Sonntag, 29. Dezember 2019

Industriepark Oberelbe: Brauchen wir einen Industriepark am Feistenberg?



Die Städte Pirna, Heidenau und Dohna gedenken, am Feistenberg entlang des Autobahnzubringers B172a auf einer Fläche von 150 Hektar den "Industriepark Oberelbe" zu errichten.
Was spricht für den Industriepark Oberelbe?
  1. Ohne neue Jobs überaltert die Region
  2. Die Wirtschaftsstruktur ist nicht ausgewogen 
  3. Das Lohnniveau muss angehoben werden 
  4. Die Kommunen brauchen mehr Steuereinnahmen 
  5. Handel ist auf Kaufkraft angewiesen 
Im verlinkten Artikel der Sächsischen Zeitung wird ausführlich zu den oben genannten Punkten beschrieben, welche Gründe für den Bau des Industrieparks Oberelbe sprechen.
Was spricht gegen den Industriepark Oberelbe?
  1. Das Landschaftsgebiet ist schon durch den Bau der A17 und der B172a stark betroffen und würde mit dem Bau des Industrieparks nachhaltig vollkommen verändert und somit versiegelt werden.
  2. Mensch und Tier sollen einen riesigen Industriepark billigen und versuchen sich damit zu arrangieren. Schon jetzt gibt es durch den abgeschlossenen Bau der A17 und der B172a keine ausreichenden Rückzugsmöglichkeiten für Tiere vieler Arten. Die Trassen bilden Barrieren und zerschneiden die Landschaft. An den Rändern der Autobahn wurden bescheidene Buschreihen an Hängen gepflanzt. Leider sind diese auch umzäunt. Tiere durchbrechen die Barrieren. Dies zeigt, wie sehr die Tiere unter dem Mangel eines Rückzugsgebietes leiden. Das betreffende Gebiet wird bis zum Bau des IPO von konventioneller Landwirtschaft genutzt. Eine weitere Zersiedlung der Landschaft wird keine Verbesserung des Lebens der Menschen und erst recht kein Überleben der Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen darstellen.
  3. Zudem ist ein Lärmschutz an der A17 im Bereich Großsedlitz quasi nicht vorhanden. Seit Jahren sind die Anwohner, besonders in der Nacht, vom Lärm der Autobahn beeinträchtigt. Die Lebensqualität ist gesunken. Mit dem Bau des IPO wird der Lärm zunehmen und Luftqualität weiter verschlechtert.
  4. Ein erhöhtes Verkehrsaufkommen und der damit verbundene Lärm und die Luftverschmutzung wird steigen.
  5. Das Gebiet, das für den Bau des Industrieparks vorgesehen ist, liegt in einer Frischluftschneise, die weite Teile Pirnas mit Kalt- bzw. Frischluft versorgt. Mit dem Bau des IPO würde dies nachhaltig gestört werden.
  6. Versiegelung von 150 Hektar Fläche.
  7. Es besteht weder bezahlbarer Wohnraum, noch die verfügbare Fläche um bezahlbaren Wohnraum für die zusätzlichen Einwohner zu schaffen.
  8. Der öffentliche Nahverkehr bietet zum jetzigen Zeitpunkt keine Pendelmöglichkeit für Beschäftigte des IPO.
  9. Ein Industriepark neben dem Barockgarten Großsedlitz?
Meiner Meinung nach ist das Projekt IPO keine Chance für die Region, es bedeutet nur den weiteren Werteverlust für die hier lebende Bevölkerung.  Niemand kann sich sicher sein, dass die risikoreiche Verwendung von mehr als 100(!) Millionen Euro Steuergelder zum Erfolg führen wird. Zudem treffen einige wenige Politiker und deren Stadträte riskante, irreversible Entscheidungen ohne die Meinung und Zustimmung der Bevölkerung einzuholen. Diese wird erst informiert, wenn „Tatsachen“  geschaffen wurden. Als bestes Beispiel ist der Vorentwurf des FNP der Stadt Heidenau zu nennen.
Was können wir tun?
Der beste Weg ist ein Dialog zwischen den Verantwortlichen des Projektes und den Bürgern der Region. Im Rahmen dieses Dialoges sollen die Vorteile und Nachteile erörtert und gemeinsam diskutiert werden. Wir, die Bürger der Region, sollten dann gemeinsam mit den Verantwortlichen Entscheidungen über das Schicksal des Projektes treffen und dies noch bevor größere Summen an Steuergeldern für das Projekt gebunden werden.
Welche Alternativen wären denkbar?
  1. Teile des Gebietes sollten renaturiert werden , d.h. einen Teil aufforsten und Gewässer anlegen, also eine Basis für die hier lebenden Tiere schaffen.
  2. Umbau der vorhandenen konventionellen Landwirtschaft in eine ökologische Landwirtschaft. Den Landwirten, die den Schritt in die richtige Richtung sollte eine anfängliche Unterstützung in Form Finanzierungsmöglichkeiten angeboten werden. Landwirtschaft ohne Gift funktioniert gibt es bereits und sie funktioniert. Wir können der Natur ein Stück zurückgeben. Wir sollten es sogar.
  3. Einige Streuobstwiesen anlegen, die ebenfalls zur Erhaltung der Artenvielfalt beitragen und den Menschen in der Region mit frischem Obst versorgt.
  4. "Kleinere" Gebiete zur Erschließung von Gewerbe und Industrie ausweisen, mit der  Vorgabe ein "Ausgleich" für ihre umweltbelastenden Verfahren zu schaffen. Stets umschlossen von großzügig angelegten Mischwald.
  5. Bereits bestehende Straßen ausbauen, d.h. umweltbewusste Gestaltung von Fahrtwegen und Schaffung von (Unter-)Querungsmöglichkeiten für die in der Region lebenden Tiere.
Wird es nicht Zeit, dass Sie wir und vor allem Sie, liebe Verantwortlichen des Projektes, aus Fehlern lernen und die Zukunft gemeinsam gestalten? Viele Bürger und Bürgerinnen dieser Region haben Ideen und möchten sich mit diesen einbringen. Wir, die Bürger, wollen respektiert werden. Wenn niemand mit uns kommuniziert, wie sollen wir eventuelle Vorteile des Projektes verstehen?
Gern stehe ich für Rückfragen zur Verfügung und stelle Kartenmaterial bereit. Wenn jemand Ideen, Anregungen oder Kritik mitteilen möchte, so bitte ich darum einen Kommentar zur Petition zu verfassen.
Informationsquellen:
Ein satirischer Kommentar zum Industriepark Oberelbe.
Im geplanten IPO der Kommunen Pirna, Dohna und Heidenau dürfen Industrieanla-gen gemäß der 4.Bundesimmissionschutzverordnung (4.BIDSchV, Anlage 1) gemäß der § 19 (mit Öffentlichkeitsbeteiligung) und § 10 (ohne Öffentlichkeitsbeteiligung) angesiedelt werden. Ein Ausschluss spezieller Industrieanlagen erfolgte durch die IPO-Planer bisher nicht. Unter die genehmigungsfähigen Anlagen fallen neben Müll-verbrennung, Tierkörperverwertung, Kraftwerke und Chemieanlagen jeder Art, La-gerung gefährlicher Stoffe auch industrielle Tiermastanlagen, so z.B. für mehr als 40.000 Stück Mastgeflügel oder auch mehr als 2000 Mastschweine. Es ist bekannt, dass der IPO zum großen Teil in einem für Pirna wichtigen Kaltluftentstehungsgebiet errichtet werden soll, dessen Luft sich selbst bei Windstille in die Talregion von Pir-nas Stadtzentrum bewegt. Nun könnte man meinen, es sei Geschmacksache, ob den Pirnaern die zu erwartende „würzige Landluft“ industrieller Tiermastanlagen zusagt oder nicht. (Die Einwohner von Krebs wissen schon lange, wovon hier die Rede ist.) Nein, hier handelt es sich um handfeste gesundheitsgefährdende Szenarien: Das aus Mastställen entweichende gasförmige Ammoniak (NH3) ist insgesamt für 45% an der Feinstaubbildung beteiligt, so dass in Gebieten solcher ländlicher Emissionen die Feinstaubbelastung ähnlich hoch ist wie im Zentrum von Großstädten (s. z.B. ARD, Monitor vom 17.1.19) Hinzu kommt die Feinstaubbelastung durch den Autobahnzu-bringer und der Südumfahrung. Dieser Schadstoffmix würde also ständig aus westli-cher Richtung über die Wohngebiete am Feistenberg und am Postweg in die Pirnaer Tallage hinab wabern. Bundesweit verursacht dies statistisch 50.000 vorzeitige To-desfälle pro Jahr, besonders bei ohnehin Lungen- und Herzkreislauf belasteten Ein-wohnern, die Erkrankungen als solche nicht mit gerechnet. Und in Pirna?

Bündnis 90/Die Grünen Pirna

„Ministerium für europäische Verteidigung und Rüstung“

IMI-Analyse 2019/39

DG Defence

 

Dieser Text erschien in gekürzter Fassung unter dem Titel Unbedingt angriffsbereit in der jungen Welt vom 28.11.2019.
Am 1. Dezember 2019 trat die Juncker-Kommission offiziell ab und übergab den Stab an ihren Nachfolger unter der neuen Chefin Ursula von der Leyen. Sie werde einer „geopolitischen Kommission“ vorstehen, schrieb von der Leyen bereits in einem Brief, mit dem sie am 10. September 2019 der designierten EU-Industriekommissarin Sylvie Goulard ihr Einsatzprofil mit auf den Weg gab.[1] Die scheiterte später zwar am Votum des EU-Parlaments, weshalb anschließend fieberhaft ein Nachfolger gesucht und dann mit dem Atos-Mann Thierry Breton auch gefunden wurde. Entscheidend war aber, dass von der Leyen in diesem Brief fast beiläufig fallen ließ, die ehemalige französische Verteidigungsministerin werde in ihrer Arbeit künftig von einer neuen „Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum“ (DG Defence) unterstützt, an deren Spitze sie auch stehen werde. Die Hauptaufgabe der neuen Generaldirektion soll darin bestehen, Widerstände beim Aufbau eines europäischen Rüstungsmarktes zu überwinden. Dafür werden ihr nicht nur Sanktionsmöglichkeiten, sondern auch massive finanzielle Anreize zur Verfügung stehen. Denn in ihren Zuständigkeitsbereich wird unter anderem die Verwaltung der eigens für diesen Zweck neu ausgelobten Milliardenbeträge aus dem künftigen „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) fallen.
Bislang waren europäische Militärfragen nahezu exklusiv die Angelegenheit der im Rat versammelten Staats- und Regierungschefs. Weder die Kommission und noch weniger das Parlament hatten hier groß etwas zu sagen. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn die Einrichtung der DG Defence als sichtbarer Ausdruck und logische Konsequenz des in jüngster Zeit tatsächlich deutlich gewachsenen militärischen Profils der Kommission gewertet wird. Die Tragweite dieses Schrittes zeigt sich, wenn etwa die Regierungsberater der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) sich freuen, nun werde „eine Art Ministerium für europäische Verteidigung und Rüstung“ ins Leben gerufen.[2] Viele Beobachter meinen hier sogar bereits eine schleichende Europäisierung der Militärpolitik und eine damit einhergehende Entmachtung der Nationalstaaten zu erblicken – in der soeben zitierten SWP-Analyse heißt es etwa: „Die Kommission strebt mit ihren aktuellen Initiativen offensichtlich an, den Schwerpunkt der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu verschieben: von einem mitgliedstaatlich zu einem supra-national dominierten Politikfeld.“[3]
Eine solche Einschätzung schießt aber dann doch deutlich über das Ziel hinaus: Weder geht die zunehmende Rolle der Kommission mit erweiterten Kompetenzen des Parlaments einher. Und genauso wenig kann ernsthaft von einer Entmachtung der Mitgliedsstaaten die Rede sein. Denn die Staats- und Regierungschefs haben bei der Architektur der neuen Rüstungstöpfe sorgfältig darauf geachtet, dass sie weiterhin die Rüstungszügel in der Hand behalten.
1. Rüstungsmarkt – Rüstungspaket – Rüstungsplan
Der Rüstungsbereich war lange die letzte Bastion des Protektionismus – er unterlag faktisch nicht den Regeln des Binnenmarktes. Dies hatte zur Folge, dass Aufträge nicht europaweit ausgeschrieben und an den „besten“, sprich marktbeherrschenden Bieter vergeben werden mussten. Ermöglicht wurde dies, indem sich die Staaten auf Artikel 346 des „Vertrags über die Arbeitsweise der EU“ (AEUV) berufen konnten, der es erlaubt, bei Rüstungsaufträgen unter Verweis auf nationale Sicherheitserwägungen zeitweilig die Regeln des Binnenmarktes auszusetzen. Eigentlich als Ausnahme gedacht, nutzten die Staaten diesen Passus, um ihre jeweiligen Rüstungsmärkte permanent vor innereuropäischen Konkurrenten abzuschotten und den gesamten Bereich der Kontrolle und Überwachung der Kommission zu entziehen. Im Ergebnis werden bis heute über 80 Prozent der europäischen Rüstungsaufträge national vergeben.[4]
Schon seit einiger Zeit hat sich die Kommission nun aber auf die Fahnen geschrieben, auch dem Rüstungsbereich zu seinem „Recht“ zu verhelfen, was vor allem im Interesse der großen deutschen und französischen Konzerne liegt. Dabei wird argumentiert, die „Kleinstaaterei“ im Rüstungswesen habe Duplizierungen und niedrige Auftragsmargen zur Folge, die sich durch Konzentrationsprozesse (europaweite Beschaffungsaufträge sowie Fusionen und Übernahmen) vermeiden ließen. Die Schätzungen der Kommission, wie hoch hier die Einsparpotenziale seien, sind dabei durchaus sportlich, wenn etwa der Chef der neuen DG Defence auf Fragen der Parlamentarier im Vorfeld seiner Ernennung angab: „Ich will die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich stärken, sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. Die europäische Verteidigungsindustrie ist hochgradig fragmentiert, weil die Mitgliedsstaaten ihre Verteidigungsbudgets national verausgaben und ihre technischen Anforderungen an das militärische Gerät national definieren. Beispielsweise existieren unter den Mitgliedstaaten 17 unterschiedliche Kampfpanzertypen, während die USA nur über einen verfügen. Dieser Mangel an Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten im Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrien kostet schätzungsweise zwischen 25 Mrd. und 100 Mrd. Euro jedes Jahr.“[5]
Ein erster Kommissionsversuch, die Mitgliedsstaaten zu ihrem Glück in Sachen europaweiter Ausschreibungen zu zwingen, stellte das 2007 vorgelegte Verteidigungspaket dar, das zwei Jahre später verabschiedet wurde. Teil davon ist die rechtlich bindende Beschaffungsrichtlinie, die besagt, dass eine Berufung auf Artikel 346 AEUV künftig nur noch in absoluten Ausnahmefällen möglich sein soll. Bis 2012 musste die Richtlinie in nationale Gesetzgebung überführt werden, allerdings zeigte sich schnell, dass viele Mitgliedsländer dennoch herzlich wenig Neigung verspürten, ihre Rüstungsindustrien dem Wettbewerb mit den großen deutsch-französischen Unternehmen auszusetzen. Folgerichtig gelangte eine erste Evaluation des Verteidigungspaketes im Juni 2015 zu dem Ergebnis, die Mitgliedsstaaten würden die Beschaffungsrichtlinie nur überaus zögerlich anwenden.[6]
Nach dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 kam aber wieder Bewegung in die nahezu festgefahrenen Versuche, einen europäischen Rüstungsmarkt ins Leben zu rufen. Der Grund lag vor allem darin, dass sich Großbritannien von da ab von seiner bisherigen Politik verabschiedete, alle Bestrebungen der Kommission nach Kräften zu torpedieren, mehr Kompetenzen im Rüstungsbereich an Land zu ziehen. Die Kommission ergriff die sich nun bietende Gelegenheit und veröffentlichte im November 2016 einen Verteidigungs-Aktionsplan, in dem sie ihre Ambitionen ungewöhnlich offen formulierte: „Die Kommission ist bereit, sich in einem bisher nicht gekannten Ausmaß in der Verteidigung zu engagieren, um die Mitgliedstaaten zu unterstützen. Sie wird die der EU zur Verfügung stehenden Instrumente einschließlich EU-Finanzierungen und das volle Potenzial der Verträge ausschöpfen mit dem Ziel, eine Verteidigungsunion aufzubauen.“[7]
Der Verteidigungs-Aktionsplan kündigte recht deutlich an, künftig die Umsetzung der Beschaffungsrichtlinie notfalls auch mittels Strafandrohungen durchzusetzen: „Mehr Wettbewerb und eine stärkere Öffnung des Marktes für Verteidigungsgüter in Europa dürften Anbieter dabei unterstützen, Größenvorteile zu erzielen, die Produktionskapazitäten zu optimieren und die Stückkosten zu senken, was den europäischen Produkten weltweit zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen würde. […] Aus den Bewertungen der beiden Richtlinien geht hervor, [dass] ein sehr bedeutender Teil der Beschaffung im Verteidigungsbereich nach wie vor nicht im Rahmen der EU-Vorschriften über das öffentliche Auftragswesen erfolgt. […] Die Kommission richtet ihr Augenmerk auf die effektive Umsetzung der Richtlinie und setzt diese notfalls durch.“[8]
Tatsächlich blieb es nicht bei der bloßen Drohung: Im Zeitraum November 2016 bis Oktober 2019 versendete die Kommission über 40 Aufforderungsschreiben mit der Mahnung, die Bestimmungen der Beschaffungsrichtlinie einzuhalten. Diese Schreiben bilden den Auftakt für formale Vertragsverletzungsverfahren, die zu empfindlichen Strafen führen können. Vor diesem Hintergrund wird es erklärtermaßen eine der Hauptaufgaben der neuen DG Defence sein, hier den Druck weiter hoch zu halten.
2. DG Defence: Anatomie und Aufgaben
Die Gründung der DG Defence kam nicht aus heiterem Himmel, nach Auskunft der von 2014 bis 2019 amtierenden Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska liefen die Vorbereitungen dafür bereits seit 18 Monaten.[9] Schon vor einiger Zeit wurden in anderen Generaldirektionen Abteilungen geschaffen, um die zunehmenden militärischen Aufgaben der Kommission zu managen. Insofern war es naheliegend, diese versprengten Verwaltungseinheiten in einer „Generaldirektion Verteidigung“ zu bündeln, wofür im Vorfeld diverse Optionen diskutiert wurden.
Organisatorisch wurde erwogen, eigens den Posten eines „Rüstungskommissars“ zu schaffen und ihm die neue Generaldirektion zu unterstellen. Entschieden wurde sich dann aber dafür, die neue Behörde dem Industriekommissar anzugliedern. Funktional wurde debattiert, eine „Sicherheits- und Verteidigungsdirektion“ ins Leben zu rufen, der auch alle Fragen der inneren „Sicherheit“ unterstellt worden wären. Alternativ dazu hat nun die Fokussierung auf Verteidigung bzw. Rüstung ergänzt um den Weltraum das Rennen gemacht.
In ihrem Brief vom 10. September hatte Kommissionspräsidentin von der Leyen die Aufgaben und Kompetenzen der DG Defence bereits recht präzise umrissen. Im Wesentlichen soll vor allem das Management einiger erstmals und vor allem auch erstmal in diesem großen Stil ausgelobter europäischer Rüstungsbudgets im kommenden EU-Haushalt 2021 bis 2027 in den Verantwortungsbereich der neuen Generaldirektion fallen. Im Folgenden beziehen sich die genannten Haushaltsgrößen auf die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Zahlen – die können sich in den anstehenden Verhandlungen mit Parlament und Rat zum Mehrjährigen Finanzrahmen, die im Laufe des Jahres 2020 zum Abschluss gebracht werden sollen, zwar noch deutlich ändern, geben aber in jedem Fall einen Einblick, wohin die Kommission steuern will.[10]
Ein großer Brocken wird dabei das Management diverser Weltraumprogramme darstellen, die allesamt von erheblicher militärischer Relevanz sind. Von den im nächsten EU-Haushalt 2021 bis 2027 dafür vorgesehenen 16 Mrd. Euro entfallen allein auf das Satellitennavigationssystem Galileo (9,7 Mrd.) und das Geoinformationssystem Copernicus (5,8 Mrd.) zusammen 15,5 Mrd. Euro. Trotz des zumindest in Teilen eindeutig militärischen Charakters der beiden Weltraumprogramme wird bis heute krampfhaft versucht, sie als vorwiegend zivile Unterfangen zu verkaufen: „Galileo und Copernicus sind zivile Programme unter ziviler Kontrolle und werden dies auch bleiben, auch wenn sie sicherheits- und verteidigungspolitischen Bedürfnissen ebenfalls entsprechen“, so etwa die verbalen Klimmzüge des Chefs der neuen DG Defence, Thierry Breton.[11]


Ein zweiter wichtiger Kompetenzbereich wird die „Militärische Mobilität” zur schnellen Verbringung von Truppen und Gerät – mit Blick auf Russland vor allem nach Osteuropa –umfassen. Hier wird die DG Defence die Verantwortung für die Implementierung des „Aktionsplans Militärische Mobilität“ vom März 2018 haben. Ob sie oder die Generaldirektion Transport und Verkehr (DG MOVE) die hierfür im nächsten EU-Haushalt vorgesehenen 6,5 Mrd. Euro verwalten wird, ist gegenwärtig allerdings noch offen.
Die dritte und wohl wichtigste Aufgabe der DG Defence wird es aber sein, die schon länger anvisierte Herausbildung eines EU-Rüstungsmarktes zu forcieren. Hieran ließ von der Leyen jedenfalls in ihrem „Einsatzbefehl“ vom 10. September wenig Zweifel aufkommen: „Ich möchte Sie bitten, sich auf die Schaffung eines offenen und wettbewerbsorientierten europäischen Rüstungsmarktes zu fokussieren und dafür die EU-Beschaffungsrichtlinen im Verteidigungsbereich durchzusetzen.“[12] Dementsprechend erklärte der Chef der neuen DG Defence, Thierry Breton, unmittelbar vor seinem Amtsantritt, er sehe es als eine seiner Hauptaufgaben an, „nicht davor zurückzuschrecken“ die Regeln des Binnenmarktes durchzusetzen, hierfür wolle er besonders den „Umgang der Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren beschleunigen.“[13]
Gleichzeitig soll aber die Anbahnung europaweiter Beschaffungsprojekte über die Einrichtung eines „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) versüßt werden. Ziel ist es die Mitgliedsländer finanziell dazu zu „ermuntern“, sich auf europaweite Rüstungsvorhaben einzulassen, anstatt weiter ihre verhältnismäßig kleinen nationalen Firmen zu alimentieren: „Um dies zu veranschaulichen: Die Beträge, die die Kommission vorhat zur Finanzierung von Verteidigungsforschung auszugeben, sind größer als die der meisten Mitgliedsstaaten (ausgenommen lediglich Frankreich und Deutschland). Das bedeutet dass sie alle faktisch damit beginnen werden, ihre Forschungs- und Entwicklungspolitik im Verteidigungssektor um den Europäischen Verteidigungsfonds der Kommission herum zu strukturieren.“[14]
Erstmals offiziell angekündigt wurde der EVF ebenfalls im November 2016 im Verteidigungs-Aktionsplan. Im Juni 2018 legte die Kommission dann einen EVF-Verordnungsvorschlag vor, der dann bis Frühjahr 2019 in den Trilog-Verhandlungen mit Rat und Parlament abgestimmt wurde. Für den EVF sind nun im Kommissionsvorschlag für den nächsten EU-Haushalt 2021 bis 2027 insgesamt 13 Mrd. Euro für die Erforschung und Entwicklung von Rüstungsprojekten vorgesehen, sofern sie unter Beteiligung von mindestens drei Ländern und drei Unternehmen durchgeführt werden (durch vorgeschriebene nationale Ko-Finanzierungen kann sich dieser Betrag auf bis zu 48,6 Mrd. Euro summieren).
Die Verwaltung dieses Fonds, wird in wesentlichen Teilen ebenfalls im Verantwortungsbereich der DG Defense und damit des Industriekommissariats liegen.  Nachdem mit Sylvie Goulard seine erste Kandidatin für diesen Posten unter anderem wegen Korruptionsvorwürfen und vorangegangener Querelen um die Kommissionspräsidentschaft am Votum des EPs scheiterte, zauberte der französische Präsident Emmanuel Macron danach mit Thierry Breton eine Person aus dem Hut, bei der handfeste Interessenskonflikte ebenfalls bereits vorprogrammiert sind.
Denn von den EVF-Geldern sind mindestens vier und bis zu acht Prozent für „disruptive Verteidigungstechnologien“ vorgesehen. Dabei handelt es sich um Technologien, von denen man sich radikale Veränderung von Theorie und Praxis der Kriegsführung verspricht.  Führend bei derlei Technologien sind in der Regel rüstungsnahe IT-Unternehmen wie Atos, das für die französische Armee etwa das Bull Battle Management System“ zur Automatisierung der Kriegstaktik entwickelt hat. Atos ist auch der führende Cloud-Dienstleister der Bundeswehr und betreut damit die Schnittstelle über die eine Verbindung von Kräften im Feld mit künftigen autonomen Systemen erfolgen wird.[15]
Nachdem er zuvor unter anderem ein hohes Tier bei Thomson war, aus der später der Rüstungsgroßkonzern Thales hervorging, war Thierry Breton bis zu seiner Nominierung zum Industriekommissar Chef von Atos, wodurch sich Interessenskonflikte wohl kaum vermeiden lassen werden. Schließlich war Breton damit Chef eines Unternehmens, das zu den führenden Profiteuren der von ihm verwalteten Gelder zählen könnte. Dem zuletzt auf 34 Mio. Euro bezifferten Wert seiner Atos-Aktien hat seine Ernennung jedenfalls nicht geschadet, nachdem er sie kurz darauf abgestoßen hatte.
Aus seiner Affinität für die Digitalisierung des Krieges machte Breton in seinen Antworten auf die Fragen der EU-Parlamentarier jedenfalls ebenso wenig ein Hehl wie aus seinem Herz für Unternehmen der IT-Branche: „Ich möchte die disruptive Innovationsdimension des EVF entwickeln und sicherstellen, dass das vorgesehene Budget (zwischen vier und acht Prozent) einen wirklichen Einfluss hat, Unternehmen außerhalb des Verteidigungssektors, Start-ups und Existenzgründer anzuziehen, um dadurch die europäische Führung bei strategischen technischen Lösungen sicherzustellen.“[16] Als Beispiel nannte er etwa Quantencomputer, wo es gelte sich an „vorderster Front“ zu positionieren, indem nicht nur Technologien für die „zivile Anwendung“ entwickelt würden, sondern „genauso für ihre Einführung in den Weltraum- und Verteidigungsbereich.“[17]
3. Pseudoeuropäisierung
Eine erste Frage, die sich mit Blick auf den EVF aufdrängt, lautet, weshalb sich die Staats- und Regierungschefs überhaupt darauf eingelassen haben, der Kommission gewisse Spielräume zu ermöglichen. Die Antwort ist simpel: wegen dem Geld. Denn es liegt auf der Hand, dass der üppige EU-Haushalt Begehrlichkeiten weckt, ihn auch für allerlei militärische Zwecke nutzbar zu machen. Die bestimmte Form, in der dies nun geschieht, unter der Ägide des Industriekommissars, ist wiederum der Rechtslage geschuldet, dass militärische Maßnahmen aufgrund von Artikel 41(2) des EU-Vertrags – eigentlich – nicht aus dem EU-Haushalt bezahlt werden dürfen. Um dieses Verbot zu umschiffen, greift die Kommission auf den rechtlich überaus fragwürdigen Trick zurück, die EVF-Gelder als Maßnahmen zur Wettbewerbsförderung zu deklarieren und sie auf dieser Grundlage dem Industriekommissariat zuzuordnen.[18]
Um mit Blick auf die Einrichtung des EVF und der Generaldirektion Verteidigung aber von Quantensprüngen bei der Europäisierung der Militärpolitik sprechen zu können, müsste die Aufwertung der Kommission auch von mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament begleitet werden – doch genau dies ist nur sehr begrenzt der Fall. Denn in einem bemerkenswerten Akt der Selbstentmachtung stimmte das EU-Parlament in den Trilog-Verhandlungen mit Kommission und Rat im Frühjahr 2019 mehrheitlich einem „Kompromiss“ zur EVF-Verordnung zu, durch den es lediglich ex-post Informationen ohne jegliche Einflussmöglichkeiten erhält. Wörtlich heißt es darin: „Die Kommission sollte regelmäßig die Durchführung des Fonds überwachen und jährlich über die erzielten Fortschritte Bericht erstatten […]. Zu diesem Zweck sollte die Kommission die erforderlichen Überwachungsmaßnahmen einrichten. Dieser Bericht sollte dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt werden und keine vertraulichen Informationen enthalten.“[19]
Dementsprechend kam auch eine vom EU-Parlament in Auftrag gegebene Studie zu dem Ergebnis, im Verordnungsvorschlag der Kommission „scheint es keine klare Rolle für das Europäische und auch nicht für die nationalen Parlamente zu geben.“[20] Auch Breton gab den EU-Parlamentariern auf ihre Fragen hin freundlich aber bestimmt zu verstehen, dass er gerne gewillt ist, sie im Nachhinein über seine Arbeit zu informieren, er aber nicht gedenkt, sich dabei von ihnen hineinreden zu lassen: „Ich werde das Europäische Parlament regelmäßig sowohl über die jährlichen Prioritäten als auch über die langfristiges strategische Planung des EVF unterrichten.“[21]
Doch auch die Kommission wird keineswegs im Alleingang über die EVF-Gelder verfügen können: Denn der Fonds und die von ihm finanzierten Projekte sollen über Arbeitsprogramme gesteuert werden, die auch von den im Rat versammelten Staaten abgesegnet werden müssen. Damit haben sichdie Mitgliedsstaaten faktisch ein Vetorecht in Sachen EVF-Projekte gesichert. Dass die EVF-Gelder auch noch bevorzugt an Projekte der auf Ebene der Mitgliedsstaaten angesiedelten „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (engl. „PESCO“) fließen sollen, erhöht deren Einfluss nur noch weiter. Vor diesem Hintergrund warnte kürzlich der ehemalige Chef der EU-Verteidigungsagentur, Nick Witney, die Kommission davor, sie solle sich ihre neuen Kompetenzen nicht zu Kopf steigen lassen. Im Prinzip habe sich nichts geändert, alle wesentlichen Entscheidungen in Sachen EU-Militärpolitik würden weiter beim Rat liegen, weshalb die Kommission sich dementsprechend nach dessen Präferenzen zu richten habe.[22]
Mit anderen Worten: Rüstungsfragen bleiben weiter im Wesentlichen Sache der (großen) Mitgliedsstaaten. Dabei sind es vor allem Deutschland und Frankreich, die sich ungeachtet gelegentlicher Streitereien im Detail völlig einig darin zu sein scheinen, den Ausbau des EU-Militärapparates voranzutreiben. Mit der Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum wurde nun eine wichtige institutionelle Voraussetzung geschaffen, um dieses Ziel umzusetzen.

[1] Leyen, Ursula von der: Commissioner-designate for Internal Market. Mission Letter, Brüssel, 10.9.2019. Derselbe „Mission letter“ wurde dann später auch Thierry Breton, der dann schlussendlich Industriekommissar werden sollte, am 7. November 2019 zugesendet.
[2] Becker, Peter/ Kempin, Ronja: Die EU-Kommission als sicherheits- und verteidigungspolitische Akteurin, SWP-Aktuell A34, Juni 2019, S. 6.
[3] Ebd., S. 5.
[4] Laut European Defence Agency: Defence Data 2017-2018, S. 9 waren im Jahr 2018 lediglich 17,8 Prozent aller Rüstungsprogramme länderübergreifend.
[5] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, Commissioner-designate for the Internal Market, 13.11.2019, S. 20. Diese Zahlen kursieren bereits länger: „Die fehlende Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen kostet Europa alljährlich zwischen 25 Mrd. und 100 Mrd. EUR – je nach Bereich. Gelder, die wir anders so viel besser einsetzen könnten.“ (Juncker, Jean-Claude: Rede zur Lage der Europäischen Union,  Brüssel, 14.9.2016)
[6] The impact of the ‚defence package‘ Directives on European defence, DGEXPO, Juni 2015.
[7] Mitteilung der Kommission: Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan, Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 950), S. 23. Auch ein zweiter am selben Tag veröffentlichten Kommissionsbericht zur Evaluation der Beschaffungsrichtlinie gelangte zu dem Ergebnis, die Mitgliedsstaaten würden die Beschaffungsrichtlinie nur zögerlich umsetzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, kündigte die Kommission an, nun Vertragsverletzungsverfahren gegen renitente Staaten einzuleiten, die im Extremfall zu empfindlichen Strafen führen können: „Bei schwerwiegenden Verstößen gegen EU-Recht in Bezug auf konkrete Auftragsvergaben für Verteidigungsgüter sollen Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden. Der Fokus sollte insbesondere auf Fälle der Nichtanwendung der Richtlinie und entsprechende Marktverzerrungen, wie Forderungen nach Ausgleich/Gegenleistungen an die Industrie, gelegt werden.“ ( Bericht der Kommission zur Umsetzung der Richtlinie 2009/81/EG zur Vergabe öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit, Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 762))
[8] Mitteilung der Kommission: Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan, Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 950), S. 16f.
[9] Morgan, Sam: Von Bieńkowska zu Goulard: Machtübergabe in der EU-Industriepolitik, euractiv.de, 17.9.2019.
[10] Die Anfang Dezember 2019 eingereichten Zahlen der finnischen Ratspräsidentschaft etwa liegen bislang noch deutlich unter den Vorstellungen der Kommission. Siehe Multiannual Financial Framework (MFF) 2021-2027: Negotiating Box with figures, Brussels, 5.12.2019.
[11] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 19. Bretons Vorgängerin äußerte sich in dieser Sache dagegen deutlicher: „Auf die Frage nach der ‚recht naheliegenden Verbindung‘ zwischen Weltraum- und Verteidigungspolitik wies Bieńkowska darauf hin, dass rund 95 Prozent der Verteidigungseinrichtungen und -kräfte weltraumgestützte Daten verwenden.“ (Morgan, Sam: Von Bieńkowska zu Goulard: Machtübergabe in der EU-Industriepolitik, euractiv.de, 17.9.2019)
[12] Leyen, Ursula von der: Commissioner-designate for Internal Market. Mission Letter, Brüssel, 10.9.2019.
[13] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 27.
[14] Molina, Ignacio/Simón, Luis: A strategic look at the position of High Representative and Commission Vice-President, ARI 88/2019.
[15] Vgl. Marischka, Christoph: (Diese) Industriepolitik ist Rüstungspolitik. Mit Thierry Breton zum KI-Airbus? IMI-Analyse 2019/38.
[16] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 21.
[17] Ebd., S. 18.
[18] Vgl. Fischer-Lescano, Andreas: Rechtsgutachten zur Illegalität des Europäischen Verteidigungsfonds, GUE/NGL, November 2018.
[19] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds, Brüssel, 18.4.2019.
[20] Fiott, Daniel: The Scrutiny of the European Defence Fund by the European Parliament and National Parliaments, Policy Department for External Relations, April 2019
[21] Questionnaire to the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 21.
[22] Witney, Nick: European defence and the new Commission, ECFR Commentary, 30.9.2019.


Das Tauziehen um den EU-(Militär-)Haushalt geht in die heiße Phase

Am Wochenanfang präsentierte die EU-Verteidigungsagentur – wieder einmal mit reichlich Verspätung – ihre Daten über die Militärausgaben der Mitgliedsstaaten des Jahres 2018. Sie bestätigen – entgegen dem allgegenwärtigen Gejammer von Politik, Militär und Industrie – den Trend zu immer weiter steigenden Ausgaben.
Gleichzeitig nehmen die Verhandlungen um den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFF), den EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027, allmählich Fahrt auf. Deren Ergebnisse werden mit Blick auf die Höhe der Militärausgaben aus mindestens zwei Gründen von entscheidender Bedeutung sein: Einmal sollen mit dem kommenden MFF erstmals beträchtliche Summen für rüstungsrelevante Bereiche ausgelobt werden, die zudem zumindest im Falle des deutschen Anteils dennoch nicht aus dem Topf des Verteidigungsministeriums stammen werden. Und zum zweiten sollen diese Beträge teils um nationale Gelder ergänzt werden, um so im Ergebnis enorme Summen für den Aufbau eines Europäischen Rüstungskomplexes mobilisieren zu können.
Vor diesem Hintergrund ist es überaus interessant, dass die finnische Ratspräsidentschaft Anfang Dezember Zahlen für die anstehenden MFF-Verhandlungen präsentierte, die in erheblichem – nämlich geringerem – Umfang von den Vorstellungen der Kommission abweichen. Man darf somit gespannt sein, wie in den kommenden Monaten versucht werden wird, die finnischen Vorschläge wieder einzukassieren, da sie für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie in dieser Form angenommen würden, den hochtrabenden Plänen der neuen Rüstungskommission unter Ursula von der Leyen zumindest in Teilen einen gehörigen Strich durch die Rechnung machen würden.
Allzeithoch!
Auch wenn der Bericht der Verteidigungsagentur sich eifrig darum bemüht das Bild der unterfinanzierten Armeen Europas zu zeichnen, geben die realen Zahlen derlei Aussagen nicht her. Laut Verteidigungsagentur beliefen sich die Verteidigungsausgaben der Mitgliedsstaaten im Jahr 2018 zusammengenommen auf 223,4 Mrd. Euro. Dabei handelt es sich nicht nur um eine deutliche Steigerung gegenüber den 214 Mrd. Euro des Vorjahres. Auch der Gesamttrend ist eindeutig: Das erste Mal erhob die Behörde diese Zahlen im Jahr 2005, als die Mitgliedsstaaten auf gemeinsame Militärausgaben von „lediglich“ 193 Mrd. Euro kamen. Dementsprechend stiegen auch die Gelder für Rüstungsanschaffungen von 29,2 Mrd. Euro (2006) auf 36,2 (2017) Mrd. Euro steil an, nur um im letzten Erhebungszeitraum 2018 noch einmal einen deutlichen Sprung auf 44,5 Mrd. Euro zu machen.
Geh es nach der EU-Kommission sollen künftig zu diesen rein nationalen Militärausgaben auch noch hohe Summen aus dem EU-Haushalt hinzukommen.
EU-Rüstungsgelder außerhalb der Rüstungshaushalte
Im Mai 2018 legte die Kommission den Vorschlag für den neuen EU-Haushalt 2021 bis 2027 vor. Darin wurden erstmals über diverse Töpfe verteilt beträchtliche EU-Gelder zur Finanzierung militärischer Vorhaben ausgelobt, die künftig im Wesentlichen von der beim Industriekommissariat angesiedelten neuen „Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum“ verwaltet werden sollen.
Die „Europäische Friedensfazilität“ (EFF) soll mit 10,5 Mrd. Euro unter anderem künftige EU-Militäreinsätze querfinanzieren. Die EFF ist zwar kein offizieller Teil des MFF, sondern soll sich aus Beiträgen der Mitgliedsstaaten speisen, ihr Budget wurde aber paradoxerweise dennoch von der Kommission zusammen mit dem EU-Haushalt 2021 bis 2027 vorgeschlagen.
Offiziell zum MFF gehören sollen aber die 6,5 Mrd. Euro, die im Rahmen der „Militärischen Mobilität“ für Infrastrukturmaßnahmen zur schnellen Verlegung von Truppen und Material vor allem an die Ostgrenze verausgabt werden sollen. Insgesamt 16 Mrd. Euro sind für sicherheits- bzw. militärrelevante Weltraumprogramme vorgesehen, der Löwenanteil davon soll auf das Satellitennavigationssystem Galileo (9,7 Mrd. Euro) und das Geoinformationssystem Copernicus (5,8 Mrd. Euro) entfallen. Als „Kronjuwel“ unter all diesen neuen Rüstungstöpfen gilt allerdings der „Europäische Verteidigungsfonds“ (EVF), der zwischen 2021 und 2027 nach Vorstellungen der Kommission für die Erforschung (4,1 Mrd. Euro) und die Entwicklung (8,9 Mrd. Euro) von Rüstungsgütern mit insgesamt 13 Mrd. Euro befüllt werden soll.
Zumindest im Falle Deutschlands werden die Gelder für den EVF – anteilig nach einem Brexit 25 Prozent der Gesamtsumme – nicht dem Verteidigungsbudget (Einzelplan 14), sondern dem Allgemeinen Haushalt (Einzelplan 60) entnommen. Es handelt sich bei ihnen also eindeutig um Rüstungsausgaben, die sich allerdings dennoch nicht im offiziellen Verteidigungshaushalt niederschlagen werden. Nach Angaben der Bundesregierung ist zwar scheinbar noch offen, ob bei den anderen Haushalten – v.a. EFF und Military Mobility – in ähnlicher Weise verfahren werden wird, davon ist aber auszugehen. Angesichts einer gegenüber allzu hohen Militärausgaben tendenziell eher skeptisch eingestellten Bevölkerung handelt es sich hier um eine willkommene Möglichkeit, das Budget künstlich kleinzurechnen – mit anderen Worten also, Augenwischerei zu betreiben. Gleichzeitig lassen sich diese Gelder bei der NATO als Militärausgaben melden, was wiederum hilft, den Druck der USA auf höhere Ausgaben abzumildern.

Ambitionierte Rüstungshebel
Der EVF hat explizit das Ziel, die Herausbildung eines europäischen Rüstungskomplexes voranzubringen, indem nur länderübergreifende Projekte finanziert und dadurch Konzentrationsprozesse forciert werden. Gleichzeitig sollen die im EVF vorgesehenen 8,9 Mrd. Euro für die Entwicklung von Rüstungsprojekten national um den Faktor 5 „gehebelt“ werden. Das heißt, in den Genuss dieser Gelder werden die Länder nur kommen, wenn sie aus ihren nationalen Budgets – und in diesem Falle wäre es dann im Falle Deutschlands tatsächlich aus dem Verteidigungshaushalt – noch einmal den fünffachen Betrag zuschießen (bei sogenannten PESCO-Projekten wird ein reduzierter nationaler Anteil fällig). Im Extremfall könnten so also über den EVF bis zu 44,5 Mrd. mobilisiert werden, zu denen dann noch die 4,1 Mrd. an Forschungsgeldern hinzukommen würden.
Doch geht es nach den Vorstellungen ambitionierter Rüstungsstrategen wie Daniel Fiott vom EU-eigenen „Institute for Security Studies“, soll auch damit beileibe noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht sein. In einem neuen Papier schlägt er vor, die nationalen Hebel ab 2023 auf den Faktor zehn hochzuschrauben, wodurch die Schlagkraft des Fonds – zumindest aus Sicht derjenigen, die sich die Schaffung eines europäischen Rüstungskomplexes auf die Fahnen geschrieben haben – noch einmal erheblich „verbessert“ würde. Gerechnet über den gesamten MFF wäre es damit möglich, annähernd 100 Mrd. Euro für Erforschung und Entwicklung europaweiter Rüstungsprojekte zu mobilisieren.
Finnischer Lichtblick
Nachdem die Kommission im Juni 2018 ihre Vorstellungen zum „Europäischen Verteidigungsfonds“ präsentiert hatte, stimmte auch das Parlament diesen Zahlen im Wesentlichen mit einer Legislativen Entschließung im April 2019 mehrheitlich zu. Als letzte Hürde steht dem EVF (und den anderen Budgets) damit nur noch der Mehrjährige Finanzrahmen entgegen, der in nächster Zeit zwischen Kommission, Rat und Parlament ausgehandelt werden muss. Angesichts der vorherigen Einigung über den EVF-Verordnungsvorschlag war es deshalb aus friedenspolitischer Sicht eine positive Überraschung, dass der Anfang Dezember vorgelegte „Verhandlungsaufschlag“ der finnischen Ratspräsidentschaft ganz erheblich von den Vorstellungen der Kommission abweicht.
Seltsamerweise verwendet die finnische Ratspräsidentschaft im entsprechenden, „Verhandlungsbox“ genannten Dokument ausschließlich Preise von 2018, die geringer ausfallen als die gewöhnlich angegebenen aktuellen Preise – im Falle des Europäischen Verteidigungsfonds ergibt das im Kommissionsvorschlag zum Beispiel 11,453 Mrd. Euro statt der üblicherweise angegebenen 13 Mrd. Euro. Auch wenn also die Ausgangsangaben dadurch für alle Rüstungstöpfe niedriger angesetzt sind, zeigt sich doch die durchaus erfreuliche Tendenz der finnischen Vorschläge gleich auf den ersten Blick.
Vergleichsweise glimpflich kamen noch die großen Weltraumprogramme davon, für die nun 12,7 Mrd. Euro statt noch im Kommissionsvorschlag 14,2 Mrd. Euro vorgeschlagen werden. Kräftig Federn lassen mussten aber die Friedensfazilität mit 4,5 Mrd. Euro (statt 9,2 Mrd. Euro) sowie die Militärische Mobilität mit 2,5 Mrd. Euro (statt 5,8 Mrd. Euro). Und auch der Europäische Verteidigungsfonds kam alles andere als ungeschoren davon: Für ihn schlägt die finnische Ratspräsidentschaft nur noch 6,0 Mrd. Euro statt der von der Kommission anvisierten 11,5 Mrd. Euro vor.
Heiße Verhandlungsphase
Klar, aus friedenspolitischer Sicht wäre eine glatte Null bei all diesen Töpfen natürlich noch besser gewesen – bei den von der finnischen Ratspräsidentschaft vorgeschlagenen Zahlen handelt es sich aber dennoch um ganz empfindliche Kürzungen der bislang kursierenden Beträge. Und dementsprechend entgeistert reagierte die sogenannte „Strategische Gemeinschaft“ auch auf die finnischen Vorschläge: „Zu einem Zeitpunkt, an dem Sicherheit und Verteidigung immer wichtigere Bereiche werden, steht die Botschaft nicht im Einklang mit den Ambitionen“, kritisierte beispielsweise umgehend Eric Trappier, der Chef der größten EU-Rüstungslobbyorganisation ASD.
So erfreulich das ist, angesichts der Bedeutung, die diesen Fonds beigemessen wird, ist davon auszugehen, dass die finnischen Vorschläge von der im Januar 2020 beginnenden kroatischen, spätestens dann aber von der in der zweiten Jahreshälfte übernehmenden deutschen Ratspräsidentschaft kassiert werden dürften. Schließlich werden Deutschland und die hiesige Rüstungsindustrie zu den Hauptprofiteuren zählen, womöglich auch deshalb wird hinter kaum vorgehaltener Hand bereits immer lauter gemunkelt, die MFF-Verhandlungen würden sich wohl bis in die zweite Jahreshälfte ziehen.


Audios vom IMI-Kongress „Rüstung Digital!“

IMI-Mitteilung



von: 19. Dezember 2019



Vom 30. November bis zum 1. Dezember 2019 fand in Tübingen der IMI-Kongress „Rüstung Digital! Neue Technologien für neue Großmachtkonflikte“ statt. Presseberichte sind zB im Schwäbischen Tagblatt und bei Telepolis erschienen, unser eigener Kongressbericht findet sich hier.
Inzwischen sind auch die Audiodateien der einzelnen Vorträge online (leider mit teils schlechter Qualität, wir hatten etwas mit der Technik zu kämpfen):
12:15 – 14:00  Geostrategie Digital
USA, China, EU – Blockbildung durch Technologie (Christoph Marischka)
Weltraum als umkämpfte Domäne der Digitalisierung (Jürgen Wagner)
Autonome Waffensysteme und der Versuch ihrer Regulierung (Claudia Haydt)
14:30 – 16:00  Gefechtsfeld Digital
– Videospiele als Vorbild des Schlachtfelds der Zukunft? (Michael Schulze von Glaser) [leider nicht mitgeschnitten]
Mensch-Maschine: EU-Großprojekte zum Manned-Unmanned-Teaming (Marius Pletsch)
16:30 – 17:30  Rüstung Digital
Digitalisierung der Bundeswehr – Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft? (Martin Kirsch)
19:00– 21:00  Kontroverse: Digitalisierung als Chance?
– Feministische und antikapitalistische Positionen [leider nicht mitgeschnitten]
Sonntag 01. Dezember 2019
10:00 – 11:00  Lobbyismus Digital
Europas digitale Aufrüstung – Strukturen, Akteure und Interessen (Tobias Pflüger)
11:15 – 12:45  Profiteure der digitalen Aufrüstung
Drei Perspektiven von vor Ort – Thales, Airbus und Atos
13:00 – 14:30  Abschlusspodium
Gegen die 2 Prozent – Alternativen zur Aufrüstung

Ein rechtes Netzwerk ist bis in Polizei, Geheimdienste und Parlamente verknüpft

IMI-Standpunkt 2019/060 - in: analyse & kritik, Nr. 655/2019

Gibt es eine Schattenarmee in der Bundeswehr?

 

von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 19. Dezember 2019

 

Seit 2017 tauchen verstärkt Berichte über rechte Umtriebe in der Bundeswehr auf. Spätestens seit November 2018 ist klar, dass wir es hier nicht mit Einzelfällen zu tun haben, sondern dass ein rechtes Netzwerk dahinter steckt, dessen Ausläufer bis in die Polizei, die Geheimdienste und die Parlamente reichen. In diesem Netzwerk gab es Gruppen, die Waffen-, Munitions- und Treibstofflager und außerdem Feindeslisten anlegten. Sie planten die Ermordung politischer Gegner*innen an einem Tag X.
Das Kommando Spezialkräfte (KSK) steht in diesem Zusammenhang zunehmend im Fokus des Militärischen Abschirmdienstes (MAD): Im Sommer war dort auf Druck der Opposition eine eigene Arbeitsgruppe gegründet worden, um rechten Umtrieben bei der Spezialeinheit nachzugehen. Diese lieferte nun erste Ergebnisse.
Es ist bereits seit längerem bekannt, dass sich das rechte Prepper-Netzwerk um verschiedene Chatgruppen und den Verein Uniter formierte, der von ehemaligen Soldat*innen des KSK gegründet worden war.
Chatgruppen
In den Chatgruppen wurden Planungen für den Katastrophenfall, den Tag X, getroffen. Unter anderem kursierte die rechte Verschwörungstheorie, Deutschland stehe vor einer Invasion durch Geflüchtete. In einer der Chatgruppen, der Gruppe Nordkreuz, war sogar die Bestellung von Leichensäcken und Ätzkalk vorgesehen, womöglich um ein Massengrab möglichst schnell verschwinden zu lassen. Und – zumindest in den Gruppen Süd, Ost und Nord – gab es Personen, denen vorgeworfen wird, Anschläge geplant und Feindeslisten angelegt zu haben. Wie mir nun auch die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage[1] bestätigte, wurde in den Chatgruppen die Errichtung von Munitions- und Treibstoffdepots sowie von sogenannten „Safe Houses“, sicheren Rückzugsorten für den Tag X, geplant. Ausgehoben wurde bislang allerdings nur ein einziges Waffendepot: im Garten des ehemaligen SEK-Polizisten Marco G. in Banzkow. Waffen und Munition wurde jedoch auch bei anderen Uniter-Mitgliedern gefunden. Die Antwort auf die Anfrage enthält auch neue Zahlen über die Größe der Chats: Die Chatgruppe Süd hatte 59 Mitglieder, die Chatgruppe Ost hatte 15 Mitglieder und die Chatgruppe Nord hatte 73 Mitglieder. Die Mitgliederzahlen schwankten jedoch im Laufe der Zeit.
Uniter e.V.
Eng verwoben waren die Chatgruppen mit dem Verein Uniter, der mehrere militärtaktische Trainings organisierte und zwei eigene paramilitärische Einheiten aufbaute: die Medical Response Unit und die Defence Unit. Bindeglied zwischen dem Verein und den Chatgruppen ist André S., ein ehemaliger KSK-Soldat. Er war einerseits unter dem Decknamen „Hannibal“ Administrator der Chatgruppen Nord, Ost, Süd, West, Schweiz und Basis sowie andererseits für lange Zeit Vorstand von Uniter. Er leitete paramilitärische Trainings und gab dabei mutmaßlich auch Wissen aus seiner Ausbildung beim KSK weiter. Neben ihm administrierten jedoch noch weitere Uniter-Mitglieder einzelne Chatgruppen des Netzwerks, z.B. Robert P. (ebenfalls KSK-Soldat, Deckname: „Petrus“) und der bereits erwähnte Ex-Polizist Marco G., der nun vor Gericht steht, weil bei ihm u.a. zehntausende Schuss Munition gefunden wurden, die er mit Kollegen aus Polizeibeständen entwendet hatte. Von den Beteiligten wurden Uniter und die Chatgruppen als ein und dasselbe wahrgenommen.[2]
Schattenarmee in der Bundeswehr?
Auffällig ist, dass ein Großteil der Figuren des Hannibal-Netzwerks ehemalige oder aktive Bundeswehrsoldat*innen sind – die Spezialkräfte sind in besonderem Maße betroffen. So sind bzw. waren zentrale Akteure beim KSK: Neben den bereits erwähnten André S. und Robert P. betrifft dies auch den MAD-Mitarbeiter Peter W., der verdächtigt wird, André S. vor Razzien gewarnt zu haben. Auch er war früher beim KSK. Ein weiterer KSK-Soldat, Robert K., war ebenfalls Mitglied in einer der Chatgruppen.
Auffällig ist, dass mehrere Chatmitglieder zu unterschiedlichen Zeiten die Fallschirmsprungausbildung oder die Einzelkämpferausbildung an der Franz-Josef-Strauß-Kaserne in Altenstadt durchliefen, die Teil des Ausbildungszentrums Infanterie in Hammelburg ist. Neben den genannten KSK-Soldaten, für die diese Ausbildung ebenfalls obligatorisch ist, waren dies mehrere Personen: Marco G., der vor seiner Zeit beim SEK Fernspäher und Präzisionsschütze bei der Bundeswehr war, wurde zeitweise in Altenstadt ausgebildet. Auch Franco A., dem die Vorbereitung eines Anschlags unter einer falschen Identität als Syrer vorgeworfen wird, wurde während seiner Einzelkämpferausbildung in Hammelburg festgenommen. Bis 2015 wurde die Einzelkämpferausbildung noch bei Altenstadt durchgeführt. Gegen A. wurde nun nach längerem Hin und Her das Gerichtsverfahren wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat eröffnet. Zuvor hatte ein Versanden der Ermittlungen gedroht, weil dem Oberlandesgericht Frankfurt zufolge trotz Waffen, Munition und Anschlagsplänen nicht erwiesen gewesen sei, dass er „fest entschlossen“ gewesen sei, einen Terroranschlag zu begehen. Franco A. kennt André S. und war in der Chatgruppe Süd. Auch der Neonazi Tobias L. war bis Mitte 2015 in Hammelburg stationiert. 2017 wurde er wegen seiner rechten Einstellung entlassen. Er wurde immer wieder mit Franco A. und einem möglichen Anschlagsplan auf die ehemalige Verteidigungsministerin von der Leyen in Verbindung gebracht.[3] Eine weitere Person, die in Altenstadt ausgebildet wurde und Teil des Hannibal-Netzwerks ist, ist der Neonazi Gerhard H., ein Arzt aus Essen. Er war Mitglied in der Chatgruppe Westkreuz. Außerdem hat er Kontakt zu Thorsten Heise, dem nachgesagt wird, ein führender Funktionär bei der rechten Terrorgruppe Combat 18 zu sein. Auch die AfD ist in den rechten Sumpf in Altenstadt verwickelt: Fritz Zwicknagl, der 1997 wegen der Häufung rechter Umtriebe in Altenstadt als Kommandeur abgesetzt wurde, arbeitet heute im Fachausschuss Verteidigung der AfD. Auch Brandenburgs AfD-Chef Andreas Kalbitz war nach eigener Aussage mehrere Jahre Ausbilder an der Fallschirmjägerschule in Altenstadt.[4]
Altenstadt und Calw: Rechte Hotspots
Dass sich Akteure des Hannibal-Netzwerks verstärkt in Altenstadt und in Calw finden, wo das KSK stationiert ist, ist wohl kein Zufall. An beiden Standorten kam es schon seit Jahren immer wieder zu rechten Skandalen. Beim KSK reichte dies von Hitlergrüßen auf privaten und dienstlichen Feiern über positive Bezüge zur Wehrmacht bis hin zu rechten Drohbriefen. Wie jüngst bekannt wurde, stufte der MAD erneut zwei Neonazis im KSK auch als solche ein: Einer der beiden soll entlassen werden. Zwei weitere stehen im Verdacht, den Hitlergruß gezeigt zu haben. Die Neonazis hatte der MAD bereits seit längerem auf dem Schirm, bezeichnete diese jedoch verharmlosend als „Verdachtsfälle“. Im September hatte das Ministerium das Geheimdienstkontrollgremium in einer ersten Bilanz unterrichtet, das KSK habe sich aktuell zum „Arbeitsschwerpunkt“ des MAD entwickelt, da es dort besonders viele rechte Verdachtsmomente gegeben habe. In Altenstadt wurde schon in den 1990er Jahren der Geburtstag Adolf Hitlers mit nationalsozialistischen Gesängen und Symbolen gefeiert – und es wurde ein Waffenlager auf dem Dachboden gefunden.

Diebstahl von Waffen und Munition
Wie jüngst die von mir gestellte Kleine Anfrage im Bundestag offenbarte, gehören der Diebstahl und das Horten von Waffen in diesen Kasernen leider nicht der dunklen Vergangenheit der 1990er Jahre an, sondern ziehen sich bis heute durch: 2013 wurden in Altenstadt 60 Schuss Munition gestohlen; der Vorfall konnte jedoch nie aufgeklärt werden. 2017 verschwanden erneut 50 Schuss Munition, die aber laut Verteidigungsministerium auf einen Buchungsfehler zurückzuführen seien. Auch beim KSK in Calw verschwanden in den letzten Jahren immer wieder Ausrüstungsgegenstände: u.a. vier Nachtsichtgeräte und zwei Funkgeräte. Eine Häufung dieser Vorfälle lässt sich im Jahr 2017 erkennen, Uniter mit dem Aufbau der paramilitärischen Einheiten begann. Ob es sich dabei um Zufall handelt, muss dringend weiter aufgeklärt werden.
Gemeinnützige Paramilitärs?
Uniter ist als Verein nach wie vor gemeinnützig, d.h. Mitgliedsbeiträge und Spenden können von der Steuer abgesetzt werden – obwohl Uniter daran arbeitet, eine bewaffnete Einheit aufzubauen. Gerade vor dem Hintergrund, dass der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) im November die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde, ist dies ein Skandal! Der militaristische Verein Uniter, der in rechte Machenschaften verstrickt ist, wird mit Steuergeldern unterstützt, während die antifaschistische VVN-BdA nun in ihrer Existenz gefährdet ist.

https://www.imi-online.de/2019/12/19/gibt-es-eine-schattenarmee-in-der-bundeswehr/

[1] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Tobias Pflüger u.a. und der Fraktion DIE LINKE. Aktivitäten des Vereins Uniter e.V., BT-Drucksache 19/13893. 19.11.2019.
[2] Taz: Hannibals Verein. 21.12.2018. https://taz.de/taz-Recherche-zu-rechtem-Netzwerk/!5557397/
[3] Spiegel Online: Zwei rechte Offiziersanwärter fristlos entlassen. 31.5.2017. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-uni-zwei-offiziersanwaerter-wegen-rechter-gesinnung-fristlos-entlassen-a-1150148.html; Infoticker Passau: Tobias Lipski: verhinderter Attentäter, rechtsextremer Burschenschafter, AfD-Jungpolitiker, Passauer Student. 23.7.2019. https://www.infoticker-passau.org/node/407
[4] RND: Die rechtsradikale “Kreuz”-Connection und die Bundeswehr. 10.9.2019. https://www.rnd.de/politik/rnd-exklusiv-die-rechtsradikale-kreuz-connection-KXRLVYAEH5CYDIZOLDY6HMVC7Y.html


Grüne im EU-Parlament wollen Fördermittel an Aufnahme von Geflüchteten knüpfen

Europaabgeordneter Andresen: Geld sollte stattdessen direkt an Hilfsorganisationen gehen / Kritik an Ungarn, Polen und Tschechien

  • Lesedauer: 2 Min.

Berlin. Die Grünen im Europaparlament fordern finanzielle Konsequenzen für EU-Staaten, die sich einer Aufnahme von Flüchtlingen verweigern. »Länder, die sich an Gemeinschaftsaufgaben wie der Aufnahme von Geflüchteten nicht beteiligen, sollen künftig weniger Fördermittel bekommen«, sagte der Grünen-Europaabgeordnete Rasmus Andresen der Zeitung »Welt am Sonntag«. Dies sei die Position der Grünen in dieser Frage.
Statt das Geld einfach zu kürzen, solle es direkt an Hilfsorganisationen in den betroffenen Ländern gezahlt werden, forderte Andresen. »So werden weiterhin wichtige Projekte gefördert, aber die betroffenen Staaten können nicht mehr selbst über die Verwendung entscheiden«, sagte der Grünen-Politiker. Dies sollte auch für pro-europäische Kräfte unterhalb der Regierungsebene gelten. »Wenn Polen und Ungarn auf nationaler Ebene blockieren, können Warschau und Budapest als weltoffene Städte sich trotzdem beteiligen«, sagte Andresen.

 Andresen gehört laut »Welt am Sonntag« zu dem sechsköpfigen Verhandlungsteam des Europäischen Parlaments, das mit den Mitgliedstaaten im kommenden Jahr über den mittelfristigen EU-Haushalt verhandelt.
Auch der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hatte kürzlich mögliche negative finanzielle Konsequenzen für EU-Staaten angedeutet, die sich einer EU-weiten Lösung zur Verteilung von Flüchtlingen verweigern. »Wenn sich einzelne Mitgliedsländer in Fragen elementarer Menschlichkeit ausklinken, dann wird das stark negative Auswirkung auf den nächsten EU-Haushalt haben«, sagte er in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview des »Spiegel«.

 Die EU ist in der Flüchtlingspolitik tief gespalten. Ungarn, Polen und Tschechien weigern sich seit Jahren, einen EU-Beschluss zur Verteilung von Flüchtlingen umzusetzen. In Deutschland hatte vergangene Woche der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck die Debatte neu entfacht - er forderte, Kinder aus den griechischen Lagern nach Deutschland zu holen. Das Bundesinnenministerium wies den Vorstoß jedoch zurück und pochte auf eine europäische Lösung. AFP/nd

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1130674.fluechtlingspolitik-gruene-im-eu-parlament-wollen-foerdermittel-an-aufnahme-von-gefluechteten-knuepfen.html 

Sebastian Bähr über eine besorgniserregende Entschuldigung des WDR

Vor dem rechten Mob eingeknickt

 
Während in Aue mehr als 1000 Neonazis und Wutbürger sich im »Rassekrieg« wähnen; während am zweiten Weihnachtsfeiertag die »Alan Kurdi« 32 Menschen aus dem Mittelmeer rettet; während deutsche Waffenexporte ein neues Rekordhoch verzeichnen; da diskutiert Socialmedia-Deutschland also ernsthaft über die »Umweltsau«. Konkret geht es um das Satirelied des WDR-Kinderchors über eine imaginäre Großmutter, die ihr Geld verprasst, ohne dabei an das Klima zu denken. Konservativ bis Rechtsaußen hat die Vorlage dankend aufgenommen und einen Shitstorm entfacht. Der WDR entschuldigte sich daraufhin öffentlich, kritisierte einen der verantwortlichen Mitarbeiter und löschte das Video. Er versagte damit vollkommen.
Dass die Satire weder besonders klug noch witzig war, geschenkt. Natürlich sind Industrie, Energieunternehmen und ihre Lobbyisten sinnvollere Gegner als eine ausgedachte Großmutter, die es in dieser Form ohnehin nur in einigen verbliebenen Mittelschichtblasen geben dürfte. Dennoch hätte der WDR gegen den rechten Frontalangriff im Fahrwasser der Lügenpresse-Hetze Rückgrat beweisen müssen. Stattdessen knickte er jedoch ein. Ganz, als hätte es die medienpolitischen Debatten der vergangenen Jahre nicht gegeben. Unnötiger Geländegewinn für die AfD, verschlechterte Bedingungen für Satire. Das dürfte weder Jung noch Alt gefallen.

Der marxistisch-leninistische Kulturbegriff - Briefwechsel

Stefan Engel

https://www.mlpd.de/theoretisches-organ-revolutionaerer-weg/briefwechsel-und-dokumente/der-marxistisch-leninistische-kulturbegriff-briefwechsel

Briefwechsel zur Frage des marxistisch-leninistischen Kulturbegriffs
Von RW-Redaktion
Brief eines Genossen der RW Redaktion an Stefan Engel, 23.1.18
Einige Anmerkungen zur Gliederung des RW 36
a) Zum Punkt 6.3. Zunehmende Dekadenz in der bürgerlichen Massenkultur
(...)
„Die zunehmend reaktionäre Tendenz der bürgerlichen Ideologie“ (2.2) hat ja eine allgemeine Grundlage in der Überholtheit des kapitalistischen Systems, bzw. darin, dass die Produktivkräfte über dieses System hinausgewachsen sind.
Auf der Stufe der Neuorganisation der internationalen Produktion hat die Dekadenz und Fäulnis der bürgerlichen Kultur eine neue Dimensionen angenommen. Sexismus, Pornografie, Drogenhandel, Mobbing, Unterwerfung bis hin zur Versklavung und Sadismus, Frauenhandel, organisierte Wilderei im internationalen Maßstab, Umgang mit der Natur und Naturprodukten usw.
Es gibt aber gleichzeitig eine Kultur der Massen, des Widerstandes, der Rebellion und Revolution.
Bei der Beschäftigung mit der Kunst und Kultur bin ich besonders im Zusammenhang mit der Geschichte der Musik und der konkreten Untersuchung ihrer Internationalisierung (siehe die Artikelserie dazu in der Roten Fahne 2006/2007) auf eine wesentliche Erscheinung gestoßen, wie die Herrschenden ihr Dilemma zu lösen suchen, dass sie selbst keine ideologische Grundlage für die Entwicklung einer inhaltlich frischen, perpektivisch-optimistischen Kunst haben, ohne Masseneinfluss aber nicht auskommen können bzw. wollen.
Die Sache ist so, dass die bürgerliche Massenkultur auch Elemente aus der Kultur des „Unterholzes“ als Nektar für sich aufgreift, verwertet, vermarktet und zur Stabilisierung seines gesellschaftlichen Systems der kleinbürgerlichen Denkweise nutzt; konkret nachgewiesen an verschiedenen Beispielen. Konkreter zum Beispiel des RAP/Hiphop: er entstand Ende der 60er Jahre als Teil der Gegenkultur zum Rassismus, des Zusammenhalts, des Kampfs um demokratische Rechte usw. Mit seiner Vermarktung verschärfte sich in den folgenden Jahren in Form und Inhalt das aggressive Herausstellen des Individuums, wurde damit Egoismus, Sexismus und das Konkurrenzdenken unter den Jugendlichen verbreitet.
Die Hauptmethode der Herrschenden ist heute nicht die offene Unterdrückung fortschrittlicher Elemente in der Kultur. Die Geschichte des Jazz, des Rock und Pop zeigt, dass jeder neue Ansatz von Protest und Rebellion immer schneller und raffinierter von den herrschenden Medien und Märkten für ihre Zwecke geschluckt und als Teil der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Massenkultur etabliert wurde. Das heißt, dass mit Musik - auch der dazu entwickelten Mode usw. - ein gewisses Gefühl der Unzufriedenheit, des Protestes usw. unter den Massen aufgegriffen und so gesteuert wird, dass dieses Gefühl sich nicht massenhaft als bewusster Widerspruch zum bestehenden Profitsystem entwickelt bzw. entwickeln soll.
Umgekehrt greifen die Massen auch Formen und Technik der bürgerlichen Massenkultur auf, um sie mit ihren Inhalten und in mehr oder weniger verwandelter Form ihrem Lebens- und Kampfwillen unterzuordnen, keineswegs nur auf dem Gebiet der Musik und Kunst, sondern auch der Technik, besonders der modernen Kommunikationstechnik. Das ist ein gesetzmäßiger und bereits spontaner Prozess, denn die materiellen Grundlagen für Sozialismus bzw. die Elemente der Auflösung der alten Gesellschaft reifen weiter.
Natürlich gab es schon sehr lange und auch schon vor dem Einsetzen der Neuorganisation der internationalen Produktion einen Austausch und eine Durchdringung der Musik und Kultur verschiedener Länder, eine gegenseitige Befruchtung und Weiterentwicklung. Schon mit dem Aufkommen von Radio, Fernsehen, Musikkassetten usw. nahm dieser kulturelle Austausch international bedeutend zu.
(...)
Man kann sagen: Die neue Qualität der kulturellen Entwicklung im Zusammenhang mit der Neuorganisation der internationalen Produktion zeigt sich allgemein in der zunehmenden weltweiten Vernetzung, gegenseitigen Beeinflussung und in neuen Entwicklungen auf Grundlage der neuen elektronischen, digitalen und Kommunikationstechnik und der sprunghaft gewachsenen Offenheit für internationale Entwicklungen, sowohl bei den Kulturschaffenden als auch den Verwertern.
  • Es gibt also zwei Grundrichtungen die sich hier gegenüberstehen, die in der Wirklichkeit oft vermengt sind:Kulturentwicklungen und ihre Vermarktung auf der Grundlage der Neuorganisation der internationalen Produktion, unter Nutzung modernster Mittel zum Zweck der Festigung eines staatstragenden Systems der kleinbürgerlichen Denkweise. Die Internationalisierung von Kunst und Kultur als Instrument der heute Mächtigen, über die Massenmedien Verfügenden zur Aufrechterhaltung ihrer Profite und ihrer Systeme. Dies widerspricht weltweit den Zukunftsinteressen der Völker. Sie hat geschichtlich betrachtet keine Zukunft.
  • Die Entwicklung von Kultur und Kunst als Bestandteil des respektvollen internationalen kulturellen Austausches zwischen den Völkern, auch als Teil der bewussten Entwicklung einer internationalen Arbeiter- und Volksbewegung, der Integration von Migranten in den gemeinsamen antifaschistischen, antiimperialistischen und revolutionären Kampf (siehe das kurdisch-deutsche Liederheft bzw. das 2. Rebellische Musikfestival) usw.. Diese entspricht den Zukunftsinteressen der Massen und der Vorbereitung einer internationalen sozialistischen Revolution und sie gilt es bewusst zu entwickeln.
b) Zu 7. Über die Behandlung der Denkweise in der sozialistischen Gesellschaft
a) Die Probleme des Klassenkampfs in der Sowjetunion in den 1930er Jahren
Hier habe ich überlegt, dass man die Auseinandersetzungen um die Bildende Kunst (siehe z.B. den Artikel im RF-Magazin zur „Ausstellung revolutionärer Kunst in Chemnitz“), oder die verzweifelten Erklärungsversuche der bürgerlichen Geschichtsschreiber zu Schostakovitsch und anderen Künstlern, die sich am Aufbau des Sozialismus beteiligten, aufnehmen sollte. In dieser Auseinandersetzung bin ich selbst leider nicht sehr bewandert.
(...)
Gruß
(Unterstreichung im Text durch RW-Redaktion)

Antwort von Stefan Engel an den Genossen
15.11.2018
Lieber Genosse,
vielen Dank für deine Vorschläge zur Behandlung von Fragen der Kunst und Kultur im RW 36/37 vom 21. August 2018. Ich bin leider erst jetzt dazu gekommen, im Rahmen der Veränderung der Gliederung, mich mit deinem Brief zu befassen.
Insgesamt halte ich deine schöpferischen Gedanken für sehr wertvoll und sie müssen unbedingt auch in unserem RW eingebracht werden.
Allerdings möchte ich auf einige Ungereimtheiten und auf Fehler aufmerksam machen:
1. Du behauptest, dass die Herrschenden ein Dilemma hätten, „dass sie selbst keine ideologische Grundlage für die Entwicklung einer inhaltlich frischen, perspektivisch optimistischen Kunst haben, ohne Masseneinfluss aber nicht auskommen bzw. wollen.“
Die These, dass die Herrschenden keine ideologische Grundlage haben, ist nicht richtig. Selbstverständlich ist die herrschende Kunst und Kultur Ausdruck der bürgerlichen Ideologie in seinen verschiedenste Facetten. Du beschreibst in deinem Brief daher selbst, dass sie natürlich im System der kleinbürgerlichen Denkweise eine wichtige Rolle spielen und dort auch eine entsprechende Modifikation erfahren haben. Aber die These, dass es keine ideologische Grundlage für ihre Dinge gibt, ist grundsätzlich falsch. Man muss genau untersuchen, wie ihr Problem, dass ihre bürgerliche Ideologie in der Krise ist und sie aber einen Masseneinfluss ergattern wollen, gelöst wird. Da wird zum Beispiel sehr viel mehr auf Form als auf Inhalt Wert gelegt, da wird mit der modernen Technik verschiedene Defizite in Inhalt und Form wiederum auszugleichen versucht, um die Leute zu beeindrucken. Das alles muss untersucht werden, kann aber nicht zu der These führen, dass sie keine ideologische Grundlage für ihre bürgerliche Kunst und Kultur haben.
2. Du schreibst, dass heute nicht die offene Unterdrückung fortschrittlicher Elemente der Kultur die Hauptmethode sei. Das ist einerseits richtig, führt aber in deinen Ausführungen dazu, dass du dich mit der offenen Unterdrückung dazu in der Kultur gar nicht befasst. Es häufen sich doch Fälle, wo man Embleme und Fahnen nicht tragen, Lieder nicht mehr singen darf oder Parolen nicht mehr sprechen darf, weil sie politisch nicht genehm sind. Wir haben das selbst im Laufe dieses Jahres mehrmals bei Demonstrationen und Aktivitäten erlebt. Auch die Verfolgung von „Grup Yorum“ zielt ja letztlich überhaupt auf die Unterdrückung und Diskriminierung revolutionären Kulturguts. In verschiedenen Ländern der Welt, ist der Kommunismus direkt verboten einschließlich seiner Symbole, Losungen und seiner Kultur. Diese Tendenz hat auch mit der Renaissance offen reaktionärer Ideologien, hat auch etwas mit der internationalen Rechtsentwicklung zu tun, die bei deiner These eigentlich viel zu kurz kommt. Diese Rechtsentwicklung kann sehr schnell auch zur Hauptseite werden und muss auch in unserem RW entsprechend behandelt werden.
3. Unverständlich ist deine These „Umgekehrt greifen die Massen auch Formen und Technik der bürgerlichen Massenkultur auf, um sie mit ihren Inhalten und in mehr oder weniger verwandelter Form ihrem Lebens- und Kampfwillen unterzuordnen, keineswegs nur auf dem Gebiet der Musik und Kunst, sondern auch der Technik, besonders der modernen Kommunikationstechnik. Das ist ein gesetzmäßiger und bereits spontaner Prozess, denn die materiellen Grundlagen für Sozialismus bzw. die Element der Auflösung der alten Gesellschaft reifen weiter.“
Ich muss dir ehrlich sagen, ich habe diesen Absatz mehrmals gelesen und verstehe kein Wort. Was willst du denn damit eigentlich sagen? Dass jede Kunst und Kultur seine materielle Grundlage in der politisch-ökonomischen Basis der Gesellschaft hat? Dass das natürlich eine reaktionäre Widerspiegelung ist, die direkt zum reaktionären Überbau in der imperialistischen Gesellschaft gehört, aber auch zu fortschrittlichen Erscheinungen des Kampfs gegen diese Gesellschaft? Ich bitte dich, dich in der RW-Arbeit so auszudrücken, dass man damit auch etwas anfangen kann. Du musst deine Gedanken zu Ende führen und dann aufs Papier bringen und mir nicht ein solches Kauderwelsch vorlegen.
Deine Vorschläge sind gut, aber man muss genau unterscheiden, was vorne behandelt wird bei der Dekadenz der bürgerlichen Kunst und Kultur und dann auch beim System der kleinbürgerlichen Denkweise, wozu wir eine extra Nummer des RW herausgeben. Es ist sehr wichtig, dass man hier genauer unterscheidet. Beide Teile haben eine bestimmte Berechtigung, sowohl im ersten wie im zweiten Teil unseres RW. Bitte bemühe dich doch, deine Vorschläge so exakt zu machen, dass sie auch entsprechend dem erwähnten RW 36 bzw. RW 37 zugeordnet werden können. Den neuen Gliederungsvorschlag lege ich dir bei.

Herzliche Grüße!
Stefan

Antwort des Genossen an Stefan Engel:
Lieber Stefan,
zunächst muss ich mich für die späte Antwort entschuldigen. Ich hatte mich mit deinem Brief – der am 28. Dezember 18 bei mir einging - erst nach der Revue-Aufführung im Januar 2019 befasst und den Brief auch nicht so verstanden, dass er unmittelbar beantwortet werden soll, sondern ich deinen Hinweisen entsprechend mich unter Schriftleitung, an der konkreten Erarbeitung des Abschnitts „6.3. Zunehmende Dekadenz in der bürgerlichen Massenkultur“ beteiligen soll.
(...)
Es gilt jetzt auf dem Niveau der Ergebnisse des Seminars weiter zu arbeiten, deshalb gehe ich in diesem Sinne nur kurz auf deine Hinweise zu meinem „alten“ Brief ein:
1.: Deine Kritik an meiner grundsätzlich falschen Behauptung, dass die Herrschenden ein Dilemma hätten, nämlich „dass sie selbst keine ideologische Grundlage für die Entwicklung einer inhaltlich frischen, perspektivisch optimistischen Kunst haben“ ist berechtigt. Das Seminar hat ja gerade deutlich gemacht, über welche Kanäle die bürgerliche Weltanschauung Einfluss auf das Denken nimmt. Genau deshalb muss ja das weltanschauliches Vorgefecht für die internationale sozialistische Revolution geführt werden. Wichtig finde ich deinen Hinweis, dass man genau untersuchen muss, „wie ihr Problem, dass ihre bürgerliche Ideologie in der Krise ist und sie aber einen Masseneinfluss ergattern wollen, gelöst wird. Da wird zum Beispiel sehr viel mehr auf Form als auf Inhalt Wert gelegt, da wird mit der modernen Technik verschiedene Defizite in Inhalt und Form wiederum auszugleichen versucht, um die Leute zu beeindrucken.“ Da gibt es meiner Meinung nach noch Defizite im Abschnitt 6.3.
2. Dein nächster Hinweis an mich:Du schreibst, dass heute nicht die offene Unterdrückung fortschrittlicher Elemente der Kultur die Hauptmethode sei. Das ist einerseits richtig, führt aber in deinen Ausführungen dazu, dass du dich mit der offenen Unterdrückung dazu in der Kultur gar nicht befasst.“ Das ist richtig. Neben dem Vorgang mit Grup Yorum gibt es das zunehmend auch gegenüber uns in Deutschland und gegenüber revolutionären Gruppen und Organisationen international. Die Tendenz der internationalen Rechtsentwicklung hatte ich bei der Erstellung der Reihe zur Internationalisierung der Musik natürlich noch nicht im Blick, in dem Punkt ist sie überholt. Dein Hinweis muss aber aufgenommen und entsprechend in diesem RW-Abschnitt berücksichtigt werden.
3. Aus dem von dir als „unverständlich“ und als „Kauderwelsch“ bewertete Abschnitt will ich hier gar nicht mehr lang zitieren – er ist intellektuell-abstrakt formuliert. Es ging mir konkret darum: Der Prozess der ideologischen Einflussnahme der internationalen Übermonopole und ihrer nationalen Regierungen mit kulturellen Mitteln verläuft keineswegs widerspruchsfrei. Allgemein wird z. B. durch die internationale Vernetzung – auch der Nutzung digitaler Medien - und die wachsenden Möglichkeiten sich weltweit Informationen und auch kulturelle Produkte zu beschaffen, der lokal begrenzte Horizont erweitert – eine materielle Grundlage für den internationalen Zusammenschluss im eigenen Interesse bzw. der internationalen sozialistischen Revolution.
Soweit. Herzliche Grüße!

Brief des Genossen an Stefan Engel, 13.9.19
Zur Qualifizierung des Kulturbegriffs
In der Formulierung des Abschnitts „I. 6. 3. Zunehmende Dekadenz in der bürgerlichen
Massenkultur“ wird von einem anderen Genossen folgende Kennzeichnung des „Kulturbegriffs“ vorgenommen:
„In der Kultur fasst sich auf der Grundlage der materiellen Produktion der gesamte gesellschaftliche Fortschritt der Menschheit in ihrer Lebensweise, ihren Umgangsformen, ihren Sitten und Gebräuchen zusammen. Die Sprache, Bildung, Musik, Kunst, Literatur, Film oder Wissenschaft sind nur besondere Ausdrucksformen der Kultur. Jede Gesellschaftsform bestimmt ihr Kulturniveau. Dieses prägt zugleich die Gesellschaft und jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft. Der bürgerliche Kulturbegriff reduziert das Kulturverständnis auf Disziplinen des Kulturschaffens (Literatur, Musik, Theater usw.), der Wissenschaft, Religion und Philosophie. Mit der Entwicklung der Klassengesellschaften entstanden höhere Kulturformen und die Kultur nahm Klassencharakter an. “
In dieser Qualifizierung des Kulturbegriffs fehlt meines Erachtens die Seite der Natur als eine wesentliche Seite in der dialektischen Einheit von Kultur und Natur und ihrer Entwicklung. Die Natur ist für die Kultur des Menschen, seine materiellen Produktion, seine gesellschaftlichen Fortschritte keine gleich bleibende oder passive Konstante, sondern beweglich, aktiv und passiv.
Die weltbekannten Geoglyphen in Peru, die „Nasca-Linien“ beispielsweise, waren eine kulturelle Reaktion auf die objektive Veränderung des Klimas für das Volk der Nascas. Der Mensch hat auch mit der aktiven Veränderung der Natur - zum Beispiel durch Abholzung - das Klima verändert und damit selbst veränderte Bedingungen für die Produktion, die menschliche Lebensweise und ihre Umgangsformen, Sitten und Gebräuche – also auch seiner Kultur geschaffen. Solche Wirkungen, Wechselwirkungen und Durchdringungen finden ständig statt. Und heute - mitten im fortschreitenden Übergang zu einer globalen Umweltkatastrophe – kann der Kulturbegriff erst recht nicht unabhängig von der Rolle der Natur in der Einheit von Kultur und Natur qualifiziert werden.
Der „gesamte gesellschaftliche Fortschritt der Menschheit“ ist gerade Fortschritt wenn und weil er die Einheit von Mensch und Natur höher entwickelt. Er ist Auseinandersetzung mit der Natur, die sich im Lebenskampf der Menschen, geschichtlich in den Veränderungen der Produktion und in der Entwicklung des Denkens und der Kultur der Menschen widerspiegeln. Diese Veränderungen werden in kulturellen Formen zunächst für ihre Gemeinschaft, später für ihre Klasseninteressen zum Ausdruck gebracht, mit denen die Menschen die Probleme ihrer Stellung zur Natur und ihrer Stellung zu einander lösen wollen.
Deshalb schlage ich vor nach dem Satz „Jede Gesellschaftsform bestimmt ihr Kulturniveau.“ folgendes einzufügen:
„Dieses drückt sich in der Auseinandersetzung mit der Natur, den Veränderungen der Produktion, in der Entwicklung des Denkens und den Kulturformen der Menschen aus mit denen sie die Probleme ihrer Stellung zur Natur und ihrer Stellung zu einander und im Klassenkampf lösen wollen. Und dieses prägt...“
Dazu schreibt der andere Genosse am 23.9.19:
Das ist natürlich nicht falsch. Aber ich halte es nicht für notwendig, weil die materielle Produktion und die Lebensweise wesentlich die Wechselwirkung mit der Natur einschließt. Hier extra noch die Einheit von Mensch und Natur einfügen, würde die Frage aus etwas zusätzliches und außerhalb ergänzendes behandeln. Genauso gut, könnte man weitere Elemente hinzufügen, wie die Einheit von Frau und Mann, die Kinderaufzucht usw. Im RW 23 wurde diese Einheit von Mensch und Natur der Definition der Produktion zu grunde gelegt:
Jede Produktion ist Verbindung von Arbeit und Naturstoff. Der Mensch produziert, indem er durch seine Arbeit der Natur den stofflichen Reichtum abringt; er verändert die Formen der Naturstoffe und schafft die verschiedenen Gebrauchswerte, die für die menschliche Gesellschaft nützlich sind... Dieser Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur ist eine Bedingung jedes menschlichen Lebens und für alle Gesellschaftsformationen grundlegend.“ (Seite 9)

Antwort von Stefan Engel an die beiden Genossen, 10. Oktober 2019:
Liebe Genossen,
ich habe eure Diskussion zur Qualifizierung des Kulturbegriffs vom 13. September 2019 gelesen. Ich halte den Einwand für berechtigt. Es geht hier nicht darum, lange Ausführungen zu machen, aber der Kulturbegriff muss schon richtig qualifiziert werden. Dabei fällt mir auf, dass von euch unter Kultur nur geisteswissenschaftliche Sachen gefasst werden. Aber der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, die Ernährung, die Körperkultur, die Bildung der Menschen etc. fehlt völlig. Hier folgt ihr offenbar tendenziell einem idealistischen Kulturbegriff. Es ist wichtig, dass wir von einem idealistischen Kulturbegriff wegkommen, der sich weder mit den materiellen Grundlagen in der Gesellschaft und in der Natur, noch mit der Lebensweise der Massen richtig befasst.
Herzliche Grüße
Stefan

Quellen & Links

Brief­wech­sel zur Frage des mar­xis­tisch-le­ni­nis­ti­schen Kul­tur­be­griffs­Brief­wech­sel zur Frage des mar­xis­tisch-le­ni­nis­ti­schen Kul­tur­be­griffs