Dienstag, 22. Januar 2019

Brexit: Die Ängste, die hier geschürt werden, sind haltlose Propaganda





Um etwas Licht in das Brexit-Thema zu bringen…
Ein „harter Brexit“ drohe, heißt es, weil das ausgehandelte Abkommen mit der EU (der „deal“) im britischen Parlament am 15.1.2019 nicht durchging (zumindest in diesem Anlauf nicht, man wird ja sehen, wie es weiter geht). „Chaos“, „unwägbare Risken“ usw. werden an die Wand gemalt. Seit Wochen werden wir damit angeschüttet und sollen wir in Atem gehalten werden. „Geht die EU unter?“ war der Titel einer deutschen Fernsehsendung am 17.Jänner, von einem „totalen Chaos“ war im österreichischen die Rede.
Worin besteht der „deal“?
„Nach derzeitigem Verhandlungsstand ist nach dem Austritt am 30. März 2019 mit einer Übergangsfrist bis 31.12. 2020 zu rechnen, in der faktisch alles gleichbleiben soll, d.h. der status-quo für das Vereinigte Königreich soll fortgeführt werden.“ (WKÖ, „Brexit und die Folgen“, 5.10.2018) Also UK wäre der Fassade nach am 29.März 2019 ausgetreten, bliebe aber de facto EU-Mitglied – außer dass es nicht mehr in den EU-Gremien und -Strukturen vertreten wäre und kein Stimmrecht mehr hätte. Beitragszahlungen dürfen sie selbstverständlich noch zwei Jahre leisten – aus Sicht der EU besonders wichtig, es wird für den Fall des Scheiterns des „deal“ uns gegenüber schon heftig mit der drohenden „Finanzlücke“ herumgefuchtelt. Anschließend, nach den zwei Jahren, soll dann darüber verhandelt werden, wie es weitergeht. Man wäre also, würde der „deal“ ratifiziert, in zwei Jahren wieder dort, wo man heute ist. Der Brexit, der eigentlich Ende März über die Bühne gehen sollte, sieht also zunächst einmal, für die kommenden zwei Jahre, vor – keinen Brexit! Dass das in UK von vielen als Verhöhnung des Referendums und „Demütigung“ betrachtet wird und auf Empörung stößt, durchaus auch bei Brexit-Gegnern!, ist kein Wunder. Es war von der EU auch genau so gemeint. (Dass das seinerzeitige Referendum rasch zu einer chauvinistischen und rassistischen Kampagne gedreht hatte und eher ein „Ausländer raus!“- Votum denn ein Brexit-Votum war, ist eine andere Geschichte und tut hier nichts zur Sache.) Es hat nicht London die EU, sondern die EU die britische Bourgeoisie erpresst. Der „deal“ sollte, wenn man den Brexit schon nicht verhindern konnte, bewusst ein Knebelvertrag gegenüber UK werden – was zwar hierzulande niemand in den Mund nimmt, was aber in vollem Einklang mit der von EU-Seite immer wieder betonten Tatsache ist, dass UK mehr verliert und größere Risken in Kauf nimmt als die EU. Aber zweifellos war bei diesem „deal“ das objektive Interesse und Kalkül sowohl der britischen wie der anderen europäischen Bourgeoisien, den wirklichen Austritt zu verschieben und sich zwei Jahre Zeit zu verschaffen – um Ende 2020 immer noch (oder wieder!) alle Optionen offen zu haben (mit oder ohne ein neues Referendum).
Die Ängste, die hier geschürt werden, sind haltlose Propaganda. In UK verkaufen neuerdings findige Nischen-Kapitalisten „Notfallpakete“ mit Lebensmitteln, darunter „lebenswichtigen“ Leckereien für Kinder und einer Coca Cola, einer Flasche Mineralwasser, einer Kerze und Zünderhölzern, Medikamenten usw. für den „Tag X“ – als ob an irgendeinem Tag X in UK keine Lebensmittel, keine Medikamente, keine Coca Cola und keine Zuckerbomben für Kinder mehr produziert oder importiert werden könnten. Alle Briten müssten ferner am Tag X (allenfalls mit einer Übergangsfrist) die EU verlassen und alle EU-Bürger Großbritannien. Die britische Wirtschaft würde schwer leiden, aber auch „on the continent“ würden die Exporte nach UK einbrechen und die Importpreise wegen eines zu erwartenden fallenden Pfund-Kurses in die Höhe schnellen i. Das ist alles nur interessengetriebene Propaganda eines Teils der britischen und des überwiegenden Teils der kontinental-europäischen Bourgeoisien. Bekanntlich finden aber Export und Import von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen (Arbeitskräften) nicht nur innerhalb der EU statt, sondern auch außerhalb. Österreich z.B. betreibt schwunghaften Handel auch mit Nicht-EU-Ländern, betreibt mit ihnen Kapitalexport und -import, Österreicher arbeiten in diesen Ländern und umgekehrt holt man sich Arbeitskräfte von dort, wenn man sie braucht. Oder müssen bzw. mussten schon bisher etwa alle Staatsbürger anderer Länder (z.B. auch US-Amerikaner, Russen, Chinesen… aber auch Norweger und Schweizer) unverzüglich die EU verlassen, bloß weil ihre Länder nicht EU-Mitgliedsstaaten sind? Es gibt bekanntlich Handelsverträge, Freihandelszonen und sonstige Verträge und Vereinbarungen nicht nur innerhalb der EU.
In Europa braucht man nur auf die Schweiz oder Norwegen schauen, um die Absurdität solcher Propaganda zu erkennen. Sind diese Staaten etwa in ein Chaos gestürzt und von der Welt abgeschnitten, weil sie nicht bei der EU sind? Oder nehmen wir Österreich. Hatte Österreich, bevor es der EU beitrat, etwa keine Handelsbeziehungen mit den EU-Staaten, wurde nicht massenhaft Kapital nach Österreich importiert, exportierte Österreich etwa nicht in den 1960er Jahren Zehntausende qualifizierte Arbeitskräfte nach Deutschland ii? Wieso kann UK nicht aus der EU austreten und mit ihr einen ähnlichen Status verhandeln wie die Schweiz oder Norwegen? Das „Zusammenbruchs-Szenario“, das mehr oder weniger aufgeregt von den bürgerlichen Medien propagiert wird, ist pure Angstmacherei. Wir sollen verunsichert und eingeschüchtert werden. Jedes Infragestellen der EU, jede Kritik an diesem imperialistischen Konstrukt soll weggewischt und unterdrückt werden. Aber durch einen Austritt von UK aus der EU bräche weder die Welt zusammen, noch Europa, noch die EU, noch UK, noch sonst etwas. Auch die „Befürchtungen“, wie sehr Handel, Produktion, Tourismus usw. in Mitleidenschaft gezogen würden, sind völlig übertrieben, um nicht zu sagen haltlos iii.
Der politische Radau um den Brexit ist eines, die Realität etwas anderes. Um die Realität zu verstehen, darf man nicht an der Oberfläche der politischen Ebene verfangen bleiben, sondern muss die ökonomischen Interessen der imperialistischen Bourgeoisien Europas zum Ausgangspunkt nehmen. Die Bourgeoisien „on the continent“ sind an der Aufrechterhaltung der Stärke der EU interessiert: einerseits gegenüber den imperialistischen Rivalen wie v.a. USA, Russland, China – andererseits, im Inneren dieses imperialistischen Gebildes, um sie als Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Ausplünderungsmaschinerie gegenüber der abhängigen und teils neokolonisierten EU-Peripherie einzusetzen. Diese Stärke würde natürlich durch einen Austritt von UK leiden (zumal auch erhebliche Finanzmittel verloren gingen). Dazu kommen unmittelbare ökonomische Profitinteressen einzelner Kapitalfraktionen. Die EU-Imperialisten (alle, aber anscheinend mehr als alle anderen die deutschen und französischen) haben schon ganz lange Zähne, um sich britische Marktanteile auf verschiedenen Gebieten anzueignen (spektakuläres Beispiel: Abzug von Geldgeschäft aus London nach Frankfurt und Paris). Die EU-„Gemeinschaft“ ist eben zugleich Kampffeld der rivalisierenden europäischen Bourgeoisien untereinander.
Auf der anderen Seite des Kanals steht die britische Bourgeoisie. Sie ist aus mehrheitlich gegen einen Brexit. Dabei geht es nicht vorrangig um ideologische oder politische Interessen sondern in erster Linie um ökonomische iv. Alle bedeutenden Kapitalistenverbände (Industrie, Banken- und Versicherungssektor …) haben sich immer wieder in diesem Sinn geäußert. Dazu kommt der potentielle Sprengsatz schottischer (Öl- und Gasvorkommen!) Bestrebungen des Separatismus und Sezessionismus. Andererseits schätzt die Bourgeoisie natürlich von Natur aus die ideologische und politische Verwirrung und Verhetzung, die Anfachung des britischen Chauvinismus, die Spaltung des Volkes. Ein Teil spekulierte sicher auch auf eine privilegierte Rolle an der Seite des US-Imperialismus (eine momentan in politischer Hinsicht möglicherweise nicht mehr so begeisternde Idee). Ein besonderes Problem ist der Kolonialstatus von Nordirland, denn nicht nur beruht die Tory-Mehrheit im britischen Parlament auf einem Bündnis mit der ultrareaktionären nordirischen DUP (Democratic Unionist Party), sondern fällt es sicher allen Teilen der britischen Bourgeoisie sehr schwer, sich von einer (Rest)kolonie zu trennen, deren Beherrschung seit mehr als einem Jahrhundert mit Feuer und Schwert verteidigt wird, obwohl keine bedeutenden ökonomischen Interessen mehr dahinter stehen (anders als 1916, als der bewaffnete irische Befreiungskampf die Selbständigkeit der Republik Irland errang). Das alles führt zu einer komplexen und widerspruchsvollen Lage in der britischen Bourgeoisie. Aber alles kann man nicht haben, man kann nicht einen Anti-EU-Chauvinismus anheizen und zugleich in dieser EU verbleiben wollen, man kann nicht austreten und gleichzeitig nicht austreten wollen.
Die britische Bourgeoisie war und ist mehrheitlich gegen den Brexit. Da sie aber seinerzeit mit einem „positiven“ Ausgang des Referendums rechnete, drehte sie dieses nicht gleich ab. „Leider“ und ganz ungeplant ging es „negativ“ aus. Der damalige Premierminister Cameron hatte sich verspekuliert und musste abtreten. Auch das wäre noch kein Beinbruch gewesen, denn was bedeutet der Bourgeoisie schon so ein Referendum v. Also wurden Verhandlungen mit der EU geführt und kam als Ergebnis der „deal“ heraus, der an und für sich durchaus eine Perspektive aus dem Schlamassel weisen könnte, nämlich die Verschiebung des Schlamassels – mit dem letztlichen Ziel, den heutigen Status möglichst weitgehend zumindest noch zwei, drei oder vier Jahre weiterzuführen vi. Aber jetzt konnte man die chauvinistische bis rassistische Hetze einiger politischer Kreise (nicht nur eines Nigel Farage, sondern fast genauso einer Theresa May) nicht mehr einfach wegeskamotieren und hatte sich die Politikerkaste derart in Grabenkämpfen verstrickt, dass der „deal“ am 15.1. im Parlament abgelehnt wurde. Man fragt sich natürlich, wieso die britische Kapitalistenklasse diesem absurden Schauspiel auf der politischen Bühne nicht längst Einhalt gebot vii – das hat damit zu tun, dass sie selbst keine geschlossene und feste Position dazu hat (eine Minderheit verspricht sich aus einem Brexit und mehr Anlehnung an die USA höheren Profit) und vor allem, dass sie ihre politische Staffage (Parteien , Parlament …) weiterhin benötigt und daher nicht vollständig desavouieren kann. Es geht ihr samt ihren Politikern wie dem berühmten Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird.
Es wäre, wenn man – rein fiktiv – von den divergierenden imperialistischen Interessen diesseits und jenseits des Kanals und den angeführten Widersprüchen (und solchen des darüber liegenden politischen Überbaus) einmal absieht, ein Leichtes, UK würde zügig austreten und man machte sich ebenso zügig an den Abschluss entsprechender Verträge, wie sie z.B. problemlos zwischen der EU und der Schweiz bestehen. Zumal ohnehin zwei Jahre lang alles bis ins Detail durchgekaut worden ist. Man würde halt die notwendigen Verträge zur Konkretisierung der zukünftigen Beziehungen nicht vor dem 29.3.2019, sondern danach machen und ratifizieren. Na und? Aber in der Praxis kann man eben nicht von den imperialistischen Interessen und Widersprüchen absehen. Das Zugeständnis auf einen Status wie z.B. den der Schweiz, wollte die EU den abtrünnigen Briten auf keinen Fall machen. Sie sollten auf jeden Fall einen hohen Preis zahlen müssen. So schaukelte sich das „Problem“ auf und entstand eine verworrene Gemengelage. Wenn jetzt landauf landab gegen die Chaoten im britischen Parlament und überhaupt gegen die „unberechenbaren Briten“ gewettert wird, darf man nicht vergessen, dass die EU-Bourgeoisie mindestens genauso viel „Schuld“ am (bisherigen) Scheitern des „deal“ trägt wie die britische (und dass dabei wiederum vornehmlich die deutsche und französische Bourgeoisie das Sagen haben). („Schuld“ natürlich aus bourgeoiser Sicht, die Arbeiterklasse ist hier nicht Partei.)
Man muss bei einer Beurteilung des Brexit den Dingen noch wesentlich weiter auf den Grund gehen. Die Interessen der Bourgeoisien hüben wie drüben, die letzten Endes maßgeblich sind für die politischen Entscheidungen, spielen sich auf einer konkret bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus ab. Jede Bourgeoisie betreibt heute ihre Kapitalverwertung in einer eng verflochtenen globalen Wirtschaft. Der Akkumulationsprozess und die mit ihm einher gehende Konzentration und Zentralisation des Kapitals, Monopolbildung, gigantische Ausdehnung des Welthandels und ebensolcher Kapitalexport, Globalisierung der Produktion, internationalisierte Geldkapitalmärkte usw. haben einen Weltmarkt hergestellt und auch längst eine Weltproduktion. Das ist eine ökonomische Tatsache. Es wäre eine groteske und übrigens reaktionäre Vorstellung, man könnte diese Entwicklung rückgängig machen und die kapitalistische Weltwirtschaft wieder in nationale Schranken zwängen und in nationale Segmente aufspalten viii. „Die Ökonomik kann durch keinerlei politische Maßnahmen verboten werden.“ (Lenin. „Über eine Karikatur auf den Marxismus“, LW 23, S.40) Die EU hat sich nicht gebildet, weil einige Politiker das wollten, sondern weil die Ökonomie längst in ungeheurem Ausmaß über die Nationalstaaten hinaus gewachsen war. Der Austritt dieses oder jenes Landes und selbst eine Fragmentierung der EU („zwei Geschwindigkeiten“ u.ä.) oder deren regelrechte Spaltung oder ihr (mehr oder weniger formeller und/oder mehr oder weniger faktischer) Zerfall (z.B. eine Rückbildung zur einem EWR ohne „höhere“ politische Ambitionen), also Desintegration in dieser oder jener Form und in diesem oder jenem Ausmaß, würde daran nichts ändern. Die EU ist nur ein politisches Gebilde, das sich aufgrund ökonomischer Entwicklungen und Gesetzmäßigkeit so gebildet und entwickelt hat wie sie es tat, das zwar – bei der gegenwärtigen Widerspruchslage im Inneren und Äußeren der EU – wahrscheinlich die für die Bourgeoisie beste, aber dennoch nur eine mögliche politische Organisationsform des europäischen imperialistischen Kapitals ist. Soweit daher die EU einfach objektive ökonomische Tatsachen und Zwänge reflektiert, wie sie aus den genannten Prozessen resultieren, würden und müssten sich, falls bzw. soweit es die EU nicht mehr gäbe, unweigerlich und unverzüglich neue Strukturen ausbilden, die der engen globalen Verflechtung von Produktion, Handel, Finanzströmen usw. Rechnung tragen, auch wenn diese Strukturen anders aussehen würden ix. Dasselbe gilt für einen allfälligen Austritt von UK oder irgendeinem anderen Land aus der EU. Es würde zwar vielleicht, vor allem wenn sich die Politik so anstellt wie derzeit beim Brexit, zeitweilig mehr oder weniger starke Verwerfungen und Reibungsverluste geben x, aber es würden sich durch ökonomischen Zwang neue Strukturen und Organisationsformen ausbilden, die den ökonomischen Erfordernissen der supranationalen bzw. globalen Kapitalverwertung Rechnung tragen.
Ein Argument der EU – neben den o.a. Interessen und manchen Partikularinteressen (speziell deutschen und französischen) – für ihre „harte Haltung“ war, dass das britische Beispiel Schule machen könnte, dass auch in anderen Mitgliedsländern Austrittsgelüste aufkommen könnten. Welche anderen Länder? Die großen Imperialisten wie Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien sind an so etwas sicher nicht interessiert, UK ist da schon aus der Geschichte her ein Sonderfall. Andere ebenfalls relativ produktive und starke (z.B. Österreich, die Niederlande…) auch nicht. Sie alle profitieren weitaus mehr von der Existenz der EU, als dass sie unter einem eventuellen Verlust an „nationaler Würde“ litten. Sie müssten verrückt sein, darauf zu verzichten. Auch der Hinweis auf rechte nationalistische Parteien und Strömungen, die den Austritt aus der EU trommeln, greift nicht, denn sobald sie an der Regierung sind und nicht mehr nur hetzen, sondern im Interesse der Bourgeoisie auch tatsächlich regieren müssen, ist das rasch vergessen xi. Das Argument zielt vor allem auf ökonomisch schwächere und vor allem abhängige Länder in der EU-Peripherie, wo die Austrittsforderung sinnvoll und berechtigt wäre. Jeder solcher Funke im Keim erstickt werden. Das macht die Beherrschung dieser Länder leichter. Natürlich würden solche Bestrebungen in jedem Fall rasch niedergemacht. Am Beispiel Griechenlands wurde das in aller Brutalität durchexerziert. Allerdings müsste man möglicher Weise wesentlich größere Geschütze auffahren. UK ist übrigens für solche Länder kein gutes Beispiel, denn UK ist ein starkes imperialistisches Land, auf dem man nicht so herumtrampeln und das man nicht so erpressen kann als z.B. – einige beliebige Beispiele herausgegriffen – ein Griechenland, Slowenien oder Bulgarien oder sogar ein Ungarn. (Das alles gilt, solange es nach den Interessen der Bourgeoisien der betreffenden Länder geht. Eine andere Geschichte wäre, wenn irgendwo eine mächtige Arbeiter- und Volksbewegung entstünde – bloß: sie wäre nicht mächtig, wenn sie nicht unter einer revolutionären Orientierung kämpfte und es ihr nicht um den Sturz des Kapitalismus ginge. Auch das hat uns Griechenland ein neues Mal gezeigt.)
Warum befassen wir uns überhaupt mit solchen Fragen? Was ist unser Standpunkt zum Brexit? Uns geht es nicht darum, hier irgendein positives Interesse bezüglich der EU zu entwickeln. Für uns sind alle diese Fragen an und für sich gleichgültig. Weder sind wir dafür, dass gewisse imperialistische Kreise in Großbritannien für den Brexit, noch dass andere, ebenfalls imperialistische Kreise dort gegen ihn auftreten. Ebenfalls haben wir nichts mit den imperialistischen Interessen der EU und ihrer Hauptprotagonisten zu schaffen. Weder sind wir daher für einen Brexit noch dagegen, wie man auch als Kommunist in Großbritannien weder für noch gegen einen Brexit sein wird xii. Was die Interessen der Arbeiterklasse und daher uns betrifft, wollen wir den Kapitalismus stürzen und mit ihm die EU beseitigen. Dessen ungeachtet müssen wir versuchen, die Entwicklung, darunter maßgeblich auch die Interessen, Probleme, Widersprüche etc. des Klassenfeindes zu verstehen und den Menschen zu erklären, was vorgeht, was ihnen aber durch die bourgeoisen Medien verdreht und verschleiert werden soll, um sie für die jeweiligen „eigenen“ Bourgeoisinteressen zu instrumentalisieren. Je besser man seine Feinde kennt und „versteht“, desto besser kann man sie bekämpfen.
(18.1.2019)
FUSSNOTEN:
1 Das Pfund selbst weiß von diesen Prognosen nichts, hatte über das letzte Jahr nur einen leichten Abwärtstrend von 1,2% und verhält sich mitten im „Chaos“ der letzten Tage ziemlich stabil in einer schmalen Range zwischen 0,87 und 0,90 £/€. Zwei Finanzspekulanten, die die Austrittskampagne mit Milliardenbeträgen finanziert hatten, spekulieren inzwischen auf das Gegenteil, nämlich den Verbleib in der EU bzw., genau genommen, auf die davon erwartete Aufwertung des Pfund – auch das hat sich bisher anscheinend nicht bis zum Pfund durchgesprochen.

Ein anderes Beispiel für den „freien Personenverkehr“ ganz ohne EU-Mitgliedschaft bietet die Schweiz mit den an die 200.000 französischen Arbeitern und Angestellten, die tagtäglich die Grenze bei Genf passieren. Diese Grenze war für sie seit jeher offen, auch als die Schweiz noch nicht Mitglied des Schengenraums war. Insgesamt verzeichnet die Schweiz 300.000 „Grenzgänger“.

Für Österreich hat die WKÖ die Folgen eines harten Brexit abgeschätzt: Das BIP-Wachstum würde mit 0,05 bis 0,18 Prozentpunkten (!) jährlich leiden, also im Grunde gar nichts im Vergleich zu dem Einbruch des BIP-Wachstums, der sowieso prognostiziert wird (WIFO für 2019: – 0,7 Prozentpunkte). Österreichische Banken müssten ihre Niederlassungen in London nach Paris oder Frankfurt verlegen – naja, auch ein sehr überschaubares Problem. Zölle und Pfundkurs könnten die Importe aus UK verteuern – aber einiges davon sind nur Transitimporte z.B. aus China, den USA usw., die dann eben nicht mehr über UK abgewickelt würden. Der Tourismus könnte leiden, weil Österreich für die 800.000 Briten, die jährlich kommen, teurer würde – aber der Pfundkurs schwankte in den letzten Jahren ohne Brexit viel mehr, als jetzt für den Fall des Falles befürchtet wird. Dass sich der Status der 25.000 in UK lebenden Österreicher und ebenso der der in Österreich lebenden Briten nicht ändern soll, wird bereits auf EU-Ebene, aber laut UK-Botschaft auch bilateral mit Österreich verhandelt. Österreichische Firmen, die Niederlassungen in UK mit insgesamt 32.000 Beschäftigten haben, werden vielleicht Standortverlagerungen ins Auge fassen – aber das geschieht auch ohne Brexit ständig. Relevanter allenfalls, dass auf Österreich wahrscheinlich höhere EU-Beitragszahlungen zukämen – 150 Mio. € jährlich. Also viel Lärm, zwar nicht um Nichts, aber um wenig. Wie die WKÖ ganz richtig sagt: Alles sehr überschaubar und „kein Grund zur Panik“.

Z.B. keine mehr oder wesentlich weniger EU-Rüstungsaufträge (z.B. für BAIndustries), deutliches Herunterstutzen des Finanzplatzes London, geringere Rolle als „Brücke“ (für Tochtergesellschaften, Plattformen usw.) von den und in die USA (da ja keinen ungehinderten Zugang in die EU mehr garantierend), als Transitland im Welthandel, die Importabhängigkeit in einigen Bereichen usw. usf.

 Die „Lissabonner Verträge“, ursprünglich „EU-Verfassung“ genannt , wurden in Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland (hier sogar zwei Mal) mit klaren Mehrheiten abgelehnt und wenig später trotzdem ratifiziert. In Irland musste das Referendum ein drittes Mal wiederholt werden, bis es ein der Bourgeoisie genehmes Resultat zeitigte, in Frankreich und den Niederlanden ersparte man sich dieses Larifari und ratifizierte es einfach, nachdem man die „EU-Verfassung“ in „Lissabonner Verträge“ umbenannt hatte.

6 Verhandlungen ab 2021 über den endgültigen bzw. wirklichen Brexit bedeuten ja nicht, dass diese sich nicht ebenfalls wieder in die Länge ziehe.

Wie z.B. die deutsche Bourgeoisie im Spätherbst 2018 schlussendlich durch ein Machtwort der Seehoferei Einhalt gebot. Sie wies mittels einer gemeinsamen Erklärung der vier großen „Wirtschaftsverbände“ alle ihre Parteien an, den Spuk des „Koalitionsstreits“ unverzüglich zu beenden, was prompt binnen weniger Tage geschah. Wenn die politischen Parteien als Repräsentanten der Bourgeoisie es alleine nicht schaffen, muss der Boss eben manchmal direkt eingreifen.

Nur zur Veranschaulichung: Österreich hatte 2017 eine Exportquote (Waren und Dienstleistungen) von 54,5% des BIP und der Kapitalexport (nur der in Form von Direktinvestitionen) hatte einen Bestand von 195,2 Mrd. € erreicht (das waren 52,8% des BIP). Wie könnte da ein national zurück gestutzter Kapitalismus aussehen?

 Selbst im Falle von national-faschistischen Regimes und imperialistischen Kriegen, die mit einem teilweisen Zerfall globaler Märkte und Strukturen bzw. deren Fragmentierung verbunden wären, wäre das immer nur teilweise und vorübergehend so. (Schlagendes Beispiel: Selbst im Zweiten Weltkrieg haben die US-Firmen General Electric und General Motors bis 1943/44 fleißig weiter für die Nazi-Rüstungsindustrie produziert.)

10  Frankreich ist das vom Brexit am Drittstärksten betroffene EU-Land (am meisten betroffen sind Irland und die Niederlande, auch Belgien relativ stark). Die französische Regierung lancierte am 17.Jänner 2019 ihren „Nationalen Plan“ für den Fall eines vertragslosen Brexit. Z.B. sollen, falls es so kommt, Häfen und Flughäfen um 50 Mio. € umgebaut werden und 600 zusätzliche Zöllner, Veterinäre etc. rekrutiert werden. Für den Eurotunnel laufen bereits Verhandlungen mit UK über eine „Transitkonvention nach dem Vorbild der Vereinbarungen zwischen der EU und der Schweiz“. Airbus und andere Großkonzerne hätten schon alle Pläne bezüglich evt. Produktionsverlagerungen fertig in den Schubladen – nur die kleineren Firmen seien noch nicht oder schlecht vorbereitet. Hauptsorge der französischen Bourgeoisie ist, dass der Handelsüberschuss Frankreichs gegenüber UK (2017: 4 Mrd. €) gefährdet würde. Dieser stammt v.a. aus dem Export von Milchprodukten, Wein, Spirituosen, Fisch …. Der Chefökonom der Agrarkammer Pouch sorgt sich darum, dass im Fall des Falles, „ähnlich wie 2004 am Beginn des Russland-Embargos, (durch den Rückgang der Exporte nach UK) die Überproduktion auf den EU-Binnenmarkt zurückfallen und die Absatzmärkte verstopfen würde“. Ein harter Brexit würde sich nach Schätzungen bis 2021 mit einem Minderwachstum des französischen BIP von 0,3 Prozentpunkten jährlich auswirken. Also Verwerfungen und Reibungsverluste ja, aber in überschaubarem Ausmaß. Die nächste „normale“ Wirtschafts- und Finanzkrise, ja sogar der Wachstumseinbruch, der 2018 eingesetzt hat, wird zu ganz anderen Einbrüchen führen. (Quelle: Le Monde, 17.1.2019)

11 Siehe die FPÖ, die sich zwar nach wie vor Gestalten wie den Herrn Vilimsky hält, aber in der Regierung überhaupt nicht EU-feindlich agiert. Siehe auch die französischen Lepenisten, die in ihrem Parteiprogramm den Austritt aus der EU, dem Euro, Schengen fordern – aber nur, um im nächsten Absatz desselben Programms zu schreiben, dass das nur für den äußersten Notfall gemeint sei, wenn alle anderen Möglichkeiten gescheitert wären, die nationalen Interessen Frankreichs besser zur Geltung zu bringen, und selbst dann müsste man eher einen Block mit mehreren anderen Staaten bilden als alleine dazustehen … Sogar der italienische Herr Salvini lärmt zwar nach wie vor, versucht aber in der Praxis (z.B. bei den Budgetverhandlungen), sich mit der EU-Bürokratie zu arrangieren (und seine Asylpolitik unterscheidet sich nur im Tonfall von anderen, nicht in den Taten – Macron macht in der Praxis dieselbe Politik in der Migrationsfrage: Frankreich ist zu und jeden Monat sterben „illegale“ Menschen an der Grenze zu Italien!) Und die polnische, ungarische usw. Bourgeoisie haben alle Hände voll zu tun, dass ihnen wegen der mit einem Brexit ggf. entstehenden Finanzierungslücke nicht ihre Milliardensubventionen gekürzt werden, dass sie weiterhin ein paar Millionen Arbeiter (z.B. Polen, Rumänen..) exportieren können usw.

12  Selbstverständlich muss in UK das größere Augenmerk auf die Entlarvung der Machenschaften der eigenen Bourgeoisie gerichtet werden, einschließlich derer der verkommenen Politikerkaste, wobei insbesondere das widerliche Taktieren des „linken“ Herrn Corbin von der Labour Party hervorsticht – während bei uns das größere Augenmerk auf die Entlarvung der Machenschaften der kontinentalen Bourgeoisien und der EU-Bürokratie gerichtet werden muss.

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