Dienstag, 21. April 2015
Die Flüchtlings-Todesregion Nr. 1
ROM/BERLIN
german-foreign-policy.com/de vom 20.04.2015– Mehr als 1.000 Ertrunkene binnen zehn Tagen sind das jüngste Resultat der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer. Allein am gestrigen Sonntag kamen mutmaßlich 700 Menschen zu Tode, als ihr Boot auf dem Weg nach Europa kenterte. Nach dem Höchststand von 2014, als mindestens 3.500 Flüchtlinge die Überfahrt in die EU nicht überlebten, zeichnet sich für 2015 bereits jetzt eine neue Rekordzahl an Todesopfern ab. Ursache für das Flüchtlingssterben ist seit Jahren, dass Berlin und die EU mit der Hochrüstung der Grenze Flüchtlinge rücksichtslos auf immer gefährlichere Fluchtrouten abdrängen. Zudem hat die EU letzten Herbst auf deutschen Druck eine Seenot-Rettungsmission in eine Abschreckungsoperation der Grenzbehörde Frontex umgewandelt, weshalb in Seenot geratene Flüchtlinge jetzt kaum noch Chancen auf Rettung haben. Während es vor allem in den Staaten Südeuropas heißt, die EU müsse nun endlich wieder zur Seenot-Rettung übergehen, fordert Berlin eine weitere Verschärfung der tödlichen Abschreckung: Man müsse den „Schlepperorganisationen das Handwerk“ legen, wird Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zitiert.
Zehn Tote pro Tag
Mit dem Ertrinken von mutmaßlich 700 Flüchtlingen am gestrigen Sonntag hat sich die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer auf rund 1.000 in den vergangenen zehn Tagen erhöht. Seit dem 1. Januar sind demnach rund 1.600 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, von der nordafrikanischen Küste auf dem Seeweg in die EU zu gelangen – mehr als zehnmal so viele wie bei dem furchtbaren Flugzeugabsturz vom 24. März in den französischen Alpen. Damit drohen dieses Jahr noch deutlich mehr Menschen auf der Flucht im Mittelmeer zu ertrinken als 2014; damals erreichte die Zahl der Opfer mit rund 3.500 einen furchtbaren Höchststand – zehn Tote pro Tag. Wie die International Organization for Migration (IOM) mitteilt, starben 75 Prozent aller weltweit auf der Flucht ums Leben gekommenen Menschen im Mittelmeer, das damit konkurrenzlos als globale Flüchtlings-Todesregion Nummer 1 gelten kann. Zu berücksichtigen sei bei alledem eine wahrscheinlich recht hohe Dunkelziffer, heißt es bei der IOM; die tatsächliche Zahl der Todesopfer könne leicht beim doppelten Wert liegen. Das Flüchtlingssterben ist eine logische Folge der jahrelangen deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr, die mit hochgerüsteten „Grenzzäunen“ und modernster „Sicherheitstechnologie“ Menschen, die Krieg und Hunger entkommen wollen, auf immer gefährlichere Fluchtwege treibt.
Von „Mare Nostrum“ zu „Triton“
Besondere Beachtung verdient dabei gegenwärtig eine von Deutschland durchgesetzte Maßnahme, die vor allem in den südlichen EU-Ländern heftigen Protest hervorruft. Dabei handelt es sich um eine Transformation der italienischen Seenot-Rettungsmission „Mare Nostrum“. Rom hatte die Mission gestartet (german-foreign-policy.com berichtete [1]), nachdem bei einem Flüchtlingsunglück im Oktober 2013 mehr als 360 Menschen im Mittelmeer ertrunken waren. „Mare Nostrum“ rettete bis zum 31. Oktober 2014 über 155.000 Menschen das Leben. Danach musste die Mission eingestellt werden. Die EU übernahm sie, weigerte sich aber, sie als Seenot-Rettungsmission weiterzuführen; die rund neun Millionen Euro monatlich, die sie gekostet hätte – für Brüssel ein lächerlich geringer Betrag -, seien zuviel, hieß es zur Begründung. „Mare Nostrum“ wurde im Namen der EU zur bloß auf Abschreckung zielenden, billigeren Grenzschutzoperation „Triton“. Die Folgen lagen und liegen für Menschen in den Mittelmeer-Anrainerstaaten auf der Hand. Als etwa am 8. Februar ungefähr 30 Flüchtlinge auf dem Weg über das Mittelmeer erfroren, hielt die Bürgermeisterin von Lampedusa fest: „Mit Mare Nostrum wären sie noch am Leben.“[2]
Hilfe verweigert
Tatsächlich geht die Transformation von „Mare Nostrum“ zu „Triton“ vor allem auf deutschen Druck zurück. Bundesinnenminister Thomas de Maizière behauptet, die Seenot-Rettung schaffe für Flüchtlinge neue Motive, lediglich in See zu stechen, um sich „retten“ zu lassen: „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen.“[3] Dieser Behauptung aus Berlin Rechnung tragend, hieß es in einem EU-Konzeptpapier, Flüchtlinge seien durch Italiens Rettungsaktion zur Flucht „ermutigt“ worden. Der deutsche Operationsleiter von „Triton“, Klaus Rösler, hat sich am 9. Dezember in einem Schreiben an den Direktor der italienischen Grenzpolizei dafür stark gemacht, Notrufen von außerhalb der 30-Meilen-Zone zukünftig überhaupt nicht mehr nachzukommen. Man wolle keine „Anreize“ zur Flucht bieten, hieß es zur Begründung für den Aufruf zur Verweigerung lebensrettender Hilfe, wie die Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl“ berichtet.[4] Der Notruf des Bootes, dessen Kentern gestern rund 700 Menschen das Leben kostete, erfolgte von außerhalb der 30-Meilen-Zone, weshalb die EU-Grenzbehörde Frontex sich nicht zu Reaktionen veranlasst sah.
Berlin hält Kurs
Trotz zunehmender Proteste wegen des Massensterbens im Mittelmeer rückt die Bundesregierung von ihrer Abschreckungspolitik nicht ab. Vor dem heutigen Treffen der EU-Außenminister in Brüssel kündigte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) an, er werde sich dafür einsetzen, dass „Schlepperorganisationen das Handwerk gelegt“ werde.[5] Von einer Ausweitung der Seenot-Rettung auf dem Mittelmeer oder gar von einer Abkehr von der fatalen Strategie, Flüchtlinge per Grenzhochrüstung auf immer gefährlichere Fluchtwege abzudrängen, sagte Steinmeier nichts. Ungeachtet der steigenden Zahl von Todesopfern hält Berlin Kurs.
Weitere Informationen zur deutschen Flüchtlingsabwehr und ihren tödlichen Folgen finden Sie hier: Abschotten, abwälzen, abschieben, Das Ende der Freizügigkeit, Grenzen dicht! (I),Grenzen dicht! (II), Willkommen in Deutschland, Folgen des Anti-Terror-Kriegs, Einmalige Abschreckung und Kein Ende in Sicht.
[1] S. dazu Kein Ende in Sicht.
[2], [3], [4] „Mit Mare Nostrum wären sie noch am Leben“. www.proasyl.de 10.02.2015.
[5] Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Unglück im Mittelmeer. Berlin, 19.04.2015.
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