Sonntag, 30. Dezember 2018

Das Hartz-IV-Prinzip

Über Hartz IV und was es für die direkt Betroffenen bedeutet, ist viel geschrieben, gelesen, aber wenig verstanden worden. Die Gruppe derer, die in diese Mühle geraten sind ist noch zu klein und sie ist zu schwach um sich zu erheben. Sie wird mit Terminen bombardiert, muss Jobs annehmen, muss schauen, dass morgen noch Geld für das Pausenbrot der Kinder da ist. Sie haben keine Chance, den Mund aufzumachen oder schlicht keine Kraft mehr dazu.
Es ist gut, dass darüber wieder und wieder berichtet wird.
Was ist aber mit der Mehrheit? Diejenigen, die eben scheinbar nicht von Hartz IV betroffen sind, die in Lohn stehen und einen scheinbar sicheren Arbeitsplatz haben? Sie schauen weg. 
Je mehr darüber berichtet wird, desto dichter wird die Decke, die sie sich über den Kopf ziehen um es nicht zu sehen und zu hören. Ich schließe mich davon nicht aus!
Diese Gruppe ist aber die eigentliche Zielgruppe von Hartz IV.
Peter Hartz, ehemals Personalvorstand von VW, Bert Rürup (u.a AWD), Frank-Walter Steinmeier (ewiger Strippenzieher im Hintergrund), damals nicht Finanz-, auch nicht Sozialminister, sondern Kanzleramtschef, Franz-„Nur-wer-arbeitet-soll-auch-essen“ Müntefering, und das überreichlich, Fleisch gewordene links-ökologische Gewissen der damaligen Bundesregierung, Joseph Martin Fischer (u.a BMW, Siemens und RWE) und, als Schuldiger mit breiten Schultern und einer Flasche Bier und Zigarre in der Hand, Gerhard Schröder (u.a. Nord Stream AG, Gazprom, Rosneft) schufen unter der tatkräftigen Mithilfe der Bertelsmann Stiftung und einiger anderer ein System, das die gesamte Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik nachhaltig auf den Kopf stellen und vor allem Dingen die Gesellschaft endgültig zum Schweigen bringen sollte. Nur auf einer schweigenden, breiigen Masse lassen sich neoliberale Ideen anpflanzen und werden gedeihen.


Und was soll man sagen? Es ist in absoluter Perfektion gelungen. Ich denke manchmal, dass die genannten Herren heute selber ungläubig auf ihre Werk blicken und es nicht für möglich gehalten haben, dass das so schnell und so reibungslos über die Bühne geht.
Ein saubere Trennung derer von ganz oben zu denen ganz unten und dazwischen eine breite, schweigende und funktionierende Masse als Puffer.
Was bedeutet Harz IV für mich, als jemand, der ein gutes Einkommen hat, der sich im Moment noch keine ernsthaften Sorgen um seinen Job machen muß?
Hartz IV ist die Warnung zu funktionieren. Die Warnung davor, in den Arbeitskampf zu gehen, die Warnung davor, auf die Straße zu gehen und gegen dieses System vorzugehen. Die Warnung davor, meinen Job zu riskieren. Die Warnung davor, am Wochenende nicht meine Mails zu checken, die Warnung, mal eben nicht noch 2 Stunden „hintendran“ zu hängen.
Die Obdachlosen treiben mich zur Eile, sie ermahnen mich still, dem System zu folgen.
Ansonsten wird nur ein Jahr vergehen und der Abstieg wird eingeleitet, ohne die geringste Chance da wieder raus zu kommen. Kneif den Arsch zusammen, lass dich wegen dieser hartnäckigen Erkältung nicht krankschreiben, geht auch so.
Du hast Facebook, poste auf Facebook deine Meinung (unter Freunden), gebe den Linken ein „Like“, empöre dich in Stellvertretung, aber falle nicht auf!
Die Rhetorik von Gerhard Schröder bei der Einführung von Hartz IV unterscheidet sich in keiner Weise von der Rhetorik all derer, die populistische Meinungen vertreten und undemokratische, unsoziale Maßnahmen durchboxen wollen.
Das wichtigste ist es, einen Schuldigen zu präsentieren, damit man eine Projektionsfläche für eine breite Wut hat und hervorragend vom eigentlichen Ziel ablenken kann.
Der Schuldige war in Schröder und Co`s Fall der Sozialschmarotzer, der trotz reichlicher Angebote keine Arbeit annimmt und somit das Solidarsystem ausnutzt. 
Er ist es, der zur Strecke gebracht werden muß, damit das Solidarsystem und damit wir alle nicht betrogen werden.
Der Applaus aus allen Schichten ist damit sicher. Man hört milde lächelnd ein paar kritischen Stimmen zu, zieht aber ansonsten seinen Stiefel durch.
Das eigentliche Ziel verschwindet vollständig in Diskussionen und Empörung und wird unsichtbar.
Das Ziel von Hartz IV ist es einzig und allein, den Boden für multinationale Konzerne, Banken und Investmentgesellschaften zu bereiten. Nur auf einem solchermaßen verseuchten Boden lassen sich Arbeitnehmer und Gewerkschaften zu immer mehr Eingeständnissen bewegen, Nur so lassen sich massenhaft billige Arbeitsplätze etablieren. Nur so lässt sich die restliche „Mittelschicht“ im Zaum halten.
Das Ziel ist Ruhe im Land, keine Streiks, keine Aufstände, keine überzogenen Gehaltsforderungen, keine übermäßigen Steigerungen der Renten. Ruhe im Karton!
Die finanzielle Elite kann sich eigene Refugien schaffen, in denen es keine Berührung „nach #unten“ mehr gibt. Vollkommen losgelöst vom Rest der Gesellschaft ohne Schnittpunkte, ohne Rücksichtnahme– ausschließlich damit beschäftigt, Reichtum, Macht, Schutz und Ruhe weiter auszubauen.
Im Freitag vom 29.11.2018 gab es einen Artikel zu den Paketdiensten. Die Menschen, die hier beschrieben werden, sind der Protoytyp des erwünschten Arbeitnehmers, der aus Hartz IV entstehen soll. Unterbezahlt, ohne Stimme, am Rand des Existenzminimums und vor allem: schweigend und mit immer weniger Geld zufrieden.
Und das System funktioniert, niemand geht dagegen auf die Straße, auch ich nicht.
Ich gebe zu, ich habe Angst, Angst davor, das bisschen Wohlstand zu verlieren, dass ich mir erabeitet habe seit ich 16 bin. Meinen Kindern und meinem Enkeln nichts hinterlassen zu können oder, schlimmer noch, ihnen später auf der Tasche zu liegen. Hartz IV ist Angst, und es ist eine tiefe Angst!
Wer hilft mir den Gedanken zu vertreiben, dass Helmut Kohl der letzte sozialdemokratische Bundeskanzler der Bundesrepublik war?
Wo ist der- oder diejenige, die es ausspricht, wo ist der oder diejenige, die das Wort erhebt, mich wachrüttelt und der oder dem ich folgen kann? Und nicht nur ich, sondern wir alle?
Die nächste Stufe der gesellschaftliche Separation steht bereits in den Startlöchern.
Friedrich Merz fordert, die Altersversorgung auf private Aktiengeschäfte zu verlagern und hierzu steuerliche Anreize zu schaffen.
Der Arbeitnehmer, der noch ein wenig mehr Geld verdient als der Rest, soll also zum Shareholder gemacht werden, der ein großes Interesse an immer billigeren Arbeitskräften und unsozialen Arbeitsbedingungen hat, damit nicht auch noch seine Alterversorgung vollständig den Bach runter geht.

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