»Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren.« Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) – ein kurzes, lange unterschätztes, aber wirkmächtiges Dokument – beginnt mit diesem wunderbaren Satz. Er machte die uneingelösten Versprechen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Menschenrechtserklärung zum damals unerhört erscheinenden Programm für die gesamte Menschheit.
Dass dieser programmatische Text am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ohne Gegenstimmen und bei wenigen Enthaltungen angenommen wurde, lag allerdings auch daran, dass viele Staaten nicht vorhatten, die darin festgeschriebenen menschenrechtlichen Standards politisch und rechtlich umzusetzen. Ein iranischer Minister bezeichnete die Erklärung entwaffnend ehrlich als »ohnehin nur ein Stück Papier«, das ihn nicht interessieren müsse. Und in gewisser Weise hatte er Recht: Die Erklärung enthält keine rechtlichen Verpflichtungen. Kein Staat kann zu ihrer Einhaltung gezwungen beziehungsweise wegen Nichteinhaltung bestraft werden.
Trotzdem: Es gibt nicht viele Texte, die auf so große politische Resonanz gestoßen sind.
Als meistübersetztes Dokument der Geschichte ist die AEMR zum anerkannten Maßstab für die menschenrechtliche Bewertung von politischem Handeln geworden und außerdem Grundlage zweier zentraler und rechtlich bindender Menschenrechtspakte (dem Zivil- und dem Sozialpakt, beide 1966 verabschiedet).
Nicht ohne Grund spricht man bei ihrer Bewertung und Einordnung inzwischen von Völkergewohnheitsrecht.
Viele seit 1948 geschlossene Menschenrechtsabkommen verstehen sich als Umsetzung von einem oder mehreren ihrer 30 Artikel.
So wurde zum Beispiel das in Artikel 2 festgeschriebene Verbot der Diskriminierung in der Behindertenrechtskonvention, die seit 2008 in Deutschland geltendes Recht ist, ausbuchstabiert.
Vertraglich und gesetzgeberisch hat sich in den letzten 70 Jahren viel getan. Die Durchsetzung der Standards allerdings ist zu schwach. Nicht zuletzt im Völkerstrafrecht, wenn man zum Beispiel Zuständigkeiten und Durchgriffsmöglichkeiten des Internationalen Strafgerichtshofes betrachtet.
Und ein Stück weit leidet die AEMR an ihrem eigenen Erfolg: Inzwischen ist so viel verrechtlicht, gibt es so viele (Beschwerde-)Mechanismen, so viele Ausschüsse, so große Vermittlungsprobleme, dass manche Opfer von Menschenrechtsverletzungen den Wald ihrer Rechte vor lauter Konventions- und Vertragsorgan-Bäumen nicht mehr sehen und den ihnen zustehenden Schutz damit nicht in Anspruch nehmen können.
Auch wenn heute nicht unbedingt alles schlechter ist als früher, sondern bei manchem Problem häufig der Blick geschulter und damit schärfer geworden ist, ist doch zu beobachten, dass der politische Konsens über die Stützung der Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts immer mehr aufgekündigt wird.
Heute werden Menschenrechte vielerorts nicht mehr nur verdeckt verletzt, sondern offen gebrochen und als Ganzes inklusive der internationalen Schutzmechanismen in Frage gestellt.
Populist_innen und Autokrat_innen können es sich leisten, die Geltung des Rechtes grundsätzlich zu bestreiten. Und das nicht nur weit weg außerhalb Europas, sondern immer mehr auch in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Man denke nur an den Umgang mit der eigentlich unabhängigen Justiz in Ungarn oder Polen.
Menschenrechtsverteidiger_innen – ob sie sich gegen Zwangsumsiedlungen bei Staudammprojekten oder für die Rechte von LGBTI*-Minderheiten einsetzen – leiden besonders unter diesen Entwicklungen und werden oft mit unsäglichen Begründungen an ihrer Arbeit gehindert und verfolgt.
Den 70. Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) nahm das FORUM MENSCHENRECHTE zum Anlass, diese Entwicklungen und Gegenstrategien dazu bei einer zweitägigen Fachtagung zum UN-Menschenrechtsrat und einer öffentlichen Abendveranstaltung Mitte Oktober in Berlin zu diskutieren und damit einen ganzen Reigen von Veranstaltungen zum Jubiläum zu eröffnen.
Die beiden ersten Veranstaltungen widmeten sich aus unserer Sicht drängenden Fragen wie: Wie relevant ist die AEMR in Zeiten, in denen weltweit Ungleichheit zunimmt und politische Stabilität abnimmt? Wie verändern sich zurzeit die »menschenrechtspolitische Landschaft«, die menschenrechtspolitischen Prioritäten? Sind die uns bekannten MR-Instrumente den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts noch gewachsen beziehungsweise geeignet, die in der AEMR festgehaltenen menschenrechtlichen Standards zu sichern?
Eines der Schwerpunktthemen unserer Fachtagung war aus traurigem aktuellem Anlass und angesichts weltweit weiter steigender Rüstungsexporte die Frage, wie das in Artikel 3 der AEMR festgeschriebene Recht auf Leben in Konflikten oder kriegerischen Auseinandersetzungen gewährleistet werden kann.
Dringend nötig erscheint uns, nach Wegen zu suchen, wie humanitäre und menschenrechtliche Herangehensweisen in Konfliktsituationen besser zusammengeführt werden können.
Viele unserer rund 50 Mitgliedsorganisationen nutzen das Jubiläumsjahr auch für eigene Kampagnen (zum Beispiel Amnesty für Menschenrechtsverteidiger_innen: »Mut braucht Schutz«), Publikationen zur Relevanz der AEMR aus der Sicht eigener thematischer Schwerpunkte und Aktivitäten (zum Beispiel FIAN mit einer Artikelreihe zu den sozialen Menschenrechten auf seiner Website) und Veranstaltungen.
Auch bei unserer nächsten Jahresklausur im Januar 2019, die wir unter das Motto »Menschenrechte in schwierigen Zeiten« gestellt haben, wird die Frage nach der Relevanz und der Stärkung der 1948 festgeschriebenen menschenrechtlichen Standards und die Rolle unserer Mitgliedsorganisationen dabei eine zentrale Rolle spielen.
Das FORUM MENSCHENRECHTE wurde 1994 im Anschluss an die Wiener Menschenrechtskonferenz gegründet. Dort war es gelungen, Angriffe auf die universale Geltung der Menschenrechte, wie es sie seit 1948 immer wieder gegeben hatte, eindrucksvoll abzuwehren. Weltweit war so etwas wie eine menschenrechtliche Aufbruchstimmung zu spüren.
Davon ist heute keine Rede mehr. Im Gegenteil, es scheint, als stünden wir und damit zuallererst die Menschenrechtsverteidiger_innen in aller Welt, die mit ihrem Eintreten für Menschenrechte Leib und Leben riskieren, mit dem Rücken zur Wand.
Ähnlich sah das Ende 2017 der ehemalige UN-Hochkommissar für Menschenrechte Seid Ra’ad al-Hussein, der die Menschenrechte gegenwärtig einem nie dagewesenen Stresstest ausgesetzt sieht. Bei der Eröffnung der 36. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates forderte er: »Wir müssen eine viel größere Öffentlichkeit dazu bewegen, unsere kollektiven Rechte zu verteidigen. Und wir müssen es schnell tun, wenn wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bewahren wollen.«
Wenn wir wollen, dass die Rechte der einzelnen Menschen mehr gelten als die Herrschaftsansprüche der Staaten, ist es 70 Jahre nach der Verabschiedung der AEMR dringender denn je, öffentlich für sie zu werben und Stellung zu beziehen, wenn ihre Geltung in Deutschland oder anderswo in Frage gestellt wird.
Kurz: Wir dürfen die AEMR mit 70 nicht in Rente schicken – wir müssen sie verteidigen!
Beate Ziegler leitet die Geschäftsstelle vom FORUM MENSCHENRECHTE, das seinen Sitz im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte hat.
Die im obigen Beitrag verwendete Abkürzung LGBTI*-Minderheiten steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, Transgender- und intersexuelle Minderheiten.
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