Willkür in Istanbul
Prozessbeginn am Mittwoch in Istanbul gegen 61 Arbeiter und Gewerkschafter
Foto: BULENT KILIC / AFP
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In Istanbul hat am Mittwoch der Prozess gegen 61 Arbeiter und Gewerkschafter begonnen. Sie waren vor mehr als zwei Monaten wegen der unerträglichen Arbeitsbedingungen auf der Baustelle des neuen Flughafens in der türkischen Metropole in den Streik getreten. Von den Angeklagten sitzen bereits 31 in Untersuchungshaft.
Das Interesse an der ersten Anhörung war so groß, dass sie von dem zunächst angedachten Verhandlungsraum in den Essenssaal verlegt werden musste, wie die Deutsche Presseagentur am Mittwoch meldete. Zugelassen waren dennoch nur ein Angehöriger pro Arbeiter und wenige Journalisten. Vor dem Gericht hatten sich zahlreiche Unterstützer versammelt, sie skandierten »Arbeiter sind keine Sklaven!« und forderten auf Schildern »Freiheit für die Arbeiter des 3. Flughafens«.
Die Streikenden hatten im September gegen menschenunwürdige Unterkünfte, späte Lohnzahlungen und schlechte Sicherheitsvorkehrungen protestieren wollen. Erst am Dienstag hatte dpa berichtet, dass nach offiziellen türkischen Angaben in den vier Jahren seit Baubeginn mindestens 52 Arbeiter bei Unfällen auf dem am 29. Oktober eröffneten Flughafen gestorben sind. Vorgeworfen wird den 61 Arbeitern und Gewerkschaftern jetzt Widerstand gegen die Staatsgewalt, Verstoß gegen das Recht auf Arbeit und Teilnahme an einer Versammlung mit Waffen.
Am Dienstag war bereits bekanntgeworden, dass ein Gericht in Istanbul die Verurteilung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtas wegen »Terrorpropaganda« bestätigt hatte. Damit liegt erstmals ein rechtskräftiges Urteil gegen den ehemaligen Vorsitzenden der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) vor, der seit zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt. Am 7. September dieses Jahres war er zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt worden und hatte dagegen Einspruch eingelegt. Mit ihm war damals auch der frühere HDP-Abgeordnete Sirri Asürrey Önder zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden. Auch das wurde am Dienstag von dem Berufungsgericht bestätigt.
Der Vizepräsident und Writers-in-Prison-Beauftragte des deutschen PEN-Zentrum, Ralf Nestmeyer, bezeichnete die Verurteilung von Demirtas und die »Terrorvorwürfe« gegenüber junge Welt als »politisch begründet und daher weder hinnehmbar noch berechtigt«. Die deutsche Schriftstellervereinigung hatte den linken Politiker und Autor am Dienstag zum Ehrenmitglied ernannt. Nestmeyer wies gegenüber jWauch darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 20. November die sofortige Beendigung von Demirtas’ Untersuchungshaft und seine Freilassung gefordert hatte.
Demirtas’ Anwalt Mahsuni Kamaran schrieb am Dienstag im Kurznachrichtendienst Twitter, dass die Justiz den ehemaligen Vorsitzenden der HDP jetzt formal aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Damit hätte sie dann dem EGMR-Urteil Genüge getan. Weil Demirtas’ Einspruch jedoch zurückgewiesen wurde und die vier Jahre und acht Monate Haft bestätigt wurden, so der Anwalt Kamaran, werde sein Mandant weiter im Gefängnis »als Geisel gehalten« werden.
Am Mittwoch berichtete zudem die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah von landesweiten Razzien und Massenverhaftungen im ganzen Land. Wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung wurden demnach am Vortag 140 Menschen eingesperrt. Im Gefängnis in der Türkei sitzt auch immer noch der österreichische jW-Autor Max Zirngast.
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