Sonntag, 30. Dezember 2018

Wie am 9. November 1918 aus dem konterrevolutionären Berliner Lokal-Anzeiger die Rote Fahne wurde

»Meine Herren, das Blatt hat sich gewendet«


Von Hermann Duncker
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Faksimile der Roten Fahne von 1933
Hermann Duncker (1874–1960) war Politiker und Gewerkschaftsfunktionär. Er wurde 1893 als Student Mitglied der SPD und arbeitete nach seiner Promotion an der Leipziger Volkszeitung. Ab 1906 war er als erster Wanderlehrer der Partei tätig und zusammen mit seiner Frau Käte (1871–1953) Mitbegründer der Spartakusgruppe und der KPD. Er gründete und leitete in Berlin die Marxistische Arbeiterschule. Nach mehrmonatiger Haft 1933 ging er ins Exil nach Großbritannien, Frankreich, Marokko und in die USA, von wo er 1947 nach Deutschland zurückkehrte. Er trat der SED bei und leitete von 1949 bis zu seinem Tod die Gewerkschaftshochschule »Fritz Heckert« in Bernau bei Berlin.
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Am Morgen des 9. November waren Käte (Duncker) und ich in die Stadt gefahren. Sie hatte den Auftrag, sich um Genossen (Leo) Jogiches zu kümmern, der immer noch in Moabit gefangen saß. Seit aller Frühe waren wir Spartakus-Mitglieder schon an der Arbeit. (…)

Gefügige Herren

Ich stand auf dem Potsdamer Platz und sprach zu den Menschen, die mich umgaben. Vom Dönhoffplatz her, die Leipziger Straße herunter, nahte ein neuer, gewaltiger Demonstrationszug. (...) Als ein Lastauto mit wehender roter Fahne, besetzt mit revolutionären Matrosen und Arbeitern, an uns vorbeikam, hielten wir es an. In aller Eile machten wir den Genossen begreiflich, dass der Lokal-Anzeiger, dieses infamste Hetzblatt, unmöglich weiter das Volk vergiften dürfte. Die Matrosen zogen Rabold und mich auf den Wagen, fuhren vor den Haupteingang Zimmerstraße 35–44. Wir sprangen ab, ein paar Feldgraue und Matrosen begleiteten uns. Der Portier öffnete die Tür, niemand machte Miene, sich uns zu widersetzen. Vor der roten Fahne, die wir mit uns führten, kapitulierten alle Gegner. Im Setzersaal hielt ich eine kurze Ansprache: Die Setzer sollten fortan nicht mehr für Geldsack- und Hohenzollerninteressen schuften. Sie sollten helfen, die revolutionäre proletarische Zeitung zu schaffen. Zwar sahen wir in einige verwunderte Gesichter, aber die meisten zeigten eine ängstlich eilfertige Bereitwilligkeit.
Nun wurden wir in den Sitzungssaal gebeten, wo sich die Redakteure versammelt hatten. Da saßen sie also, die würdigen »Herren«, in feierlichem und erwartungsvollem Schweigen. Was sollte ich mich lange mit ihnen abgeben! Von der Straße her drangen Rufe der Menge herauf. Kurz und bündig sagte ich: »Meine Herren, das Blatt hat sich gewendet. Ihr Blatt muss sich auch wenden! Sie verstehen, dass eine siegreiche Revolution eine konterrevolutionäre Presse nicht dulden kann.« Nun geschah das Merkwürdige – die Herren nickten, ja freilich, sie verständen, es könne wohl nicht anders sein. Sie stellten uns den Betrieb zur Verfügung. Dass ein revolutionärer Umschwung mit dem Berliner Lokal-Anzeigeraufräumen musste, schien selbst diesen Leuten zu dieser Stunde eine unausweichliche Folgerung.

Revolutionäre Losungen

Zusammen mit dem Genossen Ernst Meyer, den wir inzwischen herangeholt hatten, stellten wir fest, dass die Abendnummer des 9. November bereits druckfertig vorlag. Wir ließen nur einige Teile aus dem fertigen Satzspiegel herausnehmen, fehlte es uns doch an der nötigen Zeit, von Grund auf eine neue Zeitung herzustellen. So mochte denn der getreue Lokal-Anzeiger-Leser sein Leibblatt zur gewohnten Stunde vor sich sehen, wenn auch mit der für ihn sicher erschreckenden Schlagzeile: »Berlin unter der roten Fahne«. Auf der ersten Seite des Blattes brachten wir die wichtigsten revolutionären Losungen zum Abdruck, wahrheitsgetreue Nachrichten über den Stand der Revolution. Die Zeitung trug den Kopf: Die Rote Fahne. Ehemaliger Berliner Lokal-Anzeiger. An der Spitze stand die Notiz: »Die Redaktion des Berliner Lokal-Anzeigers ist von Vertretern des revolutionären Volkes (Spartakusgruppe) besetzt. Die Redaktionsführung ist damit an die Leitung der Genossen übergegangen.« In unserem Bericht über den revolutionären Umschwung hieß es: »Mit rasender Wucht rollt sich die Entwicklung der Ereignisse nun auch in Berlin ab. Seit heute vormittag sind fast alle Stellen, die für den Verkehr, die Verwaltung und die Sicherheit der Stadt wichtig sind, in den Händen des Arbeiter- und Soldatenrates und seiner Beauftragten. Die Umwälzung setzte vormittags ruhig ein und vollzog sich auch weiterhin in völlig geordneten Formen.«
Während unsere erste Rote Fahne gesetzt und gedruckt wurde, entwarfen wir Texte für einen Handzettel und für ein Flugblatt, die auch sofort fertiggestellt und den Genossen zur Verteilung übergeben wurden.
Erst am nächsten Tag kam Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis nach Berlin, sie eilte sogleich auf die Redaktion des Lokal-Anzeigers. Dort hatten wir inzwischen die zweite Nummer unserer Roten Fahnezusammengestellt, die als Aufmacher die Proklamation zur Wahl der Arbeiterräte brachte. Auch diese zweite Nummer musste zur Füllung noch allerlei fertigen Satz des ehemaligen Lokal-Anzeigersverwenden, forderten doch die stürmischen Tage der Revolution mehr von uns als allein redaktionelle Tätigkeit! So ist auch diese Nummer noch ein sonderbares Gemisch von revolutionärer proletarischer Sprachgewalt und dem trockenen Papierdeutsch der bürgerlichen Redakteure. Deutlich zeigen diese ersten beiden Nummern unseres Zentralorgans, wie es in der Hast und revolutionären Ungeduld der roten Novembertage entstand. Nur diese beiden Nummern konnten im Scherl-Verlag, im Lokal-Anzeiger, gedruckt werden.

Rede Rosa Luxemburgs

Als Rosa Luxemburg an jenem 10. November in die Redaktion kam, wehte dort bereits ein anderes Lüftchen. Die Gefügigkeit, mit der sich die Herren und das gesamte Personal am Vortage dem revolutionären Willen des Proletariats unterworfen hatten, war einer immer stärker werdenden Widersetzlichkeit und Sabotage gewichen. Die Herren von Verlag und Redaktion gingen zur Regierung, schrien dort Zeter und Mordio, und die neue »Revolutionsregierung« schenkte den Klagen der bürgerlichen Pressegenerale ein williges Ohr. (Friedrich) Ebert verfügte, dass die Zeitung ihren ehemaligen Besitzern wieder auszuliefern sei, ihr konterrevolutionäres Gift also ungehindert weiterspritzen durfte. Damit verstärkte sich die Aufsässigkeit mancher Setzer und Drucker. Da hielt Rosa Luxemburg vor der gesamten Belegschaft eine so eindringliche und leidenschaftliche Rede, dass von dieser Seite keine Schwierigkeiten mehr gemacht wurden und die zweite Nummer der Roten Fahne in Druck ging.
Bald darauf kamen der Verleger und die Redakteure, denen Ebert jetzt regierungstreue Soldaten mitgegeben hatte, zurück. Die angetrunkenen Soldaten nahmen uns Spartakus-Genossen in den Redaktionsräumen fest und sperrten uns in einen engen Raum. Aber selbst in dieser Stunde konnte Rosa beruhigend auf unsere Peiniger einwirken. Nach einiger Zeit fanden wir die Türen unversperrt. Die betrunkene Wache war verschwunden. Doch war jetzt an Arbeit für uns in diesem Haus nicht mehr zu denken, zumal das Personal inzwischen mit Versprechungen und Einschüchterungen gegen Spartakus fanatisiert worden war. Andererseits wagte niemand an diesem 10. November, an dem immer noch bewaffnete Demonstrationszüge unter roten Fahnen durch die Straßen der Stadt fluteten, sich direkt an uns zu vergreifen.
Bald darauf fand die Leitung des Spartakusbundes eine eigene Druckerei, und so konnte die Rote Fahneunter der Redaktion von Rosa und Karl am 18. November neu erscheinen. Zwei Monate später waren Karl und Rosa von der Regierungssoldateska teuflisch ermordet. (…) Oft wurde die Rote Fahne in den kommenden Jahren verboten, erschien dann illegal, unermüdlich die deutsche Arbeiterklasse zum Kampf aufrufend. Sie war das erste Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, an deren Gründung Käte und ich mitbeteiligt waren.

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