Das Wort Menschenrechte ist heute in aller Munde, besonders bei Politikern, die wirtschaftlich oder militärisch mit Regierungen ins Geschäft kommen wollen, die starke Defizite in Sachen Menschenrechte aufweisen. Menschenrechtliche Ermahnungen sind an sich lobenswert, aber nicht frei von Anmaßung. Bekanntlich soll man erst den Balken aus dem eigenen Auge ziehen, bevor man sich an den Splitter im Auge des Anderen macht.
Zu Carl von Ossietzkys Zeiten spielten die Menschenrechte im Sprachgebrauch deutscher Politiker wie überhaupt in der Öffentlichkeit nur eine geringe Rolle. Die Deutsche Liga für Menschenrechte, die einzige Organisation, der Ossietzky dauerhaft und engagiert angehörte, übernahm 1922 ihren Namen von der französischen Schwesterorganisation. Ursprünglich hatte sie sich Bund Neues Vaterland genannt, was recht deutschtümelnd klingt. Das Wort »Vaterland« war von der reaktionären Rechten in Besitz genommen. Doch liegt bei dem im Kriege gegründeten Bund die Betonung auf dem Wort »neu«. Es signalisiert die Absage an das im Kaiserreich und auch noch in der Republik vorherrschende nationalistische und militaristische Denken.
In Ossietzkys Artikeln kommt das Wort »Menschenrechte« vorwiegend bei der Nennung der deutschen oder französischen Liga vor. Nur sechsmal erwähnt er es in einem sachlichen Zusammenhang. Der allerdings gibt Einblick in sein politisches Denken. Er führt die Menschenrechte an, wenn er Partei für Unterdrückte ergreift. Eine Erwähnung ist freilich ganz unpolitisch: In einer ironischen Besprechung einer Aufführung von Schillers »Don Carlos« bezeichnet er den Marquis Posa als »Anwalt der Menschenrechte«. (GA 315, 26) Bemerkenswert aber ist, dass er noch im Krieg gegen das als »Erbfeind« gehasste Frankreich die Erklärung der Menschenrechte der französischen Revolution als positives Beispiel den 1819 erlassenen repressiven Karlsbader Beschlüssen des Deutschen Bundes gegenüberstellt. (GA 25, 74 f.) Selbst wenn er vermerkt, dass die Proklamation der Menschenrechte von 1793 mit den französischen Bajonetten einherging, desavouiert das irritierende Bündnis in seinen Augen nicht die bis heute nachwirkende revolutionäre Errungenschaft. (GA 564, 34) Er richtet sie sogar als Mahnung gegen Frankreich selbst, genauer gegen seine französischen Gesinnungsgenossen, die Frankreichs militärische Unterstützung Spaniens im Kampf gegen die aufständischen Rifkabylen zu rechtfertigen suchten, indem sie mit Hinweis auf das tyrannische Auftreten des Anführers Abd el-Krim sich als Anwalt »der Menschenrechte der Kabylen gegen ihr selbsterkorenes Haupt« gerierten. Ossietzky, in dessen Sicht ein Afrikaner gegen europäische Großmächte aufgestanden war, fragt sich: »Ist dies noch ahnungsloser Zivilisations-Fimmel oder schon balkendicker cant [Heuchelei]«? (GA 642, 28-31)
Aufstände unterdrückter Völker gab es auch in Europa. In der Westukraine erhoben sich immer wieder eine »großenteils kommunistische Landbevölkerung« und eine »fascistisch gefärbte« bürgerlich-nationalistische Bewegung gegen die »warschauer Machthaber«. Angesichts der harschen Reaktionen der polnischen Regierung befürchtete Ossietzky, dass den wenigen Deutschen der Mut genommen werde, sich um eine Verständigung mit einem Staat zu bemühen, »dessen Gewalthaber die Menschenrechte außer Kurs gesetzt haben«. (GA 1017, 78-81 u. 109 f.)
Auch gegenüber der deutschen Regierung pochte er auf die Beachtung der Menschenrechte. Nach den Wahlen zum Reichstag im September 1930, bei denen die Nazis von einer parlamentarischen Randexistenz zur zweitstärksten Fraktion katapultiert worden waren, hielt er in einer Aufzählung eines umfangreichen politischen Sündenregisters Reichskanzler Brüning vor, mit verschränkten Armen zugesehen zu haben, »wie der Wahlkampf ausschließlich gegen Links, gegen die Arbeiterschaft geführt wurde, gegen Erfüllungspolitik und Völkerbund, gegen Sozialpolitik, gegen Gedankenfreiheit und Menschenrechte«. (GA 1011, 90-95)
Unter dem Präsidialregime Hindenburg/Brüning bedrohte die Missachtung von Gedankenfreiheit und Menschenrechten Carl von Ossietzkys berufliche Existenz als demokratischer und pazifistischer Publizist. Die Pressefreiheit ist heute als ein Menschenrecht in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 und in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 anerkannt. Im Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 wird sie unter den Grundrechten aufgeführt. In der Weimarer Verfassung wird sie nicht ausdrücklich genannt, sie ist aber mitgemeint, wenn es im Abschnitt »Die Einzelperson« in Artikel 118 heißt: »Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.« Dem markigen Satz: »Eine Zensur findet nicht statt«, folgt ohne Umschweife die Einschränkung: »Doch können ...« Unter anderem werden gesetzliche Maßnahmen zur »Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur« für zulässig erklärt. Es dauerte allerdings bis 1926, ehe der Reichstag unter einer Regierung der bürgerlichen Mitte ein heiß umkämpftes »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« verabschiedete. Ossietzky charakterisierte es so: »Das Zensurgesetz ist da, und wir wollen gern gestehen: es gehört zum Bild der falschen Republik.« Mit klarem Blick für bedrohliche Entwicklungen erkannte er schon vier Jahre vor Errichtung der Präsidialdiktatur in dem Gesetz eine »Vorarbeit für kommende Zeit«. (GA 176, 65-67 u. 707, 121 f.)
Die Gefahr zog schon herauf, als noch die sozialdemokratisch geführte Große Koalition regierte. Sie bedrohte ihn persönlich. Der Oberreichsanwalt Karl August Werner, schon vor 1933 Mitglied der NSDAP, allerdings insgeheim, leitete im August 1929 eine Voruntersuchung wegen Verrats militärischer Geheimnisse gegen Ossietzky als verantwortlichen Redakteur ein und gegen Walter Kreiser, den Verfasser des inkriminierten Artikels, ein Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte. Unter der Präsidialdiktatur Hindenburg/Brüning kam es im November 1931 vor dem Reichsgericht zum Prozess. Bis dahin war in zwei »Verordnungen des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen« beachtliches Drohpotential gegen die Presse angehäuft worden.
Bereits nach den verheerenden Reichstagswahlen vom September 1930 besprach Ossietzky mit Tucholsky eine Vorgehensweise für die Weltbühne, »falls das Blättle einmal bei uns Schwierigkeiten hat«, wie er seiner Frau schrieb. Er fügte hinzu: »Ich wünsche sehr, dass das alles nicht nötig sein wird.« (GA D 245, 17 f.) Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Die umfassende erste Notverordnung sah ein bis zu sechs Monaten reichendes Verbot periodischer Druckschriften vor, wenn in ihnen zu »Ungehorsam« gegen Gesetze und Verordnungen aufgefordert oder angereizt werde, oder staatliche Behörden und leitende Beamte »böswillig verächtlich« gemacht würden. Ein sechsmonatiges Verbot hätte die Weltbühne nicht durchgestanden, war sich Ossietzky sicher. Er bewertete die Verordnung als »eine Verletzung der Verfassung«, als ein »Willkürregiment in Großfolio«, als Maßnahme einer »Diktatur«.
Die zweite Verordnung richtete sich ausschließlich gegen die Pressefreiheit. Die Polizei wurde ermächtigt, Zeitungen und Zeitschriften zu beschlagnahmen, wenn sie Beiträge brachten, welche »die öffentliche Sicherheit und Ordnung« gefährdeten. Damit war im Prinzip jede Kritik an Notverordnungen verboten, die nach Artikel 48 nur zu dem Zweck erlassen werden konnten, die gestörte oder gefährdete öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Ossietzky resümierte: »Die Fascisierung schreitet unaufhaltsam fort. Jede Zeitung ein Regierungsorgan – das steht am Ende der Entwicklung, die mit dieser Notverordnung gegen die Pressefreiheit begonnen hat.«
Wie der gegen die Weltbühne geführte Landesverratsprozess zeigt, bedurfte es nicht unbedingt solcher Notverordnungen, um gegen eine unliebsame Presse vorzugehen. Landesverratsprozesse gegen Pazifisten waren kein Novum in der Weimarer Republik. Doch mitten im Auflösungsprozess des Verfassungsstaates erzielte das Urteil, das das Reichsgericht über Ossietzky und Kreiser verhängte, eine besonders abschreckende Wirkung. Wie gemeine Straftäter wurden die Angeklagten zu einer ehrenrührigen Gefängnisstrafe verurteilt. In ihrer Begründung führten die Richter aus, dass der Presse eine Kritik auch »gegenüber unserer kleinen Reichswehr« keineswegs verwehrt sei, dass sie aber die Grenze zwischen sachlicher Kritik einerseits und Hetze und Verrat andererseits einhalten müsse. Nun war der Artikel durch und durch sachlich gehalten, nicht die Spur von Hetze. Die Richter fügten sich den Wünschen der Reichswehr, und da sie sich als Juristen ihrer Sache nicht sicher waren, schwangen sie sich zu einer moralischen Verurteilung auf, die jedem Publizisten klarmachte, in welche Gefahr er sich begab, wenn er illegale militärische Machenschaften aufdeckte: »Die Straftat der Angeklagten, die ihre Treupflicht als Staatsbürger verletzt haben, ist als eine staatsschädliche anzusprechen: Unbekümmert um die Interessen ihres Vaterlandes in schwerer Zeit und unter deren bewusster Nichtachtung haben sie aus Sensationsbedürfnis das Maß einer sachlichen Kritik weit überschritten.« (GA D 269, 1052-1061)
Eine derartige höchstrichterliche Urteilsbegründung erscheint uns heute unwahrscheinlich. Doch ist von den auf Linie gebrachten Gerichten in den USA und etwa auch Polens entsprechendes Anschauungsmaterial zu befürchten. Vestigia terrent: Viele Spuren führen in Richtung Diktatur und keine führt zurück.
Zitiert wird nach der Oldenburger Gesamtausgabe der Schriften Ossietzkys (GA), und zwar bezeichnet die erste Ziffer den Artikel, die zweite die Zeile. Ein vorangestelltes D verweist auf einen Text im Dokumentenband.
Zu Carl von Ossietzkys Zeiten spielten die Menschenrechte im Sprachgebrauch deutscher Politiker wie überhaupt in der Öffentlichkeit nur eine geringe Rolle. Die Deutsche Liga für Menschenrechte, die einzige Organisation, der Ossietzky dauerhaft und engagiert angehörte, übernahm 1922 ihren Namen von der französischen Schwesterorganisation. Ursprünglich hatte sie sich Bund Neues Vaterland genannt, was recht deutschtümelnd klingt. Das Wort »Vaterland« war von der reaktionären Rechten in Besitz genommen. Doch liegt bei dem im Kriege gegründeten Bund die Betonung auf dem Wort »neu«. Es signalisiert die Absage an das im Kaiserreich und auch noch in der Republik vorherrschende nationalistische und militaristische Denken.
In Ossietzkys Artikeln kommt das Wort »Menschenrechte« vorwiegend bei der Nennung der deutschen oder französischen Liga vor. Nur sechsmal erwähnt er es in einem sachlichen Zusammenhang. Der allerdings gibt Einblick in sein politisches Denken. Er führt die Menschenrechte an, wenn er Partei für Unterdrückte ergreift. Eine Erwähnung ist freilich ganz unpolitisch: In einer ironischen Besprechung einer Aufführung von Schillers »Don Carlos« bezeichnet er den Marquis Posa als »Anwalt der Menschenrechte«. (GA 315, 26) Bemerkenswert aber ist, dass er noch im Krieg gegen das als »Erbfeind« gehasste Frankreich die Erklärung der Menschenrechte der französischen Revolution als positives Beispiel den 1819 erlassenen repressiven Karlsbader Beschlüssen des Deutschen Bundes gegenüberstellt. (GA 25, 74 f.) Selbst wenn er vermerkt, dass die Proklamation der Menschenrechte von 1793 mit den französischen Bajonetten einherging, desavouiert das irritierende Bündnis in seinen Augen nicht die bis heute nachwirkende revolutionäre Errungenschaft. (GA 564, 34) Er richtet sie sogar als Mahnung gegen Frankreich selbst, genauer gegen seine französischen Gesinnungsgenossen, die Frankreichs militärische Unterstützung Spaniens im Kampf gegen die aufständischen Rifkabylen zu rechtfertigen suchten, indem sie mit Hinweis auf das tyrannische Auftreten des Anführers Abd el-Krim sich als Anwalt »der Menschenrechte der Kabylen gegen ihr selbsterkorenes Haupt« gerierten. Ossietzky, in dessen Sicht ein Afrikaner gegen europäische Großmächte aufgestanden war, fragt sich: »Ist dies noch ahnungsloser Zivilisations-Fimmel oder schon balkendicker cant [Heuchelei]«? (GA 642, 28-31)
Aufstände unterdrückter Völker gab es auch in Europa. In der Westukraine erhoben sich immer wieder eine »großenteils kommunistische Landbevölkerung« und eine »fascistisch gefärbte« bürgerlich-nationalistische Bewegung gegen die »warschauer Machthaber«. Angesichts der harschen Reaktionen der polnischen Regierung befürchtete Ossietzky, dass den wenigen Deutschen der Mut genommen werde, sich um eine Verständigung mit einem Staat zu bemühen, »dessen Gewalthaber die Menschenrechte außer Kurs gesetzt haben«. (GA 1017, 78-81 u. 109 f.)
Auch gegenüber der deutschen Regierung pochte er auf die Beachtung der Menschenrechte. Nach den Wahlen zum Reichstag im September 1930, bei denen die Nazis von einer parlamentarischen Randexistenz zur zweitstärksten Fraktion katapultiert worden waren, hielt er in einer Aufzählung eines umfangreichen politischen Sündenregisters Reichskanzler Brüning vor, mit verschränkten Armen zugesehen zu haben, »wie der Wahlkampf ausschließlich gegen Links, gegen die Arbeiterschaft geführt wurde, gegen Erfüllungspolitik und Völkerbund, gegen Sozialpolitik, gegen Gedankenfreiheit und Menschenrechte«. (GA 1011, 90-95)
Unter dem Präsidialregime Hindenburg/Brüning bedrohte die Missachtung von Gedankenfreiheit und Menschenrechten Carl von Ossietzkys berufliche Existenz als demokratischer und pazifistischer Publizist. Die Pressefreiheit ist heute als ein Menschenrecht in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 und in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 anerkannt. Im Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 wird sie unter den Grundrechten aufgeführt. In der Weimarer Verfassung wird sie nicht ausdrücklich genannt, sie ist aber mitgemeint, wenn es im Abschnitt »Die Einzelperson« in Artikel 118 heißt: »Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.« Dem markigen Satz: »Eine Zensur findet nicht statt«, folgt ohne Umschweife die Einschränkung: »Doch können ...« Unter anderem werden gesetzliche Maßnahmen zur »Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur« für zulässig erklärt. Es dauerte allerdings bis 1926, ehe der Reichstag unter einer Regierung der bürgerlichen Mitte ein heiß umkämpftes »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« verabschiedete. Ossietzky charakterisierte es so: »Das Zensurgesetz ist da, und wir wollen gern gestehen: es gehört zum Bild der falschen Republik.« Mit klarem Blick für bedrohliche Entwicklungen erkannte er schon vier Jahre vor Errichtung der Präsidialdiktatur in dem Gesetz eine »Vorarbeit für kommende Zeit«. (GA 176, 65-67 u. 707, 121 f.)
Die Gefahr zog schon herauf, als noch die sozialdemokratisch geführte Große Koalition regierte. Sie bedrohte ihn persönlich. Der Oberreichsanwalt Karl August Werner, schon vor 1933 Mitglied der NSDAP, allerdings insgeheim, leitete im August 1929 eine Voruntersuchung wegen Verrats militärischer Geheimnisse gegen Ossietzky als verantwortlichen Redakteur ein und gegen Walter Kreiser, den Verfasser des inkriminierten Artikels, ein Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte. Unter der Präsidialdiktatur Hindenburg/Brüning kam es im November 1931 vor dem Reichsgericht zum Prozess. Bis dahin war in zwei »Verordnungen des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen« beachtliches Drohpotential gegen die Presse angehäuft worden.
Bereits nach den verheerenden Reichstagswahlen vom September 1930 besprach Ossietzky mit Tucholsky eine Vorgehensweise für die Weltbühne, »falls das Blättle einmal bei uns Schwierigkeiten hat«, wie er seiner Frau schrieb. Er fügte hinzu: »Ich wünsche sehr, dass das alles nicht nötig sein wird.« (GA D 245, 17 f.) Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Die umfassende erste Notverordnung sah ein bis zu sechs Monaten reichendes Verbot periodischer Druckschriften vor, wenn in ihnen zu »Ungehorsam« gegen Gesetze und Verordnungen aufgefordert oder angereizt werde, oder staatliche Behörden und leitende Beamte »böswillig verächtlich« gemacht würden. Ein sechsmonatiges Verbot hätte die Weltbühne nicht durchgestanden, war sich Ossietzky sicher. Er bewertete die Verordnung als »eine Verletzung der Verfassung«, als ein »Willkürregiment in Großfolio«, als Maßnahme einer »Diktatur«.
Die zweite Verordnung richtete sich ausschließlich gegen die Pressefreiheit. Die Polizei wurde ermächtigt, Zeitungen und Zeitschriften zu beschlagnahmen, wenn sie Beiträge brachten, welche »die öffentliche Sicherheit und Ordnung« gefährdeten. Damit war im Prinzip jede Kritik an Notverordnungen verboten, die nach Artikel 48 nur zu dem Zweck erlassen werden konnten, die gestörte oder gefährdete öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Ossietzky resümierte: »Die Fascisierung schreitet unaufhaltsam fort. Jede Zeitung ein Regierungsorgan – das steht am Ende der Entwicklung, die mit dieser Notverordnung gegen die Pressefreiheit begonnen hat.«
Wie der gegen die Weltbühne geführte Landesverratsprozess zeigt, bedurfte es nicht unbedingt solcher Notverordnungen, um gegen eine unliebsame Presse vorzugehen. Landesverratsprozesse gegen Pazifisten waren kein Novum in der Weimarer Republik. Doch mitten im Auflösungsprozess des Verfassungsstaates erzielte das Urteil, das das Reichsgericht über Ossietzky und Kreiser verhängte, eine besonders abschreckende Wirkung. Wie gemeine Straftäter wurden die Angeklagten zu einer ehrenrührigen Gefängnisstrafe verurteilt. In ihrer Begründung führten die Richter aus, dass der Presse eine Kritik auch »gegenüber unserer kleinen Reichswehr« keineswegs verwehrt sei, dass sie aber die Grenze zwischen sachlicher Kritik einerseits und Hetze und Verrat andererseits einhalten müsse. Nun war der Artikel durch und durch sachlich gehalten, nicht die Spur von Hetze. Die Richter fügten sich den Wünschen der Reichswehr, und da sie sich als Juristen ihrer Sache nicht sicher waren, schwangen sie sich zu einer moralischen Verurteilung auf, die jedem Publizisten klarmachte, in welche Gefahr er sich begab, wenn er illegale militärische Machenschaften aufdeckte: »Die Straftat der Angeklagten, die ihre Treupflicht als Staatsbürger verletzt haben, ist als eine staatsschädliche anzusprechen: Unbekümmert um die Interessen ihres Vaterlandes in schwerer Zeit und unter deren bewusster Nichtachtung haben sie aus Sensationsbedürfnis das Maß einer sachlichen Kritik weit überschritten.« (GA D 269, 1052-1061)
Eine derartige höchstrichterliche Urteilsbegründung erscheint uns heute unwahrscheinlich. Doch ist von den auf Linie gebrachten Gerichten in den USA und etwa auch Polens entsprechendes Anschauungsmaterial zu befürchten. Vestigia terrent: Viele Spuren führen in Richtung Diktatur und keine führt zurück.
Zitiert wird nach der Oldenburger Gesamtausgabe der Schriften Ossietzkys (GA), und zwar bezeichnet die erste Ziffer den Artikel, die zweite die Zeile. Ein vorangestelltes D verweist auf einen Text im Dokumentenband.
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