Dienstag, 21. April 2015
Ratschläge für den Genozid
BERLIN/ANKARA
german-foreign-policy vom 21.04.2015 – Der aktuelle Berliner Streit um die offizielle Bezeichnung für den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich ist ein Streit um die offizielle Einstufung auch deutscher Staatsverbrechen. Dies ergibt sich aus historischen Untersuchungen und aus neuen Recherchen, die die Beihilfe hoher Funktionsträger des deutschen Kaiserreichs für den Genozid klar nachweisen. Demnach haben deutsche Offiziere, die im Ersten Weltkrieg führende Positionen in der osmanischen Armee bekleideten, etwa an Deportationsbeschlüssen mitgewirkt, die die armenischsprachigen Einwohner des Osmanischen Reichs der genozidalen Gewalt osmanischer Militärs und anatolischer Banden preisgaben. Weit mehr als eine Million Armenier wurden ab April 1915 massakriert oder gezielt dem Tod durch Hunger, Durst und Krankheiten ausgesetzt. Wie eine aktuelle Publikation des Journalisten Jürgen Gottschlich belegt, war die deutsche Beihilfe dadurch motiviert, dass man der Ansicht war, die Armenier stünden mit Russland im Bunde und müssten deshalb ausgeschaltet werden. Bezeichnet der Bundestag in seiner für den hundertsten Jahrestag des Beginns der Massaker geplanten Resolution den Genozid tatsächlich als Genozid, dann räumt er ein, dass sich deutsche Offiziere und Regierungsstellen eines Verbrechens schuldig gemacht haben, das nicht verjährt.
Streit um die Sprachregelung
In Berlin hält der Streit darum an, wie der Genozid an der armenischsprachigen Bevölkerung des Osmanischen Reichs in offiziellen Dokumenten und in Stellungnahmen staatlicher Stellen genannt werden soll. Bislang weigert sich die Bundesregierung, von einem Genozid zu sprechen, und zieht sich auf Begriffe wie „Vertreibung“, „Massaker“ oder „ethnische Säuberung“ zurück. Hintergrund ist, dass die Einstufung des Massenverbrechens nicht nur Taten osmanisch-türkischer Funktionsträger betrifft, sondern auch hochrangige Offiziere und höchste Staatsorgane des Deutschen Reichs. Dies belegen wissenschaftliche Untersuchungen und neue Recherchen, die die deutsche Beihilfe zum Genozid an den Armeniern im Detail dokumentieren.
Der Weg zur Weltmacht
Die deutsche Beihilfe zum Genozid an der armenischsprachigen Bevölkerung des Osmanischen Reichs resultierte letztlich aus der strategisch angelegten deutschen Südost-Expansion. In den 1880er Jahren hatte Berlin militärisch und wirtschaftlich eine intensive Zusammenarbeit mit Konstantinopel aufgenommen. 1882 begann es mit der Entsendung von Offizieren, die das marode osmanische Militär reformieren und dadurch das schwächelnde Osmanische Reich wieder stärken und vor allem unter deutschen Einfluss bringen sollten. 1888 erhielt ein deutsch geführtes Konsortium den Auftrag zum Bau der Anatolischen Eisenbahn, die von Konstantinopel ins Innere Anatoliens bis Konya beziehungsweise Ankara führte. 1899 folgte der Auftrag zum Bau der Bagdadbahn, die das Gebiet des heutigen Irak erschließen und letztlich bis Basra führen sollte. Ziel war es nicht nur, den Mittleren Osten als Rohstoffquelle und als Absatzgebiet für deutsche Waren zu gewinnen, sondern auch, über das Osmanische Reich weiter nach Osten vorzudringen – bis Iran und weiter bis Indien, das „Kronjuwel“ des damaligen Britischen Reichs. Die Zusammenarbeit mit dem Sultan, die 1889 und 1898 durch zwei Besuche Kaiser Wilhelms II. in Konstantinopel gefestigt wurde, galt in Berlin als notwendiger Schritt auf dem deutschen Weg zur Weltmacht.
In Führungspositionen
Entsprechend setzte Berlin auch im Ersten Weltkrieg auf ein enges Bündnis mit dem Osmanischen Reich. Begünstigt wurde dies dadurch, dass deutsche Offiziere seit Beginn der deutsch angeleiteten Militärreformen führende Positionen in den osmanischen Streitkräften übernommen hatten. Generalleutnant Friedrich Bronsart von Schellendorf etwa besaß als Generalstabschef der Osmanischen Armee maßgeblichen Einfluss auf die gesamte osmanische Kriegsführung. Mit Otto von Feldmann leitete ein deutscher Soldat die Operationsabteilung der Obersten Heeresleitung des Osmanischen Reichs. Deutsche Offiziere befehligten auf unterschiedlichen Ebenen auch konkrete osmanische Kriegsoperationen. So kommandierte General Otto Liman von Sanders, offizieller Leiter der deutschen Militärmission in Konstantinopel, 1915 die Abwehrschlacht von Gallipoli, die die deutsch-osmanische Kontrolle über die Verbindung zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer sicherte und Russland von den Weltmeeren fernhielt. Major Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg wirkte als Stabschef des stellvertretenden Kommandeurs der osmanischen IV. Armee. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren.
Deutsche Ratschläge
Deutsche Offiziere waren daher äußerst eng eingebunden, als die politisch-militärische Führung in Konstantinopel im Frühjahr 1915 gegen die armenischsprachigen Bevölkerungsteile des Landes mobilzumachen begann – dies mit der Behauptung begründend, die christlichen Armenier hätten sich auf die Seite des russischen Kriegsgegners geschlagen und betrieben zu dessen Gunsten Subversion. Wie der Journalist Jürgen Gottschlich in einer aktuellen Publikation zeigt, beschränkte sich die deutsche Rolle dabei keineswegs auf das passive Tolerieren osmanischer Massaker, sondern bezog eigene Initiativen ein. „Es soll und darf … nicht geleugnet werden, daß auch deutsche Offiziere – und ich selbst gehörte zu ihnen – gezwungen waren, ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen“, gab etwa Operationschef Otto von Feldmann später zu.[1]
Organisatorische Köpfe
Tatsächlich gaben deutsche Militärs nicht nur in den allgemeinen Debatten des osmanischen Generalstabs Ratschläge zu den Armenier-Deportationen. Wie der damalige osmanische Innenminister Talaat in seinen Memoiren schildert, wurde die Vorlage für das Deportationsgesetz vom 27. Mai 1915, das die Verschleppung der Armenier festlegte, vom Generalstab unter seinem Chef Bronsart von Schellendorf erstellt. Gottschlich weist darauf hin, dass Experten wie der türkische Historiker İlber Ortaylı Bronsart von Schellendorf gar für den „organisatorische(n) Kopf hinter den Deportationen“ halten.[2] Deutsche Offiziere setzten die Deportationen teilweise sogar gegen Widerstand durch. Dies gilt etwa für die Verschleppung armenischer Arbeiter, die beim Bau der Bagdadbahn tätig waren. Bemühungen des Bagdadbahn-Vizepräsidenten Franz J. Günther, eine Ausnahmeregelung für seine Angestellten zu erhalten, scheiterten letztlich an Oberleutnant Karl Anton Böttrich, dem Leiter der Eisenbahn- und Transportdivision im Osmanischen Generalstab. Böttrich unterschrieb im Oktober 1915 eigens einen Deportationsbefehl gegen sie. Günther hielt trocken fest: „Die Unterschrift eines Mitglieds der deutschen Militärmission beweist, daß die Deutschen nicht nur nichts getan haben, um die Verfolgung der Armenier zu verhindern, sondern stattdessen verschiedene Befehle dazu von ihnen ausgegangen sind und unterzeichnet wurden.“ In einzelne Operationen waren Deutsche sogar militärisch aktiv eingebunden. Major Wolffskeel etwa beteiligte sich ab März 1915 an Operationen der IV. Armee gegen Armenier in Zeitun (heute: Süleymanlı) und an der Niederschlagung des armenischen Widerstands in Urfa im Oktober 1915.
„Von Rußland genährte Wühlarbeit“
Während einzelne deutsche Diplomaten in osmanischen Provinzhauptstädten wegen der Massaker, deren Folgen sie unmittelbar erleben mussten, Protest einlegten, wurde der Genozid von der diplomatischen Führungsebene stets gedeckt. „Die von Rußland genährte armenische Wühlarbeit hat Dimensionen angenommen, welche den Bestand der Türkei bedrohen“, schrieb etwa der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, am 31. Mai 1915 nach Berlin. Man dürfe deshalb „die türkischen Maßnahmen … nicht grundsätzlich hindern“, auch wenn sie „in der gesamten uns feindlich gesinnten Welt wieder große Aufregung verursachen“. Internationale Appelle an Berlin, seinen maßgeblichen Einfluss auf Konstantinopel zu nutzen, um den Verbündeten zur Mäßigung zu veranlassen, prallten an der deutschen Diplomatie ab. Botschafter Wangenheim reichte folgenlose verbale Protestnoten bei der osmanischen Regierung lediglich ein, um Berlin reinzuwaschen, wie er gegenüber dem Auswärtigen Amt erläuterte: „Um eventuellen späteren Invektiven unserer Feinde, als seien wir mitschuldig an dem rigorosen türkischen Vorgehen, wirksam entgegentreten zu können“, habe er es „für geboten erachtet“, offizielle osmanische Stellen „darauf aufmerksam zu machen, daß wir die Deportationen der armenischen Bevölkerung nur insofern billigen, als sie durch militärische Rücksicht geboten ist und zur Sicherung gegen Aufstände dient, daß aber bei Ausführung dieser Maßregel die Deportierten vor Plünderung und Metzeleien zu schützen seien“.[3]
Berlins oberstes Ziel
Nachdrückliche Schritte, um Letzteres auch wirklich durchzusetzen, unternahm Wangenheim freilich nicht. Als sein Nachfolger Paul Graf Wolff Metternich sich für eine kurze Zeit darum bemühte, wurde er, wie Gottschlich schildert, von Berlin abberufen. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg persönlich setzte sich dafür ein. Zur Begründung schrieb er an das Auswärtige Amt: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“[4]
[1], [2], [3], [4] Zitate nach: Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin 2015 (Christoph Links Verlag). Unsere Rezension finden Sie hier.
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