgradig fragmentiert, weil die Mitgliedsstaaten ihre Verteidigungsbudgets national verausgaben und ihre technischen Anforderungen an das militärische Gerät national definieren. Beispielsweise existieren unter den Mitgliedstaaten 17 unterschiedliche Kampfpanzertypen, während die USA nur über einen verfügen. Dieser Mangel an Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten im Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrien kostet schätzungsweise zwischen 25 Mrd. und 100 Mrd. Euro jedes Jahr.“[5]
Ein erster Kommissionsversuch, die Mitgliedsstaaten zu ihrem Glück in Sachen europaweiter Ausschreibungen zu zwingen, stellte das 2007 vorgelegte Verteidigungspaket dar, das zwei Jahre später verabschiedet wurde. Teil davon ist die rechtlich bindende Beschaffungsrichtlinie, die besagt, dass eine Berufung auf Artikel 346 AEUV künftig nur noch in absoluten Ausnahmefällen möglich sein soll. Bis 2012 musste die Richtlinie in nationale Gesetzgebung überführt werden, allerdings zeigte sich schnell, dass viele Mitgliedsländer dennoch herzlich wenig Neigung verspürten, ihre Rüstungsindustrien dem Wettbewerb mit den großen deutsch-französischen Unternehmen auszusetzen. Folgerichtig gelangte eine erste Evaluation des Verteidigungspaketes im Juni 2015 zu dem Ergebnis, die Mitgliedsstaaten würden die Beschaffungsrichtlinie nur überaus zögerlich anwenden.[6]
Nach dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 kam aber wieder Bewegung in die nahezu festgefahrenen Versuche, einen europäischen Rüstungsmarkt ins Leben zu rufen. Der Grund lag vor allem darin, dass sich Großbritannien von da ab von seiner bisherigen Politik verabschiedete, alle Bestrebungen der Kommission nach Kräften zu torpedieren, mehr Kompetenzen im Rüstungsbereich an Land zu ziehen. Die Kommission ergriff die sich nun bietende Gelegenheit und veröffentlichte im November 2016 einen Verteidigungs-Aktionsplan, in dem sie ihre Ambitionen ungewöhnlich offen formulierte: „Die Kommission ist bereit, sich in einem bisher nicht gekannten Ausmaß in der Verteidigung zu engagieren, um die Mitgliedstaaten zu unterstützen. Sie wird die der EU zur Verfügung stehenden Instrumente einschließlich EU-Finanzierungen und das volle Potenzial der Verträge ausschöpfen mit dem Ziel, eine Verteidigungsunion aufzubauen.“[7]
Der Verteidigungs-Aktionsplan kündigte recht deutlich an, künftig die Umsetzung der Beschaffungsrichtlinie notfalls auch mittels Strafandrohungen durchzusetzen: „Mehr Wettbewerb und eine stärkere Öffnung des Marktes für Verteidigungsgüter in Europa dürften Anbieter dabei unterstützen, Größenvorteile zu erzielen, die Produktionskapazitäten zu optimieren und die Stückkosten zu senken, was den europäischen Produkten weltweit zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen würde. […] Aus den Bewertungen der beiden Richtlinien geht hervor, [dass] ein sehr bedeutender Teil der Beschaffung im Verteidigungsbereich nach wie vor nicht im Rahmen der EU-Vorschriften über das öffentliche Auftragswesen erfolgt. […] Die Kommission richtet ihr Augenmerk auf die effektive Umsetzung der Richtlinie und setzt diese notfalls durch.“[8]
Tatsächlich blieb es nicht bei der bloßen Drohung: Im Zeitraum November 2016 bis Oktober 2019 versendete die Kommission über 40 Aufforderungsschreiben mit der Mahnung, die Bestimmungen der Beschaffungsrichtlinie einzuhalten. Diese Schreiben bilden den Auftakt für formale Vertragsverletzungsverfahren, die zu empfindlichen Strafen führen können. Vor diesem Hintergrund wird es erklärtermaßen eine der Hauptaufgaben der neuen DG Defence sein, hier den Druck weiter hoch zu halten.
2. DG Defence: Anatomie und Aufgaben
Die Gründung der DG Defence kam nicht aus heiterem Himmel, nach Auskunft der von 2014 bis 2019 amtierenden Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska liefen die Vorbereitungen dafür bereits seit 18 Monaten.[9] Schon vor einiger Zeit wurden in anderen Generaldirektionen Abteilungen geschaffen, um die zunehmenden militärischen Aufgaben der Kommission zu managen. Insofern war es naheliegend, diese versprengten Verwaltungseinheiten in einer „Generaldirektion Verteidigung“ zu bündeln, wofür im Vorfeld diverse Optionen diskutiert wurden.
Organisatorisch wurde erwogen, eigens den Posten eines „Rüstungskommissars“ zu schaffen und ihm die neue Generaldirektion zu unterstellen. Entschieden wurde sich dann aber dafür, die neue Behörde dem Industriekommissar anzugliedern. Funktional wurde debattiert, eine „Sicherheits- und Verteidigungsdirektion“ ins Leben zu rufen, der auch alle Fragen der inneren „Sicherheit“ unterstellt worden wären. Alternativ dazu hat nun die Fokussierung auf Verteidigung bzw. Rüstung ergänzt um den Weltraum das Rennen gemacht.
In ihrem Brief vom 10. September hatte Kommissionspräsidentin von der Leyen die Aufgaben und Kompetenzen der DG Defence bereits recht präzise umrissen. Im Wesentlichen soll vor allem das Management einiger erstmals und vor allem auch erstmal in diesem großen Stil ausgelobter europäischer Rüstungsbudgets im kommenden EU-Haushalt 2021 bis 2027 in den Verantwortungsbereich der neuen Generaldirektion fallen. Im Folgenden beziehen sich die genannten Haushaltsgrößen auf die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Zahlen – die können sich in den anstehenden Verhandlungen mit Parlament und Rat zum Mehrjährigen Finanzrahmen, die im Laufe des Jahres 2020 zum Abschluss gebracht werden sollen, zwar noch deutlich ändern, geben aber in jedem Fall einen Einblick, wohin die Kommission steuern will.[10]
Ein großer Brocken wird dabei das Management diverser Weltraumprogramme darstellen, die allesamt von erheblicher militärischer Relevanz sind. Von den im nächsten EU-Haushalt 2021 bis 2027 dafür vorgesehenen 16 Mrd. Euro entfallen allein auf das Satellitennavigationssystem Galileo (9,7 Mrd.) und das Geoinformationssystem Copernicus (5,8 Mrd.) zusammen 15,5 Mrd. Euro. Trotz des zumindest in Teilen eindeutig militärischen Charakters der beiden Weltraumprogramme wird bis heute krampfhaft versucht, sie als vorwiegend zivile Unterfangen zu verkaufen: „Galileo und Copernicus sind zivile Programme unter ziviler Kontrolle und werden dies auch bleiben, auch wenn sie sicherheits- und verteidigungspolitischen Bedürfnissen ebenfalls entsprechen“, so etwa die verbalen Klimmzüge des Chefs der neuen DG Defence, Thierry Breton.[11]
Ein zweiter wichtiger Kompetenzbereich wird die „Militärische Mobilität” zur schnellen Verbringung von Truppen und Gerät – mit Blick auf Russland vor allem nach Osteuropa –umfassen. Hier wird die DG Defence die Verantwortung für die Implementierung des „Aktionsplans Militärische Mobilität“ vom März 2018 haben. Ob sie oder die Generaldirektion Transport und Verkehr (DG MOVE) die hierfür im nächsten EU-Haushalt vorgesehenen 6,5 Mrd. Euro verwalten wird, ist gegenwärtig allerdings noch offen.
Die dritte und wohl wichtigste Aufgabe der DG Defence wird es aber sein, die schon länger anvisierte Herausbildung eines EU-Rüstungsmarktes zu forcieren. Hieran ließ von der Leyen jedenfalls in ihrem „Einsatzbefehl“ vom 10. September wenig Zweifel aufkommen: „Ich möchte Sie bitten, sich auf die Schaffung eines offenen und wettbewerbsorientierten europäischen Rüstungsmarktes zu fokussieren und dafür die EU-Beschaffungsrichtlinen im Verteidigungsbereich durchzusetzen.“[12] Dementsprechend erklärte der Chef der neuen DG Defence, Thierry Breton, unmittelbar vor seinem Amtsantritt, er sehe es als eine seiner Hauptaufgaben an, „nicht davor zurückzuschrecken“ die Regeln des Binnenmarktes durchzusetzen, hierfür wolle er besonders den „Umgang der Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren beschleunigen.“[13]
Gleichzeitig soll aber die Anbahnung europaweiter Beschaffungsprojekte über die Einrichtung eines „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) versüßt werden. Ziel ist es die Mitgliedsländer finanziell dazu zu „ermuntern“, sich auf europaweite Rüstungsvorhaben einzulassen, anstatt weiter ihre verhältnismäßig kleinen nationalen Firmen zu alimentieren: „Um dies zu veranschaulichen: Die Beträge, die die Kommission vorhat zur Finanzierung von Verteidigungsforschung auszugeben, sind größer als die der meisten Mitgliedsstaaten (ausgenommen lediglich Frankreich und Deutschland). Das bedeutet dass sie alle faktisch damit beginnen werden, ihre Forschungs- und Entwicklungspolitik im Verteidigungssektor um den Europäischen Verteidigungsfonds der Kommission herum zu strukturieren.“[14]
Erstmals offiziell angekündigt wurde der EVF ebenfalls im November 2016 im Verteidigungs-Aktionsplan. Im Juni 2018 legte die Kommission dann einen EVF-Verordnungsvorschlag vor, der dann bis Frühjahr 2019 in den Trilog-Verhandlungen mit Rat und Parlament abgestimmt wurde. Für den EVF sind nun im Kommissionsvorschlag für den nächsten EU-Haushalt 2021 bis 2027 insgesamt 13 Mrd. Euro für die Erforschung und Entwicklung von Rüstungsprojekten vorgesehen, sofern sie unter Beteiligung von mindestens drei Ländern und drei Unternehmen durchgeführt werden (durch vorgeschriebene nationale Ko-Finanzierungen kann sich dieser Betrag auf bis zu 48,6 Mrd. Euro summieren).
Die Verwaltung dieses Fonds, wird in wesentlichen Teilen ebenfalls im Verantwortungsbereich der DG Defense und damit des Industriekommissariats liegen. Nachdem mit Sylvie Goulard seine erste Kandidatin für diesen Posten unter anderem wegen Korruptionsvorwürfen und vorangegangener Querelen um die Kommissionspräsidentschaft am Votum des EPs scheiterte, zauberte der französische Präsident Emmanuel Macron danach mit Thierry Breton eine Person aus dem Hut, bei der handfeste Interessenskonflikte ebenfalls bereits vorprogrammiert sind.
Denn von den EVF-Geldern sind mindestens vier und bis zu acht Prozent für „disruptive Verteidigungstechnologien“ vorgesehen. Dabei handelt es sich um Technologien, von denen man sich radikale Veränderung von Theorie und Praxis der Kriegsführung verspricht. Führend bei derlei Technologien sind in der Regel rüstungsnahe IT-Unternehmen wie Atos, das für die französische Armee etwa das „Bull Battle Management System“ zur Automatisierung der Kriegstaktik entwickelt hat. Atos ist auch der führende Cloud-Dienstleister der Bundeswehr und betreut damit die Schnittstelle über die eine Verbindung von Kräften im Feld mit künftigen autonomen Systemen erfolgen wird.[15]
Nachdem er zuvor unter anderem ein hohes Tier bei Thomson war, aus der später der Rüstungsgroßkonzern Thales hervorging, war Thierry Breton bis zu seiner Nominierung zum Industriekommissar Chef von Atos, wodurch sich Interessenskonflikte wohl kaum vermeiden lassen werden. Schließlich war Breton damit Chef eines Unternehmens, das zu den führenden Profiteuren der von ihm verwalteten Gelder zählen könnte. Dem zuletzt auf 34 Mio. Euro bezifferten Wert seiner Atos-Aktien hat seine Ernennung jedenfalls nicht geschadet, nachdem er sie kurz darauf abgestoßen hatte.
Aus seiner Affinität für die Digitalisierung des Krieges machte Breton in seinen Antworten auf die Fragen der EU-Parlamentarier jedenfalls ebenso wenig ein Hehl wie aus seinem Herz für Unternehmen der IT-Branche: „Ich möchte die disruptive Innovationsdimension des EVF entwickeln und sicherstellen, dass das vorgesehene Budget (zwischen vier und acht Prozent) einen wirklichen Einfluss hat, Unternehmen außerhalb des Verteidigungssektors, Start-ups und Existenzgründer anzuziehen, um dadurch die europäische Führung bei strategischen technischen Lösungen sicherzustellen.“[16] Als Beispiel nannte er etwa Quantencomputer, wo es gelte sich an „vorderster Front“ zu positionieren, indem nicht nur Technologien für die „zivile Anwendung“ entwickelt würden, sondern „genauso für ihre Einführung in den Weltraum- und Verteidigungsbereich.“[17]
3. Pseudoeuropäisierung
Eine erste Frage, die sich mit Blick auf den EVF aufdrängt, lautet, weshalb sich die Staats- und Regierungschefs überhaupt darauf eingelassen haben, der Kommission gewisse Spielräume zu ermöglichen. Die Antwort ist simpel: wegen dem Geld. Denn es liegt auf der Hand, dass der üppige EU-Haushalt Begehrlichkeiten weckt, ihn auch für allerlei militärische Zwecke nutzbar zu machen. Die bestimmte Form, in der dies nun geschieht, unter der Ägide des Industriekommissars, ist wiederum der Rechtslage geschuldet, dass militärische Maßnahmen aufgrund von Artikel 41(2) des EU-Vertrags – eigentlich – nicht aus dem EU-Haushalt bezahlt werden dürfen. Um dieses Verbot zu umschiffen, greift die Kommission auf den rechtlich überaus fragwürdigen Trick zurück, die EVF-Gelder als Maßnahmen zur Wettbewerbsförderung zu deklarieren und sie auf dieser Grundlage dem Industriekommissariat zuzuordnen.[18]
Um mit Blick auf die Einrichtung des EVF und der Generaldirektion Verteidigung aber von Quantensprüngen bei der Europäisierung der Militärpolitik sprechen zu können, müsste die Aufwertung der Kommission auch von mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament begleitet werden – doch genau dies ist nur sehr begrenzt der Fall. Denn in einem bemerkenswerten Akt der Selbstentmachtung stimmte das EU-Parlament in den Trilog-Verhandlungen mit Kommission und Rat im Frühjahr 2019 mehrheitlich einem „Kompromiss“ zur EVF-Verordnung zu, durch den es lediglich ex-post Informationen ohne jegliche Einflussmöglichkeiten erhält. Wörtlich heißt es darin: „Die Kommission sollte regelmäßig die Durchführung des Fonds überwachen und jährlich über die erzielten Fortschritte Bericht erstatten […]. Zu diesem Zweck sollte die Kommission die erforderlichen Überwachungsmaßnahmen einrichten. Dieser Bericht sollte dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt werden und keine vertraulichen Informationen enthalten.“[19]
Dementsprechend kam auch eine vom EU-Parlament in Auftrag gegebene Studie zu dem Ergebnis, im Verordnungsvorschlag der Kommission „scheint es keine klare Rolle für das Europäische und auch nicht für die nationalen Parlamente zu geben.“[20] Auch Breton gab den EU-Parlamentariern auf ihre Fragen hin freundlich aber bestimmt zu verstehen, dass er gerne gewillt ist, sie im Nachhinein über seine Arbeit zu informieren, er aber nicht gedenkt, sich dabei von ihnen hineinreden zu lassen: „Ich werde das Europäische Parlament regelmäßig sowohl über die jährlichen Prioritäten als auch über die langfristiges strategische Planung des EVF unterrichten.“[21]
Doch auch die Kommission wird keineswegs im Alleingang über die EVF-Gelder verfügen können: Denn der Fonds und die von ihm finanzierten Projekte sollen über Arbeitsprogramme gesteuert werden, die auch von den im Rat versammelten Staaten abgesegnet werden müssen. Damit haben sichdie Mitgliedsstaaten faktisch ein Vetorecht in Sachen EVF-Projekte gesichert. Dass die EVF-Gelder auch noch bevorzugt an Projekte der auf Ebene der Mitgliedsstaaten angesiedelten „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (engl. „PESCO“) fließen sollen, erhöht deren Einfluss nur noch weiter. Vor diesem Hintergrund warnte kürzlich der ehemalige Chef der EU-Verteidigungsagentur, Nick Witney, die Kommission davor, sie solle sich ihre neuen Kompetenzen nicht zu Kopf steigen lassen. Im Prinzip habe sich nichts geändert, alle wesentlichen Entscheidungen in Sachen EU-Militärpolitik würden weiter beim Rat liegen, weshalb die Kommission sich dementsprechend nach dessen Präferenzen zu richten habe.[22]
Mit anderen Worten: Rüstungsfragen bleiben weiter im Wesentlichen Sache der (großen) Mitgliedsstaaten. Dabei sind es vor allem Deutschland und Frankreich, die sich ungeachtet gelegentlicher Streitereien im Detail völlig einig darin zu sein scheinen, den Ausbau des EU-Militärapparates voranzutreiben. Mit der Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum wurde nun eine wichtige institutionelle Voraussetzung geschaffen, um dieses Ziel umzusetzen.
[1] Leyen, Ursula von der: Commissioner-designate for Internal Market. Mission Letter, Brüssel, 10.9.2019. Derselbe „Mission letter“ wurde dann später auch Thierry Breton, der dann schlussendlich Industriekommissar werden sollte, am 7. November 2019 zugesendet.
[2] Becker, Peter/ Kempin, Ronja: Die EU-Kommission als sicherheits- und verteidigungspolitische Akteurin, SWP-Aktuell A34, Juni 2019, S. 6.
[3] Ebd., S. 5.
[4] Laut European Defence Agency: Defence Data 2017-2018, S. 9 waren im Jahr 2018 lediglich 17,8 Prozent aller Rüstungsprogramme länderübergreifend.
[5] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, Commissioner-designate for the Internal Market, 13.11.2019, S. 20. Diese Zahlen kursieren bereits länger: „Die fehlende Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen kostet Europa alljährlich zwischen 25 Mrd. und 100 Mrd. EUR – je nach Bereich. Gelder, die wir anders so viel besser einsetzen könnten.“ (Juncker, Jean-Claude: Rede zur Lage der Europäischen Union, Brüssel, 14.9.2016)
[6] The impact of the ‚defence package‘ Directives on European defence, DGEXPO, Juni 2015.
[7] Mitteilung der Kommission: Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan, Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 950), S. 23. Auch ein zweiter am selben Tag veröffentlichten Kommissionsbericht zur Evaluation der Beschaffungsrichtlinie gelangte zu dem Ergebnis, die Mitgliedsstaaten würden die Beschaffungsrichtlinie nur zögerlich umsetzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, kündigte die Kommission an, nun Vertragsverletzungsverfahren gegen renitente Staaten einzuleiten, die im Extremfall zu empfindlichen Strafen führen können: „Bei schwerwiegenden Verstößen gegen EU-Recht in Bezug auf konkrete Auftragsvergaben für Verteidigungsgüter sollen Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden. Der Fokus sollte insbesondere auf Fälle der Nichtanwendung der Richtlinie und entsprechende Marktverzerrungen, wie Forderungen nach Ausgleich/Gegenleistungen an die Industrie, gelegt werden.“ ( Bericht der Kommission zur Umsetzung der Richtlinie 2009/81/EG zur Vergabe öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit, Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 762))
[8] Mitteilung der Kommission: Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan, Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 950), S. 16f.
[9] Morgan, Sam: Von Bieńkowska zu Goulard: Machtübergabe in der EU-Industriepolitik, euractiv.de, 17.9.2019.
[10] Die Anfang Dezember 2019 eingereichten Zahlen der finnischen Ratspräsidentschaft etwa liegen bislang noch deutlich unter den Vorstellungen der Kommission. Siehe Multiannual Financial Framework (MFF) 2021-2027: Negotiating Box with figures, Brussels, 5.12.2019.
[11] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 19. Bretons Vorgängerin äußerte sich in dieser Sache dagegen deutlicher: „Auf die Frage nach der ‚recht naheliegenden Verbindung‘ zwischen Weltraum- und Verteidigungspolitik wies Bieńkowska darauf hin, dass rund 95 Prozent der Verteidigungseinrichtungen und -kräfte weltraumgestützte Daten verwenden.“ (Morgan, Sam: Von Bieńkowska zu Goulard: Machtübergabe in der EU-Industriepolitik, euractiv.de, 17.9.2019)
[12] Leyen, Ursula von der: Commissioner-designate for Internal Market. Mission Letter, Brüssel, 10.9.2019.
[13] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 27.
[14] Molina, Ignacio/Simón, Luis: A strategic look at the position of High Representative and Commission Vice-President, ARI 88/2019.
[15] Vgl. Marischka, Christoph: (Diese) Industriepolitik ist Rüstungspolitik. Mit Thierry Breton zum KI-Airbus? IMI-Analyse 2019/38.
[16] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 21.
[17] Ebd., S. 18.
[18] Vgl. Fischer-Lescano, Andreas: Rechtsgutachten zur Illegalität des Europäischen Verteidigungsfonds, GUE/NGL, November 2018.
[19] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds, Brüssel, 18.4.2019.
[20] Fiott, Daniel: The Scrutiny of the European Defence Fund by the European Parliament and National Parliaments, Policy Department for External Relations, April 2019
[21] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 21.
[22] Witney, Nick: European defence and the new Commission, ECFR Commentary, 30.9.2019.
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