Donnerstag, 20. Juni 2019

Der Tatverdächtige für den Mord an dem CDU-Politiker Lübcke ist seit den 1990er Jahren gewalttätiger Neonazi

Überzeugt, vernetzt und bekannt

Im Nordosten von Kassel, direkt an der Fulda gelegen, erstreckt sich das Gelände des Schützenclubs 1952 Sandershausen. Der Vorstand ist auf der Webseite des Vereins einsehbar, bis zum Montag fand sich hier auch das Porträt von Stephan E. Der 45-Jährige, schwarzes Basecap, missmutiger Blick, wurde als Referent für den Bereich Bogenschießen angegeben. Am Dienstag war das Porträt ohne Kommentar von der Seite verschwunden.
Der wahrscheinliche Grund: E. gilt als dringend Tatverdächtiger für die regelrechte Hinrichtung des CDU-Politikers Walter Lübcke. Der Präsident des Regierungspräsidiums Kassel wurde Anfang Juni mit einem Kopfschuss auf seiner Terrasse ermordet. E. sitzt seit Samstag in Untersuchungshaft, die Bundesanwaltschaft ermittelt. Die Polizei fand seine DNA am Tatort.
Die Ermittler erklärten am Dienstag, dass ein extrem rechter Hintergrund aufgrund der Biografie von E. naheliegt, man aber noch »in alle Richtungen« ermittele. Das Tatmotiv sei weiterhin unklar. Antifaschistische Recherchegruppen sind derweil überzeugt, dass der Verdächtige aus ideologischer Überzeugung den bekennenden Flüchtlingsunterstützer Lübcke umgebracht hat. Tatsächlich ist E. seit Langem als vernetzter, gewalttätiger und vorbestrafter Neonazi bekannt.
Die extrem rechte »Karriere« des Beschuldigten begann offenbar bereits Anfang der 1990er. Durch die damalige rassistische Stimmung in der Gesellschaft, die Pogrome und Asylrechtsverschärfungen, fühlte sich auch E. zum Handeln ermutigt. Laut Medienrecherchen soll er 1993 im Alter von 20 Jahren eine Geflüchtetenunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth angegriffen haben. Die Rohrbombe konnte grade noch rechtzeitig von einigen Bewohnern entschärft werden. E. wurde für den Anschlagsversuch zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt.
In den 2000er Jahren hat E. nach Recherchen der antifaschistischen Gruppe »Exif« Kontakte zu den Kasseler Neonazis Michel F. und Stanley R. gepflegt. Beide sollen zu Zellen des rechtsterroristischen »Combat 18«-Netzwerks gehört haben. »Combat 18«, ein Code für »Kampfgruppe Adolf Hitler«, propagiert »führerlosen Widerstand« gegen politische Feinde. Heute gibt es selbst ernannte »Divisionen« in rund 25 Staaten. Die Gruppe sieht sich als bewaffneten Arm der in Deutschland verbotenen »Blood and Honour«-Organisation.
Der Verfassungsschutz spielt die Bedeutung der Gruppe seit Jahren herunter - »Combat 18«-Mitglieder haben dabei in der Vergangenheit immer wieder schwere Verbrechen und Anschläge begangen. Der Kasseler Michel F. war 2015 aufgeflogen, als er sich Pistolen beschaffen wollte. »Combat 18« unterhielt auch enge Verbindungen zum NSU. Eine zentrale Figur der Vereinigung, Robin S., stand mit der inhaftierten Beate Zschäpe in Briefkontakt. »Es deutet derzeit einiges darauf hin, dass E. zum Netzwerk ›Combat 18‹ mindestens Kontakte unterhielt«, so die Gruppe »Exif«. Möglicherweise sei er auch tiefer eingebunden gewesen. Die Bundesanwaltschaft kann dagegen bisher keine Anhaltspunkte erkennen, dass der Tatverdächtige einer terroristischen Vereinigung angehörte.
Laut dem Recherchekollektiv gab es auch Verbindungen zur NPD. Demnach hat E. 2002 an einer Wahlkampftour der Nazipartei teilgenommen und Gegendemonstranten bedroht. Ein Video zeigt ihn weiterhin im Februar 2007 in Kassel, wie er gemeinsam mit dem damaligen Vorstand des Landesverbands Hessen der NPD-Jugendorganisation »Junge Nationale« die Teilnehmer einer DGB-Veranstaltung verprügelte. Am 1. Mai 2009 hatte der Verdächtige gemeinsam mit rund 400 »Autonomen Nationalisten«, militanten Neonazis der freien Kameradschaftsszene also, eine DGB-Demonstration in Dortmund überfallen. Er wurde dafür wegen Landfriedensbruch zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Zur AfD hatte E. möglicherweise ebenfalls Bezüge. Wie die »Autonome Antifa Freiburg« und »Zeit Online« berichteten, soll der Verdächtige Ende 2016 eine Spende von 150 Euro an die Partei überwiesen haben, offenbar speziell an den thüringischen Landesverband unter Björn Höcke gerichtet. Der Pressesprecher der Thüringer AfD, Torben Braga, bestritt gegenüber der Zeitung den Erhalt des Geldes. Ein Schnittpunkt der zahlreichen Verbindungen ist Thorsten Heise. Dieser ist Landesvorsitzender der NPD Thüringen und laut »Exif« auch »Kristallisationsfigur und Spiritus Rector« von »Combat 18« in Deutschland. Der Soziologe Andreas Kemper geht davon aus, dass Höcke 2011 und 2012 unter dem Pseudonym »Landolf Ladig« in Heises NPD-Heft »Eichsfeld-Stimme« geschrieben hat. Höcke verneint dies. »Sollten meine Recherchen stimmen, hätte Heise Höcke in der Hand«, so Kemper am Dienstag.
Neben anderen hatte auch die ehemalige CDU-Abgeordnete und heutige AfD-nahe Politikerin Erika Steinbach gegen Lübcke Stimmung gemacht. »Ich rate den Kritikern merkelscher Asylpolitik, die CDU zu verlassen und nicht ihre Heimat«, schrieb sie im Februar mit Bezug auf den Regierungspräsidenten.
Im NSU-Kontext tauchte der Name des Verdächtigen bereits vor Jahren auf. Im hessischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Terror-Verbrechen führte 2015 die Linkspartei E. in einem Beweisantrag als Beispiel für die gewaltbereite hessische Neonaziszene an. Laut dem Innenexperten der Linksfraktion, Hermann Schaus, hatte das Landesamt für Verfassungsschutz den Verdächtigen schon damals in einem Dossier als besonders gewalttätig eingestuft. Schaus hatte 2016 einen ehemaligen V-Mann des Verfassungsschutzes konkret nach E. befragt. »Ich kannte einen Stephan, ja. Den haben wir NPD-Stephan genannt«, habe dieser gesagt. Die Linksfraktion forderte am Dienstag den Verfassungsschutz auf, seine Informationen über E. und dessen Umfeld offenzulegen.
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