Dienstag, 21. April 2015
Florian Heilig – Der Tod eines Zeugen. Mord oder ein Suizid aus Liebeskummer?
Am 2. März 2015 wurden Vater und Schwester von Florian Heilig im parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA in Baden-Württemberg gehört. Die ehemalige Freundin wurde in einer nicht-öffentlichen Sitzung gehört.
Der folgende Beitrag fasst die zahlreichen Gesprächen mit der Familie Heilig und die eigenen Recherchen der letzten 1 ½ Jahre zusammen.
Genau acht Stunden vor seiner Vernehmung als Zeuge bringt sich Florian Heilig auf fürchterliche Weise selbst um. Er verbrennt in seinem eigenen Auto – um 9 Uhr morgens, 70 Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Das behauptet die Staatsanwaltschaft in Stuttgart, das behauptet der Gall-Bericht des SPD-geführten Innenministeriums im Februar 2014.
Am 16. September 2013, kurz vor 9 Uhr, ist ein Zeuge mit dem Fahrrad unterwegs zur Arbeit und wird auf ein am Cannstatter Wasen abgestelltes Auto aufmerksam. Als er das Auto zum ersten Mal sah, war er ca. 230 Meter davon entfernt. Weder sah er eine Person einsteigen, noch konnte er aus dieser Entfernung sehen, ob Personen im Auto saßen. Als er ca. 100 Meter von dem Auto entfernt war, sah er eine ca. 15 bis 30 Zentimeter hohe Stichflamme auf der Höhe der Fahrerseite aufsteigen. Kurz danach kam es zu einem Knall. Als sich der Zeuge bis auf 30 Meter dem Fahrzeug genähert hatte, brannte das Fahrzeug bereits lichterloh.
Um 9.03 Uhr rief der Zeuge die Feuerwehr. Erst als das Fahrzeug gelöscht worden war, konnte er erkennen, dass sich in dem ausgebrannten Auto eine Person befand.
Ohne die Leiche zu bergen, wurde das Auto abgeschleppt. Geht man von einem normalen Prozedere aus, folgen nun aufwendige Ermittlungen in alle Richtungen. Was spricht für Selbstmord? Welche Indizien schließen auf Fremdverschulden? Was spricht für ein Unglück? Mit der Identifizierung der Leiche ergeben sich weitere Ermittlungsschritte: Was wollte Florian Heilig früh morgens dort? Gibt es Hinweise, die sein Tun, seinen Tod erklären? Ergeben die persönlichen Gegenstände weiteren Aufschluss über seine Absichten, über das, was er Stunden zuvor gemacht hat? Gibt es Hinweise und Indizien, dass Florian Heilig bedroht wurde?
Um all den verschiedenen Möglichkeiten nachzugehen, die zum Tod von Florian Heilig geführt haben, bräuchte man viel Zeit. Genau diese spielte bei der Aufklärung der Todesumstände offensichtlich keine Rolle.
In der gemeinsamen Presserklärung von Polizei, LKA und Staatsanwaltschaft vom 20.9.2013 findet sich folgendes Ergebnis:
»Die am Montagabend (16.09.2013) durchgeführte Obduktion ergab, dass ein Fremdverschulden oder ein Unfallgeschehen nahezu ausgeschlossen werden kann. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei haben ergeben, dass der junge Mann das Fahrzeug vermutlich selber in Brand gesteckt hat. Die Hintergründe für den Suizid dürften im Bereich einer persönlichen Beziehung liegen.«
In dem Statement des Pressesprechers im Innenministerium Rüdiger Felber fällt bereits das ›nahezu‹ weg: »Wie bei jedem anderen Suizid wurde auch hier gewissenhaft geprüft, ob eine Fremdeinwirkung vorliegen könnte. Das ist eindeutig zu verneinen.«
»Daher ermitteln wir nicht mehr weiter«, so Polizeisprecher Thomas Ulmer. (Südwest Presse vom 15.10.2013)
Alles schien in wenigen Tagen abgeklärt worden zu sein, auch das Motiv: »Die Polizei geht von einem Selbstmord aus, angeblich aus Liebeskummer.« (Berliner Zeitung vom 1.10.2013). Mangels eines Abschiedsbriefes wollen die Ermittler dies »aus dem familiären Umfeld« erfahren haben.
Auf den ersten Blick suggerieren diese Polizeiangaben also einen aus privaten Gründen begangenen Selbstmord eines jungen und ansonsten unauffälligen Mannes. Alles scheint schlüssig und widerspruchsfrei. Wer diese Pressemitteilungen liest, überfliegt sie so uninteressiert wie eine Verkehrsmeldung.
In der Kontinuität falscher, manipulierter Ermittlungsergebnisse
Fast nichts stimmt an diesen veröffentlichten Ermittlungsergebnissen. Die Behauptung, man habe in alle Richtungen ermittelt, ist vorsätzlich falsch. Der Versuch, den politischen Kontext dieses Todes zu verleugnen, ist eine gewollte Irreführung. Die Behauptung, man kenne das Motiv für den Selbstmord, ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten. Die Unterschlagung von behördlichem Wissen, das einen Mord wahrscheinlicher macht, als das selbst erfundene Motiv ›Liebeskummer‹, macht diese Art der Entsorgung eines Mordopfers besonders perfide und widerlich.
Tatortbereinigung
In einigen Zeitungen wurde die Meldung lanciert, (ein) Zeuge/n soll(en) gesehen haben, dass unmittelbar vor dem Inbrandsetzen des Autos eine Person das Auto bestiegen habe. Das ist falsch. Keine einzige Person konnte dies sehen. Der zitierte Zeuge, der die Feuerwehr über den Brand informiert hatte, gab vielmehr an, dass er keine Person gesehen habe und erst einmal davon ausging, dass es sich um ein leeres, abgestelltes Fahrzeug handelte. Erst als der Brand gelöscht war, konnte der Zeuge auf der Fahrerseite eine Person erkennen, die zurückgekrümmt, am Autositz gepresst saß.
Das ausgebrannte Auto wurde zur kriminaltechnischen Untersuchung abgeschleppt, die Leiche obduziert. Selbstverständlich gibt es trotz Brand sehr viele Spuren, die – wenn es mit rechten Dingen zuginge – in alle Richtungen hin abgeklärt werden müssten. Gibt es Fingerabdrücke, die nicht Florian Heilig zugeordnet werden können? Wie lange stand das Auto am Cannstatter Wasen? Welche persönlichen Gegenstände befanden sich im Auto? Was ergab die Auswertung der Handydaten, des Funkzellenprotokolls, die Auswertung der letzten Verbindungsdaten? Mit wem hat Florian Heilig in den Stunden, in den Tagen zuvor telefoniert? Was hat die Überprüfung dieser Personen ergeben? Was war Gegenstand der Gespräche, die Florian Heilig geführt hatte, nachdem er das Elternhaus verlassen hatte?
Kurzum: Wenn die Polizei ihren eigenen Ermittlungsmethoden – auch in diesem Fall – folgen würde, ginge es erst einmal darum, für verschiedene Geschehensabläufe die entsprechenden Indizien zu sichern, auszuwerten und zuzuordnen. Erst wenn dies geschehen ist, folgt der zweite Schritt: Gibt es aufgrund der vorhandenen Indizien einen Geschehensablauf, der gegenüber allen anderen glaubhaft und überprüfbar dokumentierbar ist.
Auffallend ist – wie an vielen anderen NSU-Tatorten auch– das geradezu angestrengt und durchgehend über eigene Ermittlungsmethoden hinweggegangen wurde.
Welche Spuren, die nicht Florian Heilig zuzuordnen sind, wurden gefunden und sichergestellt? Wo ist der Schlüsselbund von Florian Heilig geblieben, wo der Zündschlüssel vom Auto? All das ist weder geklärt, noch dokumentiert worden. Eilig hatten es die Ermittlungsbehörden hingegen damit, das Auto als Beweismittel verschwinden zu lassen. Bereits am 17.9.2013, als gerade einmal ein Tag nach dem tödlichen Ereignis wollte das LKA das Auto in die Schrottpresse geben. Dem kam die Familie Heilig zuvor, indem sie darauf bestand, das Auto ausgehändigt zu bekommen.
Nicht einmal der Todeszeitpunkt ist hinreichend geklärt. Auf der Sterbeurkunde vom 23.9.2013 wird der Zeitraum »zwischen dem 15.09.2013 20:30 Uhr und dem 16.09.2013 9:17 Uhr« genannt.
Anders gesagt: Bis heute hat die Polizei weder den Eltern noch der Öffentlichkeit glaubhaft belegen können, dass Florian Heilig durch Suizid ums Leben kam. Und bis heute haben weder Polizei noch Staatsanwalt auch nur im Ansatz den Willen dokumentiert, andere Geschehensabläufe überprüfbar auszuschließen.
Mit welchem Vorsatz buchstäblich auf der Straße liegende Spuren und Indizien ignoriert werden, macht folgender Umstand deutlich: In dem Auto, das die Eltern nach ein paar Tagen abholen konnten, befanden sich u.a. ein Laptop und das Handy von Florian Heilig. Eine Fundgrube für mannigfache und miteinander zu verknüpfende Spuren (digitale Fingerabdrücke) – in jedem anderen Fall. In diesem Fall passierte gar nichts, was man wohl kaum mit einer ›Panne‹ erklären kann. Auf die Frage, warum diese beiden beweiserheblichen Gegenstände nicht ausgewertet wurden, antwortete der Polizeisprecher der Polizei in Stuttgart: Da man von einem Suizid ausgehe, habe man auf deren Auswertung verzichtet. Noch dreister war die Antwort, die der Familie Heilig gegeben wurde: Es habe »kein öffentliches Interesse« gegeben, diesen wertvollen Spuren nachzugehen.
Nun, man kann der Polizei und der Leitenden Staatsanwaltschaft vieles zutrauen, nur eines ganz bestimmt nicht: Die Bedeutung von Handy und Laptop als Beweismittel zu unterschätzen bzw. unbeachtet zu lassen. Selbstverständlich wissen sie um die Bedeutung von Handy-spezifischen Daten und Datensätze, die auf dem Laptop zu finden sind (Dateien, Fotos, E-Mail-Verkehr,IP-Adressen etc.). Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten einer Ermittlung im Todesfall, diese zu sichern und auszuwerten. Mit diesen ehrenwerten Gründen wurde immer und immer wieder die Vorratsdatenspeicherung bei Providern verlangt und durchgesetzt. Nichts findet man dazu in den Ermittlungsakten. Hat das Ergebnis dieser Abfrage gestört?
Das Selbstmordmotiv – ein Trojaner der Ermittlungsbehörden
Bereits wenige Stunden nach dem tödlichen Ereignis wurden die Eltern von der Polizei darüber benachrichtigt, dass ihr Sohn Selbstmord gegangen habe. Über die Presse erfuhren sie dann, dass sich ihr Sohn aus Liebeskummer umgebracht haben soll. Das will man aus dem »familiären Umfeld« erfahren haben.
Die Ermittler wissen, dass das ›familiäre Umfeld‹ ein behördeneigenes Phantom ist. Die Familie, die Geschwister und zahlreiche Freunde erklären übereinstimmend das Polizeiwissen für bodenlos haltlos und falsch.
Florian Heilig hatte eine Freundin und er hatte sich tatsächlich von ihr getrennt. Die Gründe, wenn man sie denn suchen will, waren viele – nur keine, die etwas mit Liebenskummer zu tun hatten. Die ehemalige Freundin von Florian Heilg könnte sicherlich viel dazu sagen. Sie kennt die Gründe der Trennung.
Florian Heilig war also weder lebensmüde, noch in einer aussichtslosen Lage. Er war voller Ideen und Vorsätze. Bevor er am 15. September 2013 sein Zuhause verließ, plante er für die kommende Woche umfangreiche Reparaturen an seinem Auto und gemeinsame Instandsetzungsarbeiten am elterlichen Haus.
Das Motiv für einen Selbstmord ist eine mit Vorsatz in die Welt gesetzte, nicht haltbare Lüge.
Florian Heilig fuhr nicht ca. 70 Kilometer, um sich in Bad Cannstatt aus Liebeskummer umzubringen. Er war für diesen Tag geladen, (ergänzende) Aussagen über Neonazis zu machen, die bei dem Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 beteiligt waren.
Florian Heilig war kein Lebensmüder, sondern ein ehemaliger Neonazi, der sich ab Mitte 2011 im Aussteigerprogramm BIG Rex vom LKA Baden-Württemberg befand.
Florian Heilig plagte kein Liebeskummer, sondern die Angst, dass ihm als Verräter etwas zustoßen könnte. Das liegt nicht nur nahe, es passierte bereits. Ende 2011 wurde er von Neonazis in Heilbronn mit einem Messerstich im Bauch verletzt. Gegenüber den Eltern machte er deutlich, wovor er wirklich Angst hatte: »Sie finden mich immer, wo immer ich bin.«
BIG Rex – Ein Aussteigerprogramm, das vor allem strafbare Handlungen deutscher Behörden schützt, am wenigsten aussteigewillige Neonazis.
Florian Heilig kam 2010 über seine Ausbildung als Krankenpfleger in Klinikum Heilbronn/SLK in Kontakt mit organisierten Neonazis. Er lebte zu dieser Zeit in dem zum Klinikum gehörenden Personalwohnheim. Über diese Freundschaften hatte er auch Zugang zu den neonazistischen Strukturen rund um Heilbronn. Wie alle Neonazis durchlief er die übliche neonazistische ›Karriere‹: Er beteiligte sich an Neonazi-Demos, er veränderte sein Aussehen zusehens (Springerstiefel, Thor-Stein-Klamotten, Glatze). Er war bei Kameradschaftstreffen dabei. Am 1. Mai 2011 wird er im Zuge eines Naziaufmarsches in Heilbronn wegen Waffenbesitzes und Mitführens von Quarzhandschuhen festgenommen. Wenige Wochen später findet eine groß angelegte Razzia im Klinik-eigenen Wohnheim statt. In seinem Zimmer werden eine Nazi-Flagge und zahlreiche scharfe Waffen beschlagnahmt. Waffen, die andere Neonazis bei ihm deponiert hatten, da er bislang nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten war.
Die Razzia, das eingeleitete Ermittlungsverfahren, die drohende Anklage sind ideale und gerne benutzte Möglichkeiten für ›Angebote‹ von staatlicher Seite. Man nutzt den Repressions- und Verfolgungsdruck und bietet das Fallenlassen einer Anklage an, wenn der Betreffende ›kooperiert‹. Tatsächlich machte Florian Heilig wenig später, im Juni 2011, Aussagen über die Neonazi-Szene in und um Heilbronn – als ein halbes Jahr, bevor alle deutschen Behörden etwas von der neonazistischen Terrorgruppe NSU gewusst haben wollen.
Er führte u.a. aus, dass es neben dem NSU noch eine weitere neonazistische Terrorgruppe gibt. Ihr Name: ›Neoschutzstaffel‹ (NSS): »Diese NSS sei von H. als ›zweite radikalste Gruppe‹ neben dem NSU bezeichnet worden. Den Aussagen des Zeugen zufolge hätten sich auch Aktivisten beider Gruppierungen einmal in Öhringen, etwa 25 Kilometer östlich von Heilbronn gelegen, getroffen.« (Südwest Presse vom 15.10.2013)
Von keiner geringeren Brisanz sind seine Aussagen zum Mordanschlag auf die beiden Polizisten in Heilbronn 2007. Er nannte dabei mehrere Personen, die am Mordanschlag beteiligt gewesen sein sollen. Unter den Genannten befinden sich polizeibekannte Neonazis – kein Uwe Mundlos, kein Uwe Böhnhardt, die nach offizieller Version den Mordanschlag begangen haben sollen.
Ein Zeuge, der für Neonazis ein Verräter ist und für die staatlichen Behörden eine Gefahr
Von diesen Aussagen zum Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007, zum NSU und zu weiteren neonazistischen Terrorgruppen, wusste die Öffentlichkeit bis zum Tod von Florian Heilig – nichts.
Nun passierte abermals etwas, was in den vergangenen drei Jahren bereits bestens eingeübt und mittlerweile zur Routine geworden ist. Wenn man etwas nicht mehr leugnen kann, erklärt man es für unwichtig, für nicht belastbar, für nicht zielführend. Konfrontiert mit der Existenz dieser unterschlagenen Aussagen, erklären die Ermittlungsbehörden heute, dass diese zu vage und nicht verifizierbar gewesen wären. Bis heute liegen diese Vernehmungsprotokolle nicht vor.
Wenn man weiß, dass dieselben Ermittlungsbehörden dreizehn Jahre zahlreiche Spuren für wertlos und irrelevant erklärten, weil sie ihre ›Aufklärung‹ störten, kann und muss man auch in diesem Fall von einer gewollten Irreführung ausgehen.
Selbstverständlich wissen die Ermittler heute mehr denn je: Würde ein Zeuge wie dieser, einen nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Beweis erbringen, dass der NSU nicht aus exakt drei Mitgliedern bestand, dass der Mordanschlag auf die Polizisten in Heilbronn von weiteren Neonazis begangen wurde, würde nicht nur die Fiktion vom ›Zwickauer Terrortrio‹ in sich zusammenstürzen, sondern auch die Anklage im Münchner NSU-Prozess.
Ein Zeuge, den es nicht geben darf
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass bis heute die aberwitzige Behauptung aufrechterhalten wird, der NSU habe aus drei Mitgliedern bestanden und man habe keine Kenntnisse über neonazistische Gruppierungen gehabt, die dem NSU nahe standen bzw. mit ihm kooperierten, dann ahnt man die Brisanz dieser Aussagen.
Mit dieser Aussage wäre einmal mehr belegt, dass die Behörden von der Existenz eines Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) gewusst hatten, bevor sich dieser im November 2011 selbst bekannt machte. Weiterhin wäre bewiesen, dass die ermittelnden Behörden von weiteren neonazistischen Terrorgruppen wussten.
Die Aussagen von Florian Heilig, die mit seinem Tod auftauchten, sind also für Ermittlungsbehörden, für Generalbundesanwaltschaft und für die Anklagevertretung im NSU-Prozess kein wichtiger Hinweis, sondern eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für das vorgetäuschte Behördenversagen über dreizehn Jahre hinweg. Das Gegenteil wäre einmal mehr evident: Man hatte Hinweise und Spuren, die zum NSU und zu weiteren neonazistischen Tätern geführt hätten, wissentlich unterschlagen. Eine (ganz zurückhaltend formulierte) Strategie des Gewährenlassens, die bis zum heutigen Tag gedeckt wird – auch dank des Todes eines Zeugen, der sich nun nicht mehr gegen die behauptete Vagheit seiner Einlassungen wehren kann.
Mithilfe von Freunden und mit Unterstützung der Eltern löste sich Florian Heilig aus der Neonaziszene. Er kehrte zurück ins Elternhaus und setzt die Lehre als Stahlbetonbauer fort. Den Unwillen vonseiten deutscher Behörden, mit den gemachten Aussagen tatsächlich auch etwas anzufangen, spürte Florian Heilig sehr schnell. Mehrmals formulierte er gegenüber seinen Eltern, dass er sich alleine gelassen, dass er sich benutzt fühle.
In den Tagen vor seinem Tod versuchten Polizeibeamte auffällig oft, mit Florian Heilig in Kontakt zu kommen. Sie warteten zu diesem Zweck bei den Eltern, bis Florian von der Arbeit kam. Nachdem er sich verspätete, wurde ein Termin für Montag, den 16. September um 17 Uhr ausgemacht.
Der Sonntag davor, der 15. September 2013 war der letzte Tag, den Florian bei seinen Eltern verbrachte. Der Tag verlief wie jeder andere Tag auch. Man sprach Termine für die nächste Woche ab, man vereinbarte Arbeiten am Haus, an denen sich Florian beteiligen wollte. Das Glück, dass sich Florian aus der Neonaziszene gelöst, neue Freunde gefunden hatte und wieder bei der Familie wohnte, war auf beiden Seiten. Dennoch stand dieser Sonntag im Schatten der bevorstehenden Zeugenvernehmung. Florian Heilig machte noch einmal seine Angst deutlich: »Wenn ich jetzt sage, was ich weiß, bin ich tot.« Angesichts dieser massiven Angst überlegte man noch einmal, ob er einfach die Aussage verweigern sollte, ob man der Zusage, ihn ins Zeugenschutzprogramm zu nehmen, Glauben schenken könne. Nachdem man verschiedene Möglichkeiten durchgespielt hatte, entschied sich Florian Heilig doch, sein Wissen in dem anstehenden Gespräch zu offenbaren.
Gegen 17 Uhr bekam Florian Heilig einen Anruf auf seinem Handy. Danach stellten die Eltern einen massiven Stimmungswandel fest. Auf die besorgte Nachfrage, was denn los sei, antwortete Florian: »Ich komme aus dieser Scheiße nie wieder raus.« Ohne weitere Erklärungen packte Florian Heilig seine Sachen zusammen. Er sollte um 22 Uhr im Lehrlingswohnheim sein. Er war bereits losgefahren, als er noch einmal umkehrte. Er hatte ein Geodreieck und seine Arbeitsstiefel vergessen.
Sieht so ein Tagesablauf eines Selbstmörders aus? Packt ein Lebensmüder Geodreieck und Sicherheitsstiefel ein, um sich dann qualvoll selbst zu verbrennen?
Tatsächlich kam Florian Heilig gegen 22 Uhr in Geraldstetten an. Dort ließ er mitgenommene Arbeitskollegen aussteigen und fuhr dann weiter. Anhand verschiedener Fakten ist belegbar, dass er in Richtung Stuttgart weiterfuhr. Was er zwischen 22 Uhr und 9 Uhr morgens machte, wen er treffen sollte/wollte, ob dafür das im Elternhaus entgegengenommene Telefonat entscheidende Hinweise geben könnte, wäre leicht zu ermitteln, wenn dies nicht mit Vorsatz unterlassen worden wäre: Der Anrufer um 17 Uhr ist zurückverfolgbar. Außerdem liefert das Handy von Florian Heilig ein sehr präzises Bewegungsprofil von 17 Uhr abends bis morgens um 9 Uhr. Ebenfalls kinderleicht ließen sich weitere Telefonate vor und in dieser Nacht zurückverfolgen …
Die Staatsanwaltschaft feilte noch am absolut sicheren Selbstmord
Nach all dem, was Polizei und Staatsanwaltschaft öffentlich erklärten, gibt es keine Zweifel an dem von ihnen festgestellten Selbstmord. Dann dürften die Ermittlungsverfahren längst abgeschlossen sein, Fragen zum abgeschlossenen Verfahren möglich sein. In dieser Überzeugung bat ich die Leitende Staatsanwaltschaft um die Beantwortung folgender Fragen:
»Die Familie Heilig schließt Selbstmordabsichten ihres Sohnes oder ein Motiv, das zu Selbstmord führen könnte, aus. Wie kommt die Polizei zu einem Motiv, das niemand aus der Familie und dem Freundeskreis kannte? Was haben Ihre Ermittlungen diesbezüglich ergeben?
Wie in jeden anderen Fall auch wurde im Fall Florian Heilig in alle Richtungen ermittelt. Auf welche Weise wurde ermittelt, ob Fremdverschulden vorliegen könnte?
Die Tatsache, dass Florian Heilig dabei war, Aussagen gegen Neonazis zu machen, sich im BIG Rex-Programm befand, machte ihm auch Feinde bei seinen ehemaligen Freunden und in der Naziszene, die ihn als Verräter bezeichneten. Sind Ihre Ermittlungen diesen Bedrohungen nachgegangen?
Im Auto von Florian Heilig befanden sich sein Handy und sein Laptop. Wurden diese ausgewertet, um (mittels eines Funkzellenprotokolls bzw. der Verbindungsdaten) rekonstruieren zu können, was sich in den letzten Stunden vor seinem Tod zugetragen hat?
Die Überreste, die die Polizei sichergestellt hat, wurden der Familie Heilig zurückgegeben. Können Sie bestätigen, dass bei den zurückgegebenen persönlichen Gegenständen kein Autoschlüssel bzw. Schlüsselbund dabei war?«
Die Antwort war überraschend:
»Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Daher haben wir auch noch keine Ergebnisse, die wir Ihnen mitteilen könnten. Ich möchte Sie bitten, sich zu einem späteren Zeitpunkt – so gegen Anfang Februar 2014 – wieder bei mir zu melden.« (Claudia Krauth, Erste Staatsanwältin, Staatsanwaltschaft Stuttgart, vom 13.12.2013)
Wenn die Staatsanwaltschaft also noch ermittelte, warum wird dann unentwegt von Selbstmord geredet?
Der Gall-Bericht, der sich u.a. den Todesumstände von Florian Heilig widmete, wurde im Februar 2014 vorgestellt:
»Nach den Ermittlungen der EG Umfeld und den Ermittlungen des für das Todesermittlungsverfahren zuständigen Polizeipräsidiums Stuttgart bestehen keine Zweifel, dass es sich um einen Suizid des jungen Mannes gehandelt hat, es konnten keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden gewonnen werden.«
Dabei handelt es sich um ein vorsätzliche Falschaussage, denn die Ermittlungen wurden laut Staatsanwaltschaft Stuttgart erst zwei Monate später, im April desselben Jahres für abgeschlossen erklärt.
Unterlassene Ermittlungen
Um Fremdverschulden auszuschließen, reicht es nicht, sich auf einen Suizid festzulegen. Fakt ist, dass nicht einmal im Ansatz der Möglichkeit eines Racheakts durch Neonazis nachgegangen wurde, obwohl allen Behörden das Gefährdungspotenzial für ›Aussteiger‹ bekannt ist.
Nicht ein einziger Satz findet sich dazu in den Ermittlungsakten. Aufschluss für Motiv und Grund, noch in der Nacht auf den 16. September 2013 nach Bad Cannstatt zu fahren, könnte die Auswertung von Handydaten und eine entsprechende Funkzellenabfrage ergeben, auch mit Blick auf ermittlungsrelevante Fragen: Von wem kam der Anruf gegen 17 Uhr am 15. September, ein Anruf, der Florian Heilig völlig veränderte?
Mit wem hatte Florian Heilig bis zum Morgen des 16. Septembers Kontakt? Fuhr er in der Nacht auf den 16. September alleine nach Stuttgart? Was ist mit den 35 WhatsApps, die Florian Heilig zwischen 22.00 Uhr und 4:38 Uhr des Todestages abgesetzt hatte? (Mit WhatsApps kann man sowohl Kurznachrichten verschicken, als auch Standortdaten teilen)
Warum haben die Ermittler nicht die Facebook-Seite von Florian Heilig gesichert und gesichtet? Dann wären sie auf Löschungen gestoßen, die kurz nach seinem Tod vorgenommen worden sind. Es wäre technisch ein Leichtes, die zugangsberechtigte Person zu ermitteln! Woll(t)en die Ermittler die Person decken, die Zugang zu diesem Account hatte und diese Löschungen vorgenommen hatte?
All diese Auswertungsmöglichkeiten standen den Ermittlern zur Verfügung. Wenn man damit eine ›private Tragödie‹ belegen könnte, hätten sie dies in ihren Ermittlungsakten dokumentiert. Warum findet man dazu nichts?
Was zum Standardprogramm kriminaltechnischer Untersuchungen gehört, wurde hier mit Vorsatz unterlassen! Dieser Art von Ermittlungsarbeit gab der Thüringer Abschlussbericht den Namen: Freiwillige Erkennntisisolation.
Solange diese unterbleibt, ist ein Mord nicht auszuschließen, sondern eine weitaus begründetere Annahme.
1.3.2015
Wolf Wetzel
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2013, 2. Auflage
https://wolfwetzel.wordpress.com/2015/03/01/florian-heilig-der-tod-eines-zeugen-mord-oder-ein-suizid-aus-liebenskummer/#more-5572
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen