Donnerstag, 20. Juni 2019

Kein Beben, aber rechte Schlagseite

Die EU-Wahlen sind nicht so gut für die Rechtsparteien gelaufen, wie diese gehofft hatten. Das gilt aber nur, wenn man einige Aspekte außer Acht lässt.



  • Von Jürgen Klute
  •  
  •  
  • Lesedauer: 10 Min.
    • Zunächst die gute Nachricht: Die Europawahlen sind nicht so positiv für die rechten Parteien gelaufen, wie sie gehofft hatten. Das gilt allerdings nur, wenn man die Prognosen mit dem tatsächlichen Endergebnis der Wahlen vergleicht. So veröffentlichte der Wiener »Standard« am 18. April eine Prognose des Europäischen Parlaments (EP), die die eigentlich aufgrund des Brexits nicht mehr vorgesehene Teilnahme Großbritanniens einkalkuliert hat. Im Vergleich zu dieser Prognose ist das Endergebnis der Wahlen moderat ausgefallen.
      Der Prognose nach wären die drei extrem rechten Parteien (EKR, EFDD, ENF) auf 173 Sitze gekommen. Tatsächlich haben sie zusammen 176 Sitze erhalten. Man kann diesen Zuwachs von drei Stimmen gegenüber der Prognose auch so interpretieren, dass die rechten Parteien deutlich hinter ihren eigenen Erwartungen zurückgeblieben sind. Dass die EKR hinter der Prognose zurückgeblieben ist, ist der chaotischen Politik der britischen Torries geschuldet, die 14 Sitze verloren haben. Die Zuwächse der polnischen PiS-Partei haben die Verluste der Torries nicht kompensieren können.
    • Das Plus der EFDD von 9 Sitzen gegenüber der Prognose geht im wesentlichen auf das Konto der Brexit-Party von Nigel Farage (29 Sitze). Allerdings haben einige kleinere Mitgliedsparteien der EFDD den Wiedereinzug ins EP nicht geschafft.

      Jürgen Klute ist Theologe und 
Europapolitiker. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des EU-Parlaments (Delegation DIE LINKE). Jürgen 
Klute betreibt die Internetseite 
europa.blog. Er publiziert
insbesondere zu Themen wie linke Kräfte in Europa und zur 
Rechtsentwicklung in der EU. Der Text ist 
ungekürzt auf der Plattform 
die-zukunft.eu erschienen.
      Jürgen Klute ist Theologe und 
Europapolitiker. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des EU-Parlaments (Delegation DIE LINKE). Jürgen 
Klute betreibt die Internetseite 
europa.blog. Er publiziert
insbesondere zu Themen wie linke Kräfte in Europa und zur 
Rechtsentwicklung in der EU. Der Text ist 
ungekürzt auf der Plattform 
die-zukunft.eu erschienen.
      Die ENF hat gegenüber der Prognose 4 Sitze weniger erzielt. Diese Differenz erklärt sich im wesentlichen daraus, dass die niederländische Freiheitspartei von Geert Wilders (PVV) den erneuten Einzug ins EP verpasste (die PVV hatte 4 Sitze).
      Auch die beiden großen Parteien EVP (CDU) und S&D (Sozialdemokraten) liegen dicht an den Prognosen. Lediglich die Liberalen (ALDE; firmiert im neuen EP unter Renew Europe) und die Grünen/EFA liegen gegenüber den Prognosen deutlich besser. Die GUE/NGL (u.a. DIE LINKE) bleibt hingegen deutlich hinter der prognostizierten Sitzzahl zurück und ist damit künftig kleinste Fraktion.
      Vergleicht man hingegen die Sitzverteilung der zu Ende gehenden achten Legislaturperiode (2014-2019) mit der neuen, dann ergibt sich ein deutlich dramatischeres Bild, dass nicht den geringsten Anlass zu einer Entwarnung gibt. Bei diesem Vergleich wird deutlich, dass die beiden großen Parteien EVP und S&D empfindliche Verluste zu verbuchen haben. Ebenso die Linke (GUE/NGL).
      Zwar hat die EKR 13 Sitze verloren (was vor allem auf das Konto der Tories geht), insgesamt aber verzeichnet der Block der drei rechten Fraktionen trotz dieser Verluste ein Plus von 21 Sitzen: Statt 155 Sitze haben die drei rechten Fraktionen nun 176 und liegen damit nur drei Sitze hinter der EVP und 23 vor der S&D. Rechnerisch sind die rechten Fraktionen der zweitgrößte Block im Europäischen Parlament. Hätte die Fidesz-Partei sich von der EVP verabschiedet und sich einer der rechten Fraktionen angeschlossen, dann wäre der rechte Block sogar größer als die EVP.

      Liberale und Grüne profitierten mehr als die Rechten

      Andererseits haben auch die Fraktionen ALDE/Renew Europe und Grüne/EFA von den Verlusten der beiden großen Parteien profitiert - mehr als die Fraktionen der extremen Rechten. Ein Teil der Grünen/EFA zeigt zwar in einigen Politikfeldern Schnittmengen mit dem linken Flügel des EP, die ALDE/Renew Europe dagegen bestenfalls in Menschenrechtsfragen, aber sicher nicht in zentralen sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen. Der Zuwachs bei ALDE/Renew Europe und Grünen hat zwar den Rechtsruck des EP abgemildert, ihn jedoch nicht verhindert. Bezieht man die deutlichen Verluste von mehr als einem Viertel der Sitze der GUE/NGL in die Betrachtung mit ein, dann haben die Wahlen vom 26. Mai 2019 eben doch zu einem erschreckenden Rechtsruck im EP geführt.
      Dieser Rechtsruck erfolgte trotz Brexit, trotz aller zivilgesellschaftlichen Aktivitäten für die EU (Puls of Europe, unzählige Bürgerforen und Bürgerdialoge zur EU, etc.) und trotz einer gestiegenen Wahlbeteiligung, die in der Regel eher zulasten kleinerer bzw. extremer Parteien geht.
      Was den Rechten im EP allerdings bisher nicht gelang, ist der Zusammenschluss aller drei rechten Fraktionen zu einer gemeinsamen unter der Bezeichnung Europäische Allianz der Völker und Nationen (EAVN). Dafür haben vor allem der italienische Innenminister Matteo Salvini (Lega) und der AfD-MEP Jörg Meuthen geworben. Zwar haben neun im neugewählten EP vertretene Parteien aus neun EU-Mitgliedsländern mit insgesamt 73 MEP schon vor der Wahl ihre Bereitschaft bekundet, sich der EAVN anzuschließen - der Fraktionsstatus wäre damit gesichert. Doch wie »DIE ZEIT« am 4. Juni 2019 berichtete, will Orbán mit seiner Fidesz-Partei trotz der Suspendierung doch bei der EVP bleiben. Zwei Tage später, am 6. Juni 2019, berichtete der Deutschlandfunk auf seiner Webseite, dass sich auch die Brexit-Party von Nigel Farage nicht der EAVN anschließen wird. Damit ist das ursprüngliche Projekt einer gemeinsamen starken extrem rechten Fraktion im EP vorerst gescheitert.
      Das Projekt EAVN ist mittlerweile dennoch umgesetzt worden, allerdings unter einem anderen Namen: »Identität und Demokratie« (ID). Das gab die neue rechte Fraktion am 12. Juni bekannt. Diese Neugründung hat erhebliche Auswirkungen auf die bestehenden rechten Fraktionen. Das heißt, die ID dürfte wohl kaum die vierte rechte Fraktion im EP bilden. Schon jetzt erfüllt die EFDD nicht mehr die nötigen Kriterien für den Fortbestand als Fraktion. Dazu sind mindestens 25 MdEP aus einem Viertel der EU-Mitgliedsländer erforderlich. Die Zahl der verbleibenden 43 MEP ist zwar ausreichend, aber nach dem Wechsel der 11 AfD-MdEP zur ID kommt die EFDD nur noch auf zwei Mitgliedsländern (GB, IT), aus denen die MdEP kommen.
      Da Nigel Farage einer gemeinsamen rechten Fraktion eine Absage erteilt hat, werden die MdEP der Brexit-Party - wie auch die vom M5S - bis zum Brexit (aktuell vorgesehen: 31. Oktober 2019) wohl als fraktionslose im EP sitzen. Im Sinne der »Programmatik« der Brexit-Party wäre das auch konsequent.
      Die ENF kommt durch die Gründung der ID direkt unter Existenzdruck. Derzeit zählt sie 58 Sitze. Da aber der Rassemblement National von Marine Le Pen und Matteo Salvinis Lega sich der ID angeschlossen haben, verliert die ENF-Fraktion auf einen Schlag 50 der 58 Sitze und damit ihren Status als Faktion. Das neue EP hat also vorerst zwei rechte Fraktionen: die ID und die EKR.

      Der Brexit könnte die Verhältnisse ändern

      Käme es am 31. Oktober 2019 tatsächlich zum Brexit, dann würde sich der Block der rechten und konservativen MEP um 33 auf insgesamt 140 Sitze reduzieren (Brexit-Party und Tories). Die S&D verlöre 10 Sitze, wäre dann mit 143 Sitzen aber wieder größer als der EVP-Block. Allerdings würden auch die ALDE/Renew Europe 16 Sitze, die Grünen/EFA 11 Sitze und die GUE/NGL noch einen weiteren Sitz verlieren. Zwei weitere britische MEP sind den Fraktionslosen bzw. Sonstigen zuzurechnen. Ein Teil der 73 britischen Sitze wird durch andere Mitgliedsländer aufgefüllt. Dennoch: Zu einer Korrektur des Rechtsrucks des EP käme es durch den Vollzug des Brexits nicht.
      Verständlicherweise steht bei der Wahl des Europäischen Parlaments dieses Parlament auch im Vordergrund der Diskussionen. Trotzdem sollte nicht aus dem Blick geraten, dass auch die EU-Kommission neu zusammengesetzt wird. Da mittlerweile in einigen EU-Mitgliedsländern rechte Parteien Regierungen stellen bzw. an Regierungen beteiligt sind, wird auch die Kommission einen gewissen Rechtsruck verzeichnen, denn die Regierungen der Mitgliedsländer nominieren die Kandidat*innen für die Kommission - sie können aber vom EP zurückgewiesen werden. Zugleich spiegelt auch der EU-Rat, in dem die Regierungen der EU-Mitgliedsländer vertreten sind, den politischen Rechtsruck in den Mitgliedsländern wider.


      Auch wenn die Europawahlen keine erdrutschartige Verschiebung nach rechts mit sich gebracht haben, darf man ihre Wirkung nicht unterschätzen. Denn sie ist kein Ausrutscher, der ausschließlich das Parlament betrifft. Die Hoffnung auf eine kurzfristige Umkehr des Rechtsrucks dürfte daher illusorisch sein. Dazu wären weitreichende Reformen der EU nötig, die in jedem Fall eine gemeinsame Steuerpolitik und eine starke sozialpolitische Säule umfassen müssten.
    • Schwer zu bildende Allianzen

      Ohne einen starken linken Flügel im EP ist aber vor allem die nötige sozialpolitische Weiterentwicklung der EU blockiert. Denn S&D, Grüne und GUE/NGL kommen im neuen Parlament auf nur 265 der 751 Stimmen. Die einfache Mehrheit von 376 Stimmen wird also deutlich unterschritten. Selbst zusammen mit der ALDE/Renew Europe reicht es nur für 371 Stimmen. Doch für tiefgreifende soziale Reformen wird man seitens der ALDE/Renew Europe kaum auf große Unterstützung rechnen können. Folglich müssten für Mehrheiten auch Stimmen aus der EVP gewonnen werden. Da es im EP keinen Fraktionszwang gibt, ist das grundsätzlich einfacher als in deutschen Parlamenten. Allerdings gehört nach wie vor die Fidesz-Partei von Orbán der EVP an. Und auch die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat schon verlauten lassen, dass sie von einer stärkeren gemeinsamen EU-Sozialpolitik nichts hält.
      Ähnlich kompliziert wird es mit der Klimapolitik werden, der die Grünen ihren Erfolg bei den Europawahlen im wesentlichen zu verdanken haben. Gerade junge Wähler*innen hoffen darauf, dass ihnen nicht durch politisches Versagen beim Klimaschutz die Zukunft verbaut wird. Doch für eine schnelle und wirksame Klimaschutzpolitik fehlt derzeit noch - trotz des rasanten Stimmenzuwachses der Grünen - eine Mehrheit auf EU-Ebene. Bei der EU-Gesetzgebung müssen eben auch Kommission und Rat mitspielen - Parlament und Rat sind gleichberechtigte Co-Gesetzgeber, und die Kommission muss die nötigen Gesetzesvorlagen vorbereiten.
      Doch das sind bei weitem noch nicht alle Probleme, mit denen die EU derzeit konfrontiert ist. Es fehlt weiterhin an einer gemeinsamen EU-Asyl- und Migrationspolitik. Angesichts des Klimawandels wird eine menschenrechtskonforme Asyl- und Migrationspolitik immer drängender. Doch die wird nicht nur von mittel-osteuropäischen Regierungen verhindert. Die Bundesregierung und die neue dänische Regierung gehören der Blockadefront ebenso an. Und demnächst möglicherweise auch eine neue belgische Regierung, da der flämische Teil Belgiens bei den Föderal-Wahlen, die ebenfalls am 26. Mai stattfanden, deutlich nach rechts gerückt ist.
      Weitere ungelöste Probleme sind der Brexit, aber auch der innere Zustand der EU insgesamt nach 10 Jahren von deutschen Interessen dominierter EU-Krisenpolitik und Berliner Blockadepolitik im Blick auf nötige EU-Reformen sowie die zunehmende Unterminierung des Rechtsstaates durch rechte Regierungen in einigen EU-Mitgliedsländern.
      Auf internationaler Ebene ist die EU mit dem Handelskrieg des US-Präsidenten Donald Trump konfrontiert so wie mit dessen brandgefährlicher Mittelost-Politik. Weitere Konfliktfelder stellen die Beziehungen zu China und Russland dar.
      Schließlich ist da neben der Klimapolitik noch ein weiteres alle politischen Bereiche übergreifendes Thema: die Digitalisierung. Sie verändert nicht nur die Wirtschaft, sondern die Gesellschaften insgesamt, ihre Art der Kommunikation, die Politik, die Kultur, und sie ist treibende Kraft der Globalisierung.
      Wie das neugewählte und deutlich nach rechts gerückte Europäische Parlament, in dem der Nationalismus ja nicht nur in den extrem rechten Parteien verankert ist, mit einem ebenfalls nach rechts gerückten Co-Gesetzgeber, dem Rat, und einer Kommission, in der sich ebenfalls von rechten Regierungen nominierte Mitglieder wiederfinden werden, diesen Herausforderungen begegnen will, ist eine offene Frage. Sollte sich die Europäische Union angesichts der neuen rechtslastigeren Machtkonstellationen nach der Europawahl vom Mai 2019 im Blick auf die Klimapolitik und im Blick auf eine Reform der EU als handlungsunfähig erweisen und die Berliner Blockadepolitik nicht brechen können, dann verliert die EU weiter an Legitimation und wird den Rechtsruck nicht stoppen können.
      Dann droht mittelfristig ein Zerfall unserer Gesellschaften infolge politischer Handlungsunfähigkeit im Zusammenspiel mit dem Klimawandel. Die entscheidende Lehre aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist jedenfalls, dass rechte Parteien und Regierungen nicht in der Lage sind, politische Probleme zu lösen. Das einzige, wozu sie fähig sind, ist, Gesellschaften in Abgründe zu stürzen. Darüber kann und darf auch nicht der beachtliche Stimmenzuwachs für die Grünen/EFA und die ALDE/Renew Europe hinwegtäuschen.

    • Schlagwörter zu diesem Artikel:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen