IMI-Analyse 2019/39
Dieser Text erschien in gekürzter Fassung unter dem Titel Unbedingt angriffsbereit in der jungen Welt vom 28.11.2019.
Am 1. Dezember 2019 trat die
Juncker-Kommission offiziell ab und übergab den Stab an ihren Nachfolger unter
der neuen Chefin Ursula von der Leyen. Sie werde einer „geopolitischen
Kommission“ vorstehen, schrieb von der Leyen bereits in einem Brief, mit dem
sie am 10. September 2019 der designierten EU-Industriekommissarin Sylvie Goulard ihr Einsatzprofil mit auf den Weg
gab.
[1]
Die scheiterte später zwar am Votum des EU-Parlaments, weshalb anschließend
fieberhaft ein Nachfolger gesucht und dann mit dem Atos-Mann Thierry
Breton auch gefunden wurde. Entscheidend war aber, dass von der Leyen in diesem Brief fast beiläufig fallen ließ, die
ehemalige französische Verteidigungsministerin werde in ihrer Arbeit künftig
von einer neuen „Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum“ (DG
Defence) unterstützt, an deren Spitze sie auch stehen werde. Die Hauptaufgabe der
neuen Generaldirektion soll darin bestehen, Widerstände beim Aufbau eines
europäischen Rüstungsmarktes zu überwinden. Dafür werden ihr nicht nur
Sanktionsmöglichkeiten, sondern auch massive finanzielle Anreize zur Verfügung
stehen. Denn in ihren Zuständigkeitsbereich wird unter anderem die Verwaltung
der eigens für diesen Zweck neu ausgelobten Milliardenbeträge aus dem künftigen
„Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) fallen.
Bislang waren europäische Militärfragen nahezu exklusiv die
Angelegenheit der im Rat versammelten Staats- und Regierungschefs. Weder die
Kommission und noch weniger das Parlament hatten hier groß etwas zu sagen.
Insofern ist es nachvollziehbar, wenn die Einrichtung der DG Defence als
sichtbarer Ausdruck und logische Konsequenz des in jüngster Zeit tatsächlich deutlich
gewachsenen militärischen Profils der Kommission gewertet wird. Die Tragweite
dieses Schrittes zeigt sich, wenn etwa die Regierungsberater der „Stiftung
Wissenschaft und Politik“ (SWP) sich freuen, nun werde „eine Art
Ministerium für europäische Verteidigung und Rüstung“ ins Leben gerufen.
[2] Viele Beobachter meinen hier sogar bereits eine
schleichende Europäisierung der Militärpolitik und eine damit einhergehende Entmachtung
der Nationalstaaten zu erblicken – in der soeben zitierten SWP-Analyse heißt es
etwa: „Die Kommission strebt mit ihren aktuellen Initiativen
offensichtlich an, den Schwerpunkt der europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik zu verschieben: von einem mitgliedstaatlich zu einem
supra-national dominierten Politikfeld.“
[3]
Eine solche Einschätzung schießt aber dann doch deutlich über das Ziel
hinaus: Weder geht die zunehmende Rolle der Kommission mit erweiterten Kompetenzen
des Parlaments einher. Und genauso wenig kann ernsthaft von einer Entmachtung
der Mitgliedsstaaten die Rede sein. Denn die Staats- und Regierungschefs haben bei
der Architektur der neuen Rüstungstöpfe sorgfältig darauf geachtet, dass sie
weiterhin die Rüstungszügel in der Hand behalten.
1. Rüstungsmarkt – Rüstungspaket – Rüstungsplan
Der Rüstungsbereich war lange die letzte Bastion des
Protektionismus – er unterlag faktisch nicht den Regeln des Binnenmarktes. Dies
hatte zur Folge, dass Aufträge nicht europaweit ausgeschrieben und an den
„besten“, sprich marktbeherrschenden Bieter vergeben werden mussten. Ermöglicht
wurde dies, indem sich die Staaten auf Artikel 346 des „Vertrags über die
Arbeitsweise der EU“ (AEUV) berufen konnten, der es erlaubt, bei Rüstungsaufträgen
unter Verweis auf nationale Sicherheitserwägungen zeitweilig die Regeln des
Binnenmarktes auszusetzen. Eigentlich als Ausnahme gedacht, nutzten die Staaten
diesen Passus, um ihre jeweiligen Rüstungsmärkte permanent vor
innereuropäischen Konkurrenten abzuschotten und den gesamten Bereich der
Kontrolle und Überwachung der Kommission zu entziehen. Im Ergebnis werden bis
heute über 80 Prozent der europäischen Rüstungsaufträge national vergeben.
[4]
Schon seit einiger Zeit hat sich die Kommission nun aber auf
die Fahnen geschrieben, auch dem Rüstungsbereich zu seinem „Recht“ zu
verhelfen, was vor allem im Interesse der großen deutschen und französischen
Konzerne liegt. Dabei wird argumentiert, die „Kleinstaaterei“ im Rüstungswesen
habe Duplizierungen und niedrige Auftragsmargen zur Folge, die sich durch
Konzentrationsprozesse (europaweite Beschaffungsaufträge sowie Fusionen und
Übernahmen) vermeiden ließen. Die Schätzungen der Kommission, wie hoch hier die
Einsparpotenziale seien, sind dabei durchaus sportlich, wenn etwa der Chef der neuen DG Defence
auf Fragen der Parlamentarier im Vorfeld seiner Ernennung angab: „Ich will die
Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich stärken, sowohl auf der Angebots- als
auch auf der Nachfrageseite. Die europäische Verteidigungsindustrie ist
hochgradig fragmentiert, weil die Mitgliedsstaaten ihre Verteidigungsbudgets
national verausgaben und ihre technischen Anforderungen an das militärische
Gerät national definieren. Beispielsweise existieren unter den Mitgliedstaaten
17 unterschiedliche Kampfpanzertypen, während die USA nur über einen verfügen.
Dieser Mangel an Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten im Bereich der
Verteidigungs- und Sicherheitsindustrien kostet schätzungsweise zwischen 25
Mrd. und 100 Mrd. Euro jedes Jahr.“
[5]
Ein erster Kommissionsversuch, die Mitgliedsstaaten zu ihrem
Glück in Sachen europaweiter Ausschreibungen zu zwingen, stellte das 2007
vorgelegte Verteidigungspaket dar, das zwei Jahre später verabschiedet wurde.
Teil davon ist die rechtlich bindende Beschaffungsrichtlinie, die besagt, dass
eine Berufung auf Artikel 346 AEUV künftig nur noch in absoluten Ausnahmefällen
möglich sein soll. Bis 2012 musste die Richtlinie in nationale Gesetzgebung
überführt werden, allerdings zeigte sich schnell, dass viele Mitgliedsländer dennoch
herzlich wenig Neigung verspürten, ihre Rüstungsindustrien dem Wettbewerb mit
den großen deutsch-französischen Unternehmen auszusetzen. Folgerichtig gelangte
eine erste
Evaluation des Verteidigungspaketes im Juni 2015 zu dem Ergebnis, die Mitgliedsstaaten würden die Beschaffungsrichtlinie
nur überaus zögerlich anwenden.
[6]
Nach dem
Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 kam aber wieder Bewegung in die nahezu
festgefahrenen Versuche, einen europäischen Rüstungsmarkt ins Leben zu rufen.
Der Grund lag vor allem darin, dass sich Großbritannien von da ab von seiner
bisherigen Politik verabschiedete, alle Bestrebungen der Kommission
nach Kräften zu torpedieren, mehr Kompetenzen im Rüstungsbereich an Land zu
ziehen. Die Kommission ergriff die sich nun bietende Gelegenheit und
veröffentlichte im November 2016 einen Verteidigungs-Aktionsplan, in dem sie ihre
Ambitionen ungewöhnlich offen formulierte: „Die Kommission ist bereit, sich
in einem bisher nicht gekannten Ausmaß in der Verteidigung zu engagieren, um
die Mitgliedstaaten zu unterstützen. Sie wird die der EU zur Verfügung
stehenden Instrumente einschließlich EU-Finanzierungen und das volle Potenzial
der Verträge ausschöpfen mit dem Ziel, eine Verteidigungsunion aufzubauen.“
[7]
Der Verteidigungs-Aktionsplan
kündigte recht deutlich an, künftig die Umsetzung der Beschaffungsrichtlinie
notfalls auch mittels Strafandrohungen durchzusetzen: „Mehr
Wettbewerb und eine stärkere Öffnung des Marktes für Verteidigungsgüter in
Europa dürften Anbieter dabei unterstützen, Größenvorteile zu erzielen, die
Produktionskapazitäten zu optimieren und die Stückkosten zu senken, was den
europäischen Produkten weltweit zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen würde.
[…] Aus den Bewertungen der beiden Richtlinien geht hervor, [dass] ein sehr
bedeutender Teil der Beschaffung im Verteidigungsbereich nach wie vor nicht im
Rahmen der EU-Vorschriften über das öffentliche Auftragswesen erfolgt. […] Die
Kommission richtet ihr Augenmerk auf die effektive Umsetzung der Richtlinie und
setzt diese notfalls durch.“
[8]
Tatsächlich blieb es nicht bei der bloßen Drohung: Im
Zeitraum November 2016 bis Oktober 2019 versendete die Kommission über 40
Aufforderungsschreiben mit der Mahnung, die Bestimmungen der
Beschaffungsrichtlinie einzuhalten. Diese Schreiben bilden den Auftakt für formale
Vertragsverletzungsverfahren, die zu empfindlichen Strafen führen können. Vor
diesem Hintergrund wird es erklärtermaßen eine der Hauptaufgaben der neuen DG
Defence sein, hier den Druck weiter hoch zu halten.
2. DG Defence: Anatomie und Aufgaben
Die Gründung der DG Defence kam nicht aus heiterem Himmel,
nach Auskunft der von 2014 bis 2019 amtierenden Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska
liefen die Vorbereitungen dafür bereits seit 18 Monaten.
[9] Schon vor
einiger Zeit wurden in anderen Generaldirektionen Abteilungen geschaffen, um
die zunehmenden militärischen Aufgaben der Kommission zu managen. Insofern war
es naheliegend, diese versprengten Verwaltungseinheiten in einer „Generaldirektion
Verteidigung“ zu bündeln, wofür im Vorfeld diverse Optionen diskutiert wurden.
Organisatorisch wurde erwogen, eigens den Posten eines „Rüstungskommissars“
zu schaffen und ihm die neue Generaldirektion zu unterstellen. Entschieden
wurde sich dann aber dafür, die neue Behörde dem Industriekommissar
anzugliedern. Funktional wurde debattiert, eine „Sicherheits- und
Verteidigungsdirektion“ ins Leben zu rufen, der auch alle Fragen der inneren
„Sicherheit“ unterstellt worden wären. Alternativ dazu hat nun die Fokussierung
auf Verteidigung bzw. Rüstung ergänzt um den Weltraum das Rennen gemacht.
In ihrem Brief vom 10. September hatte
Kommissionspräsidentin von der Leyen die Aufgaben und Kompetenzen der DG
Defence bereits recht präzise umrissen. Im Wesentlichen soll vor
allem das Management einiger erstmals und vor allem auch erstmal in diesem
großen Stil ausgelobter europäischer Rüstungsbudgets im kommenden EU-Haushalt
2021 bis 2027 in den Verantwortungsbereich der neuen Generaldirektion fallen.
Im Folgenden beziehen sich die genannten Haushaltsgrößen auf die von der
EU-Kommission vorgeschlagenen Zahlen – die können sich in den anstehenden
Verhandlungen mit Parlament und Rat zum Mehrjährigen Finanzrahmen, die im Laufe
des Jahres 2020 zum Abschluss gebracht werden sollen, zwar noch deutlich
ändern, geben aber in jedem Fall einen Einblick, wohin die Kommission steuern
will.
[10]
Ein großer Brocken wird dabei das Management diverser
Weltraumprogramme darstellen, die allesamt von erheblicher militärischer
Relevanz sind. Von den im nächsten EU-Haushalt 2021 bis 2027 dafür
vorgesehenen 16 Mrd. Euro entfallen allein auf das
Satellitennavigationssystem Galileo (9,7 Mrd.) und das
Geoinformationssystem Copernicus (5,8 Mrd.) zusammen 15,5 Mrd. Euro.
Trotz des zumindest in Teilen eindeutig militärischen Charakters der
beiden Weltraumprogramme wird bis heute krampfhaft versucht, sie als
vorwiegend zivile Unterfangen zu verkaufen: „Galileo und Copernicus sind
zivile Programme unter ziviler Kontrolle und werden dies auch bleiben,
auch wenn sie sicherheits- und verteidigungspolitischen Bedürfnissen
ebenfalls entsprechen“, so etwa die verbalen Klimmzüge des Chefs der
neuen DG Defence, Thierry Breton.
[11]
Ein zweiter wichtiger Kompetenzbereich wird die „Militärische
Mobilität” zur schnellen Verbringung von Truppen und Gerät – mit Blick auf
Russland vor allem nach Osteuropa –umfassen. Hier wird die DG Defence die
Verantwortung für die Implementierung des „Aktionsplans Militärische Mobilität“
vom März 2018 haben. Ob sie oder die Generaldirektion Transport und Verkehr (DG
MOVE) die hierfür im nächsten EU-Haushalt vorgesehenen 6,5 Mrd. Euro verwalten
wird, ist gegenwärtig allerdings noch offen.
Die dritte und wohl wichtigste Aufgabe der DG Defence wird
es aber sein, die schon länger anvisierte Herausbildung eines
EU-Rüstungsmarktes zu forcieren. Hieran ließ von der Leyen jedenfalls in ihrem „Einsatzbefehl“
vom 10. September wenig Zweifel aufkommen: „Ich möchte Sie bitten, sich auf die Schaffung eines
offenen und wettbewerbsorientierten europäischen Rüstungsmarktes zu fokussieren
und dafür die EU-Beschaffungsrichtlinen im Verteidigungsbereich durchzusetzen.“
[12]
Dementsprechend erklärte der Chef der
neuen DG Defence, Thierry Breton, unmittelbar vor seinem Amtsantritt, er sehe
es als eine seiner Hauptaufgaben an, „nicht davor zurückzuschrecken“ die Regeln
des Binnenmarktes durchzusetzen, hierfür wolle er besonders den „Umgang der
Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren beschleunigen.“
[13]
Gleichzeitig soll aber die Anbahnung
europaweiter Beschaffungsprojekte über die Einrichtung eines „Europäischen
Verteidigungsfonds“ (EVF) versüßt werden. Ziel ist es die Mitgliedsländer finanziell dazu zu „ermuntern“, sich auf
europaweite Rüstungsvorhaben einzulassen, anstatt weiter ihre verhältnismäßig
kleinen nationalen Firmen zu alimentieren: „Um dies zu veranschaulichen: Die
Beträge, die die Kommission vorhat zur Finanzierung von Verteidigungsforschung
auszugeben, sind größer als die der meisten Mitgliedsstaaten (ausgenommen
lediglich Frankreich und Deutschland). Das bedeutet dass sie alle faktisch
damit beginnen werden, ihre Forschungs- und Entwicklungspolitik im
Verteidigungssektor um den Europäischen Verteidigungsfonds der Kommission herum
zu strukturieren.“
[14]
Erstmals offiziell angekündigt wurde
der EVF ebenfalls im November 2016 im Verteidigungs-Aktionsplan. Im Juni 2018 legte
die Kommission dann einen EVF-Verordnungsvorschlag vor, der dann bis Frühjahr
2019 in den Trilog-Verhandlungen mit Rat und Parlament abgestimmt wurde. Für den EVF sind nun im Kommissionsvorschlag
für den nächsten EU-Haushalt 2021 bis 2027 insgesamt 13 Mrd. Euro für die
Erforschung und Entwicklung von Rüstungsprojekten vorgesehen, sofern sie unter Beteiligung
von mindestens drei Ländern und drei Unternehmen durchgeführt werden (durch vorgeschriebene
nationale Ko-Finanzierungen kann sich dieser Betrag auf bis zu 48,6 Mrd. Euro
summieren).
Die
Verwaltung dieses Fonds, wird in wesentlichen Teilen ebenfalls im
Verantwortungsbereich der DG Defense und damit des
Industriekommissariats liegen.
Nachdem mit Sylvie Goulard seine erste Kandidatin für diesen
Posten unter anderem wegen Korruptionsvorwürfen und vorangegangener
Querelen um
die Kommissionspräsidentschaft am Votum des EPs scheiterte, zauberte der
französische Präsident Emmanuel Macron danach mit Thierry Breton eine
Person aus dem Hut, bei der handfeste Interessenskonflikte ebenfalls
bereits vorprogrammiert sind.
Denn von den EVF-Geldern sind mindestens
vier und bis zu acht Prozent für „disruptive Verteidigungstechnologien“
vorgesehen. Dabei handelt es sich um Technologien, von denen man sich radikale
Veränderung von Theorie und Praxis der Kriegsführung verspricht. Führend bei derlei
Technologien sind in der Regel rüstungsnahe IT-Unternehmen wie Atos, das für
die französische Armee etwa das
„Bull Battle Management System“ zur
Automatisierung der Kriegstaktik entwickelt hat. Atos ist auch der führende
Cloud-Dienstleister der Bundeswehr und betreut damit die Schnittstelle über die
eine Verbindung von Kräften im Feld mit künftigen autonomen Systemen erfolgen
wird.
[15]
Nachdem er zuvor unter anderem ein
hohes Tier bei Thomson war, aus der später der Rüstungsgroßkonzern Thales
hervorging, war Thierry Breton bis zu seiner Nominierung zum Industriekommissar
Chef von Atos, wodurch sich Interessenskonflikte wohl kaum vermeiden lassen
werden. Schließlich war Breton damit Chef eines Unternehmens, das zu den
führenden Profiteuren der von ihm verwalteten Gelder zählen könnte. Dem zuletzt
auf 34 Mio. Euro bezifferten Wert seiner Atos-Aktien hat seine Ernennung
jedenfalls nicht geschadet, nachdem er sie kurz darauf abgestoßen hatte.
Aus seiner Affinität für die
Digitalisierung des Krieges machte Breton in seinen Antworten auf die Fragen
der EU-Parlamentarier jedenfalls ebenso wenig ein Hehl wie aus seinem Herz für
Unternehmen der IT-Branche: „Ich möchte die disruptive Innovationsdimension des
EVF entwickeln und sicherstellen, dass das vorgesehene Budget (zwischen vier
und acht Prozent) einen wirklichen Einfluss hat, Unternehmen außerhalb des
Verteidigungssektors, Start-ups und Existenzgründer anzuziehen, um dadurch die
europäische Führung bei strategischen technischen Lösungen sicherzustellen.“
[16]
Als Beispiel nannte er etwa Quantencomputer, wo es gelte sich an „vorderster
Front“ zu positionieren, indem nicht nur Technologien für die „zivile
Anwendung“ entwickelt würden, sondern „genauso für ihre Einführung in den
Weltraum- und Verteidigungsbereich.“
[17]
3. Pseudoeuropäisierung
Eine erste Frage, die sich mit Blick auf den EVF aufdrängt,
lautet, weshalb sich die Staats- und Regierungschefs überhaupt darauf
eingelassen haben, der Kommission gewisse Spielräume zu ermöglichen. Die
Antwort ist simpel: wegen dem Geld. Denn es liegt auf der Hand, dass der üppige
EU-Haushalt Begehrlichkeiten weckt, ihn auch für allerlei militärische Zwecke
nutzbar zu machen. Die bestimmte Form, in der dies nun geschieht, unter der
Ägide des Industriekommissars, ist wiederum der Rechtslage geschuldet, dass
militärische Maßnahmen aufgrund von Artikel 41(2) des EU-Vertrags – eigentlich –
nicht aus dem EU-Haushalt bezahlt werden dürfen. Um dieses Verbot zu
umschiffen, greift die Kommission auf den rechtlich überaus fragwürdigen Trick
zurück, die EVF-Gelder als Maßnahmen zur Wettbewerbsförderung zu deklarieren
und sie auf dieser Grundlage dem Industriekommissariat zuzuordnen.
[18]
Um mit Blick auf die Einrichtung des EVF und der
Generaldirektion Verteidigung aber von Quantensprüngen bei der Europäisierung
der Militärpolitik sprechen zu können, müsste die Aufwertung der Kommission auch
von mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament begleitet werden – doch
genau dies ist nur sehr begrenzt der Fall. Denn in einem bemerkenswerten Akt der Selbstentmachtung
stimmte das EU-Parlament in den Trilog-Verhandlungen mit Kommission und Rat im
Frühjahr 2019 mehrheitlich einem „Kompromiss“ zur EVF-Verordnung zu, durch den es
lediglich ex-post Informationen ohne jegliche Einflussmöglichkeiten erhält.
Wörtlich heißt es darin: „Die Kommission sollte regelmäßig
die Durchführung des Fonds überwachen und jährlich über die erzielten
Fortschritte Bericht erstatten […]. Zu diesem Zweck sollte die Kommission die
erforderlichen Überwachungsmaßnahmen einrichten. Dieser Bericht sollte dem
Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt werden und keine vertraulichen
Informationen enthalten.“
[19]
Dementsprechend
kam auch eine vom EU-Parlament in Auftrag gegebene Studie zu dem Ergebnis, im
Verordnungsvorschlag der Kommission „scheint es keine klare Rolle für das
Europäische und auch nicht für die nationalen Parlamente zu geben.“
[20]
Auch Breton gab den EU-Parlamentariern auf ihre Fragen hin freundlich
aber bestimmt zu verstehen, dass er gerne gewillt ist, sie im Nachhinein über
seine Arbeit zu informieren, er aber nicht gedenkt, sich dabei von ihnen hineinreden
zu lassen: „Ich werde das Europäische Parlament regelmäßig sowohl über die
jährlichen Prioritäten als auch über die langfristiges strategische Planung des
EVF unterrichten.“
[21]
Doch auch die Kommission wird keineswegs im
Alleingang über die EVF-Gelder verfügen können: Denn der Fonds und die von ihm
finanzierten Projekte sollen über Arbeitsprogramme gesteuert werden, die auch von
den im Rat versammelten Staaten abgesegnet werden müssen. Damit haben sichdie Mitgliedsstaaten faktisch ein Vetorecht
in Sachen EVF-Projekte gesichert. Dass die EVF-Gelder auch noch bevorzugt
an Projekte der auf Ebene der Mitgliedsstaaten angesiedelten „Ständigen
Strukturierten Zusammenarbeit“ (engl. „PESCO“) fließen sollen, erhöht deren Einfluss
nur noch weiter. Vor diesem Hintergrund warnte kürzlich der ehemalige Chef der
EU-Verteidigungsagentur, Nick Witney, die Kommission davor, sie solle
sich ihre neuen Kompetenzen nicht zu Kopf steigen lassen. Im Prinzip habe sich
nichts geändert, alle wesentlichen Entscheidungen in Sachen EU-Militärpolitik
würden weiter beim Rat liegen, weshalb die Kommission sich dementsprechend nach
dessen Präferenzen zu richten habe.
[22]
Mit anderen
Worten: Rüstungsfragen bleiben weiter im Wesentlichen Sache der (großen)
Mitgliedsstaaten. Dabei sind es vor allem Deutschland und Frankreich, die sich ungeachtet
gelegentlicher Streitereien im Detail völlig einig darin zu sein scheinen, den
Ausbau des EU-Militärapparates voranzutreiben. Mit der Generaldirektion
Verteidigungsindustrie und Weltraum wurde nun eine wichtige institutionelle
Voraussetzung geschaffen, um dieses Ziel umzusetzen.
[1]
Leyen, Ursula von der: Commissioner-designate for Internal Market. Mission
Letter,
Brüssel,
10.9.2019. Derselbe „Mission letter“ wurde dann später auch Thierry Breton, der
dann schlussendlich Industriekommissar werden sollte, am 7. November 2019 zugesendet.
[2] Becker,
Peter/ Kempin, Ronja: Die EU-Kommission als sicherheits- und
verteidigungspolitische Akteurin,
SWP-Aktuell
A34, Juni 2019, S. 6.
[3]
Ebd., S. 5.
[4] Laut European
Defence
Agency: Defence Data 2017-2018, S. 9 waren im Jahr 2018 lediglich 17,8
Prozent aller Rüstungsprogramme länderübergreifend.
[5] Questionnaire to the
Commissioner-Designate Thierry Breton, Commissioner-designate for the Internal Market,
13.11.2019, S. 20. Diese Zahlen kursieren bereits länger:
„Die fehlende Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen kostet Europa alljährlich
zwischen 25 Mrd. und 100 Mrd. EUR – je nach Bereich. Gelder, die wir anders so
viel besser einsetzen könnten.“ (Juncker, Jean-Claude: Rede zur Lage der
Europäischen Union, Brüssel, 14.9.2016)
[6] The impact of the ‚defence package‘
Directives on European defence, DGEXPO, Juni 2015.
[7] Mitteilung der Kommission:
Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan, Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 950), S.
23. Auch ein zweiter am selben Tag veröffentlichten
Kommissionsbericht zur Evaluation der Beschaffungsrichtlinie gelangte zu dem
Ergebnis, die Mitgliedsstaaten würden die Beschaffungsrichtlinie nur zögerlich
umsetzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, kündigte die Kommission an, nun
Vertragsverletzungsverfahren gegen renitente Staaten einzuleiten, die im Extremfall
zu empfindlichen Strafen führen können: „Bei
schwerwiegenden Verstößen gegen EU-Recht in Bezug auf konkrete Auftragsvergaben
für Verteidigungsgüter sollen
Vertragsverletzungsverfahren
eingeleitet werden. Der Fokus sollte insbesondere auf Fälle der Nichtanwendung
der Richtlinie und entsprechende Marktverzerrungen, wie Forderungen nach
Ausgleich/Gegenleistungen an die Industrie, gelegt werden.“ ( Bericht der Kommission zur Umsetzung der Richtlinie 2009/81/EG zur
Vergabe öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit,
Brüssel, 30.11.2016 (COM(2016) 762))
[8]
Mitteilung der Kommission: Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan, Brüssel, 30.11.2016
(COM(2016) 950), S. 16f.
[9] Morgan,
Sam: Von Bieńkowska zu Goulard: Machtübergabe in der EU-Industriepolitik,
euractiv.de,
17.9.2019.
[10] Die
Anfang Dezember 2019 eingereichten Zahlen der finnischen Ratspräsidentschaft
etwa liegen bislang noch deutlich unter den Vorstellungen der Kommission. Siehe
Multiannual Financial Framework
(MFF) 2021-2027: Negotiating Box with figures, Brussels, 5.12.2019.
[11] Questionnaire to
the Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 19. Bretons Vorgängerin äußerte sich in dieser Sache dagegen
deutlicher: „Auf die Frage nach der ‚recht naheliegenden Verbindung‘ zwischen
Weltraum- und Verteidigungspolitik wies Bieńkowska darauf hin, dass rund 95
Prozent der Verteidigungseinrichtungen und -kräfte weltraumgestützte Daten
verwenden.“ (Morgan, Sam: Von Bieńkowska zu Goulard: Machtübergabe in der
EU-Industriepolitik,
euractiv.de,
17.9.2019)
[12] Leyen, Ursula von der: Commissioner-designate
for Internal Market. Mission Letter,
Brüssel, 10.9.2019.
[13] Questionnaire to the
Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 27.
[14] Molina, Ignacio/Simón, Luis: A
strategic look at the position of High Representative and Commission
Vice-President,
ARI 88/2019.
[15] Vgl.
Marischka, Christoph: (Diese) Industriepolitik ist Rüstungspolitik. Mit Thierry Breton zum KI-Airbus?
IMI-Analyse 2019/38.
[16] Questionnaire to the
Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 21.
[17] Ebd.,
S. 18.
[18]
Vgl. Fischer-Lescano, Andreas: Rechtsgutachten zur Illegalität des Europäischen
Verteidigungsfonds,
GUE/NGL,
November 2018.
[19]
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur
Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds,
Brüssel,
18.4.2019.
[20] Fiott, Daniel: The Scrutiny of the European Defence
Fund by the European Parliament and National Parliaments, Policy Department for
External Relations, April 2019
[21] Questionnaire to the
Commissioner-Designate Thierry Breton, S. 21.
[22] Witney, Nick: European defence and
the new Commission,
ECFR Commentary, 30.9.2019.