Montag, 24. Juni 2019

LINKE-Vize Martina Renner über den Fall Lübcke, den NSU und rechten Terror in Deutschland

»Es gibt eine Tradition, rechten Terror zu verharmlosen«

Nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke gab es am Mittwoch weitere Drohungen gegen Amtsträger. Frau Renner, auf wie vielen Todeslisten von Neonazis stehen Sie?
Das weiß ich leider nicht so genau, weil das Bundeskriminalamt Betroffene bislang nicht ausreichend informiert.
Die Hinweise verdichten sich, dass Lübcke von einem bekannten Neonazi geradezu hingerichtet wurde. Hat hier jemand im Glauben gehandelt, dass der vielfach heraufbeschworene »Tag X« nun eingetreten ist?
Über die individuelle Motivation des Täters zu spekulieren, finde ich wenig erkenntnisreich. Wir sollten lieber darüber sprechen, wie wirkmächtig rechte Ideologie ist. Und da stellt man schnell fest: Mordende Neonazis, Abgeordnete der AfD und konservative Kolumnisten eint die Hetze gegen unerwünschte Gruppen.
Wie meinen Sie das?
Wer etwa gegen sogenannte Gutmenschen, politische Korrektheit oder Geflüchtete hetzt, trägt zur ideologischen Rechtfertigung solcher Morde bei. Wenn wir die Morde bekämpfen wollen, müssen wir auch die rechten Ideologen bekämpfen.
Martina Renner ist stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei und Mitglied des Bundestages. Die Abgeordnete sitzt im Innenausschuss und ist Sprecherin der Linksfraktion für antifaschistische Politik. Seit Jahren beschäftigt sich Renner mit der extrem rechten Szene und Rechtsterrorismus in Deutschland.
Martina Renner ist stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei und Mitglied des Bundestages. Die Abgeordnete sitzt im Innenausschuss und ist Sprecherin der Linksfraktion für antifaschistische Politik. Seit Jahren beschäftigt sich Renner mit der extrem rechten Szene und Rechtsterrorismus in Deutschland.
Auffällig ist, dass der Tatverdächtige bereits in den 1990er als Neonazi aktiv war. Erleben wir momentan eine Reaktivierung alter Nazikader?
Ja, tatsächlich. Neben dieser Reaktivierung haben wir es aber auch mit Leuten zu tun, die nie über einen klar rechten Lebenslauf verfügten und trotzdem entsprechend aktiv wurden – oder gerade werden. Der Grund dafür ist ein gesellschaftlicher Rechtsruck und eine gefährliche Akzeptanz rechter Positionen. In Kombination führt beides dazu, dass sich Rassisten zur Tat berufen fühlen. Wenn wir ständig Leute in Talkshows sitzen haben, die sich rassistisch gegen Flüchtlinge äußern, brauchen wir uns nicht wundern, wenn andere Leute zu Waffen greifen, um Flüchtlingsunterstützer zu ermorden.
Etwa 200 Menschen wurden seit der Wende von rechten Gewalttätern umgebracht, mindestens 467 verurteilte extreme Rechte sind derzeit untergetaucht. Bedeutet für Sie der Mord an Lübcke eine neue Qualität von rechtem Terror in Deutschland?
Nein. Die Wahrheit ist: Es gibt eine Tradition in Deutschland, rechten Terror zu verharmlosen und zu unterschätzen. Dieser Terror war schon immer auch tödlich.
Braucht es bei dem Thema ein Umdenken?
Absolut. Was fehlt, ist ein Verständnis von rechtem Terror als gesellschaftliche Bedrohung. In der Geschichte der Bundesrepublik spielt der Terror der RAF eine wesentliche Rolle zur Negatividentifikation. Dies hat sich bis heute ins öffentliche Gedächtnis eingeprägt. Rechter Terror hingegen hatte diese Funktion nie. Das bedeutet auch etwas für die Opfer des rechten Terrors: Ihre Bedrohung wird nicht mit einer breiten gesellschaftlichen Solidarität beantwortet.
Teile der Bevölkerung schienen auch gegenüber den NSU-Opfern nur begrenzt Empathie zu empfinden. Haben aus Ihrer Sicht Behörden und Bundesregierung aus dem Komplex und den eigenen Verstrickungen gelernt?
Ich denke nicht, dass aus dem NSU-Komplex die richtigen Schlüsse gezogen wurden. Noch immer wird rechter Terror und der ihm zugrundeliegende Rassismus und der Hass gegen Linke nicht als gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen. Noch immer wird das Problem des Rechtsterrorismus meist als eines von Einzeltätern verhandelt. Und noch immer verfügt der Inlandsgeheimdienst über eine problematische Deutungshoheit des Feldes.
Der Name des verdächtigen Stephan E. tauchte mehrmals im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss auf. Ob der Generalbundesanwalt Zugang zu allen Akten bekommt, ist noch unklar. Was bedeuten diese Verbindungen?
Stephan E. war nicht grundlos Gegenstand im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Dort ging es wie in den anderen Ausschüssen unter anderem um die Frage, ob der NSU an den Mordstätten vor Ort Helfer oder sogar Mittäter hatte. In diesem Zusammenhang ist die militante Neonazi-Szene in Kassel mit ihren Kontakten zu Blood&Honour und Combat18 sowie ihre Verbindungen nach Thüringen in den Blick geraten. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung müssen die Akten des Hessischen NSU-Ausschusses, die bislang für 120 Jahre gesperrt werden sollen, unbedingt freigegeben werden.
Wie kann verhindert werden, dass die Behörden sich wie schon beim NSU auf eine Einzeltäter-These versteifen?
Wir müssen politischen Druck auf die Ermittlungsbehörden ausüben und auf Erkenntnisse aus antifaschistischer Recherche hinweisen. Die Erfahrung zeigt, dass die Antifa meist gründlicher über rechte Strukturen informiert ist, vor allem aber einen angemesseneren Begriff des Gegenstands hat.
Antifaschisten weisen schon länger auf die Gefahr hin, die von den militanten »Combat18«-Strukturen ausgeht. Die Behörden schienen dem Netzwerk in der Vergangenheit und - auch jetzt nach dem Mord an Lübcke und den Verbindungen des Verdächtigen in die Szene - keine große Aufmerksamkeit zu widmen.
Leider habe ich keinen Einblick in die aktuellen Pläne der Sicherheitsbehörden. Als politische Beobachterin habe ich jedoch den Eindruck, dass die Behörden die strukturelle Bedeutung von C18 jahrelang unterschätzt haben.
Erst kürzlich wurden in Mecklenburg-Vorpommern SEK-Beamte festgenommen, weil sie Waffen gehortet haben sollen. Das »NSU 2.0«-Netzwerk innerhalb der hessischen Polizei ist noch nicht restlos aufgeklärt, auch nicht die Verstrickungen des Verfassungsschutz zum NSU-Komplex. Wie kann staatlichen Stellen überhaupt noch vertraut werden bei der Aufklärung rechten Terrors?
Diese Vorfälle haben viel Vertrauen gekostet. Und auch vor den Vorfällen gab es guten Grund zur Skepsis gegenüber diesen Behörden und ihrer Fähigkeit zu Aufklärung. Deshalb braucht es auch parlamentarische Begleitung dieser Aufklärung und investigativen Journalismus. Ich halte außerdem externe wissenschaftliche Einstellungsforschung bei Polizei und Bundeswehr für dringend geboten. Denn derzeit wissen wir kaum etwas darüber, wie groß das Problem ist, weil es entsprechende Untersuchungen seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat.
LINKE, Grüne und FDP haben im Fall Lübcke eine Sondersitzung des Innenausschuss des Bundestag beantragt. Was ist darüber hinaus nun notwendig?
Wir dürfen die Diskussion jetzt nicht auf Ermittlungsfragen verengen. Darüber hinaus gibt es wichtige politische Fragen. Müssen wir wirklich mit den Rechten reden? Sind nicht Morde wie der an Lübcke auch Ergebnis eines falschen Zugehens auf die geistigen Brandstifter? Und nicht zuletzt: Ist Humanismus für uns verhandelbar?
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